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Die Morgenröte des Menschen

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Die Frage, die daher berechtigt erscheint, lautet: Wann und warum rechnet man einen Hominiden zur Gattung Homo? Diese Frage ist nicht immer eindeutig zu beantworten. Die für den Menschen typischen Merkmale wie Verhalten, Sprache und Sozialleben hinterlassen kaum Spuren. Doch es gibt eine Ausnahme: die Kulturfähigkeit. Der erste Hominide, der aus Steinen Werkzeuge herstellte, ist H. habilis, der früheste Vertreter der Gattung Homo. H. habilis ist etwa zwei bis zweieinhalb Millionen Jahre alt, und auch die ersten Steinwerkzeuge stammen aus dieser Zeit. Die Bezeichnung habilis (fähig, geschickt) wurde von Raymond Dart vorgeschlagen. Die ersten Überreste wurden Ende der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts von den Leakeys in der Olduvai-Schlucht in Tansania ausgegraben. Das Gebiet um diese Schlucht ist buchstäblich mit Resten primitiver Steinwerkzeuge übersät. Die Fossilfunde von Hominiden in der gleichen Gegend sind etwa zwei Millionen Jahre alt. Sie unterscheiden sich in verschiedener Hinsicht deutlich von den Australopithecinen. Vor allem hat sich ihr Gehirn von 500 auf 750 Kubikzentimeter vergrößert.

Nah verwandt mit H. habilis ist der ebenfalls von den Leakeys entdeckte H. rudolfensis. Es ist jedoch nicht ganz gesichert, ob es sich wirklich um zwei verschiedene Arten handelt. Manchmal spricht man von dem „kleinen“ und dem „großen“ H. habilis; H. rudolfensis wird dann zu Letzterem gerechnet. Beide Formen wurden in Koobi Fora in Kenia gefunden. Möglicherweise ist H. habilis das fehlende Glied zwischen den (grazilen) Australopithecinen und den späteren Vertretern der Gattung Homo, einschließlich des modernen Menschen. Es gibt übrigens noch mehr ins Auge stechende Unterschiede zwischen H. habilis und den Australopithecinen. Zumal im Vergleich zu den robusten Exemplaren ist H. habilis sehr schlank gebaut. Der Scheitelkamm und die auffälligen Jochbeine sind ganz verschwunden, Zähne und Kiefer sind kleiner, was auf eine andere Ernährung schließen lässt (Abb. 4.6).

Auffällig bei H. habilis ist auch der geringe Unterschied zwischen den Geschlechtern. Bei den Australopithecinen war der Geschlechtsdimorphismus noch ausgeprägt: Die Männer waren viel kräftiger gebaut und wogen mindestens doppelt so viel wie die Frauen, was auf ein andersartiges Gruppenleben hindeutet. Wie manche heutigen Menschenaffen lebten die Australopithecinen in Gruppen mit einem oder mehreren dominanten Männern, die den Harem leiteten. Sexuelle Selektion, insbesondere Konkurrenz zwischen den Männern, führt dann zu größeren Geschlechtsunterschieden. Man braucht nur an das kolossale Silberrückenmännchen bei den Gorillas zu denken. H. habilis war wahrscheinlich eher monogam, sodass sexuelle Selektion eine viel geringere Rolle spielte und es nicht zu offenen Kämpfen um die Vorherrschaft zwischen den Männern kam. Doch wirkliche Gewissheit über diese Hypothese haben wir nicht, da auch H. habilis mehrere Varietäten kennt. Manche Schädel ähneln eher denen der Australopithecinen, während andere eindeutig der neuen Gattung Homo angehören. Vielleicht lebten vor zwei Millionen Jahren schon mehrere Arten der Gattung Homo in Ostafrika.


Abb. 4.6: Ein Schädel des H. habilis. Das Fossil wurde in Koobi Fora (Kenia) gefunden und ist knapp zwei Millionen Jahre alt. Im Vergleich zu den Australopithecinen hat H. habilis sichtbar menschliche Züge.

Vor ungefähr 1,8 Millionen taucht in Ostafrika wieder eine neue Menschenart auf, Homo erectus. Der Name „aufrecht gehender Mensch“ stammt aus dem 19. Jahrhundert und illustriert die Voreingenommenheit der Paläontologen der damaligen Zeit: Man war davon überzeugt, nur „echte“ Menschen seien zum aufrechten Gang fähig. Die Entdeckung von Lucy und den Fußspuren in Laetoli änderte diese Sichtweise. Schon mindestens zwei Millionen Jahre früher hatten sich die Australopithecinen den aufrechten Gang beigebracht. Die frühesten Exemplare des H. erectus wurden östlich und westlich des Turkanasees in Kenia bzw. in Koobi Fora und Nariokotome gefunden. Diesen Hominiden nennt man bisweilen auch den afrikanischen H. erectus oder H. ergaster (der Name ergaster bedeutet „Handwerker“ und verweist auf die Zunahme des Gebrauchs von Steinwerkzeugen). Das Gebiss des H. erectus deutet, wie das des H. habilis, auf eine veränderte Ernährung hin. Im Unterschied zu den pflanzenfressenden Australopithecinen ernährte sich H. erectus vor allem von Fleisch und Aas.

Im Vergleich zu H. habilis hat das Gehirnvolumen des H. erectus weiter zugenommen, es beträgt nun 800 bis 900 Kubikzentimeter. Die Art war kräftig gebaut und mit durchschnittlich 170 Zentimetern etwa so groß wie der heutige Mensch (Abb. 4.7). Auch die Steinwerkzeuge, die H. erectus herstellte, sind feiner gearbeitet als die seiner Vorgänger (Acheuléen-Kultur). Aller Wahrscheinlichkeit nach wurden auch Materialien wie Holz und Bambus verwendet, von denen sich jedoch verständlicherweise nichts erhalten hat. H. erectus bewohnte Höhlen und war, wie man aus den dort gefundenen Aschenschichten schließen kann, wahrscheinlich der erste Mensch, der das Feuer beherrschte.

H. erectus war eine sehr erfolgreiche Spezies, nicht nur in Afrika, wo er mindestens eine Million Jahre lebte, sondern auch in anderen Teilen der Erde. Er war die erste Menschenart, die Afrika verließ, ein Ereignis, das man als Out of Africa I bezeichnet (es sollte noch ein zweiter Exodus folgen). Vor etwa anderthalb bis einer Million Jahren verbreitete sich dieser Hominide über den Nahen Osten, Asien und Europa.

Schon 1891 entdeckte der niederländische Arzt und Paläontologe Eugène Dubois auf Java fossile Überreste, die man heute H. erectus zuordnet. An einer Biegung des Flusses Solo war Dubois auf eine Schädeldecke (cranium), einen Zahn und einen Schenkelknochen (femur) gestoßen. Er gab dem Fund den Namen Pithecanthropus erectus (aufgerichteter Affenmensch), später sollte er als der „Javamensch“ bekannt werden. Die weltberühmten Fossilien sind – hinter kugelfestem Glas – noch heute im Leidener Naturmuseum zu besichtigen. Der damals sensationelle Fund überzeugte Dubois und andere Forscher wie Alfred R. Wallace davon, dass der Ursprung des Menschen in Asien liegen müsse. Wie wir gesehen haben, war diese Annahme falsch, denn die Vorfahren des Javamenschen kamen wie die des in China gefundenen „Pekingmenschen“ (einer anderen Variante des H. erectus) aus Afrika.


Abb. 4.7: Schädel des H. ergaster, auch afrikanischer Homo erectus genannt. Er wurde in Koobi Fora (Kenia) gefunden und ist gut anderthalb Millionen Jahre alt.

Im Jahr 2004 berichtete ein indonesisch-australisches Forschungsteam von einem sensationellen Fund auf der indonesischen Insel Flores: Man hatte fossile Überreste einer neuen Menschenart entdeckt, des Floresmenschen oder Homo floresiensis. Es handelte sich um eine Zwergausgabe des H. erectus, Individuen von nur einem Meter Größe (aus diesem Grund auch „Hobbits“ genannt) und mit einem relativ kleinen Gehirnvolumen von etwa 380 Kubikzentimetern. Das Erstaunlichste aber war das geringe Alter der Fossilien. Das jüngste Exemplar ist „nur“ 13 000 Jahre alt. Damals lebten also noch Vertreter des H. erectus auf dem indonesischen Archipel! Das ist insofern erstaunlich, als man allgemein davon ausgeht, dass der moderne Mensch, H. sapiens, schon seit fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Jahren der einzige Vertreter der Gattung Homo ist.

Doch das war noch nicht alles. Unter den heutigen Bewohnern der Insel Flores zirkulieren alte Volkserzählungen über „kleine behaarte Waldmenschen“ (Ebu gogo), die vornübergebeugt gingen und eine seltsame, murmelnde Sprache sprachen. Könnte dies eine Beschreibung des Floresmenschen sein? Die Erzählungen sind wahrscheinlich nicht älter als einige Jahrtausende, vielleicht sogar nur ein paar Jahrhunderte, und das würde bedeuten, dass H. floresiensis in noch jüngerer Vergangenheit auf der Insel vorkam. Ja, vielleicht leben heute noch Floresmenschen in der dicht bewaldeten Bergregion der Insel! Desmond Morris fragte sich daher, wie wir uns verhalten sollen, wenn wir einem solchen „Hobbit“ begegnen: Sollen wir ihn die Schule schicken oder in den Zoo? Die sensationelle Entdeckung des H. floresiensis zeigt, dass Homo erectus in all seinen verschiedenen Varietäten ein äußerst erfolgreicher Hominide war, der nach paläontologischen Maßstäben erst vor kurzem von der Bildfläche verschwand.

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