Читать книгу Falkenrache - Chris Svartbeck - Страница 7
Nichts für Frauen
ОглавлениеFast sehnte Akiana die Tage zurück, an denen sie noch neun Brüdern hatte ausweichen müssen, wenn sie etwas lernen wollte.
Jetzt hatte einer ihrer Brüder den Palast verlassen, zwei waren tot, und die restlichen versuchten, sich so unauffällig wie möglich fern von jedem Geschehen zu halten, das sie in Kontakt mit ihrem Vater bringen konnte.
Alle, bis auf einen: Ajitaka. Der zukünftige König war auch der einzige, der von Onkel Toleke noch unterrichtet wurde. Die anderen waren auf Befehl des Königs vom weiteren Unterricht verbannt.
Ajitaka lernte jetzt Kriegszauber. Zauber, die mit Spiegeln gemacht wurden, und die Tod und Zerstörung bedeuteten.
Akiana war ratlos. Nicht nur, dass es merkwürdigerweise schwieriger war, einem einzigen Bruder auszuweichen, als zuvor neun. Diese Spiegelzauber gingen auch weit über das hinaus, was sie konnte. Und dabei würde es auch bleiben, wie sie ziemlich schnell begriff, wenn sie sich nicht irgendwie einen Spiegel verschaffen konnte. Nur dass sie leider nicht einfach zu Onkel Toleke hin spazieren und um einen Spiegel bitten konnte, wie ihre Brüder es getan hatten.
Sie versuchte es trotzdem. Aber bereits der erste Lähmzauber, den sie an einer Katze ausprobierte, ließ sie so schlapp und ausgelaugt zurück, dass sie vier Tage lang ihren Pavillon nicht mehr verließ. Bei Ajitaka hatte das so leicht ausgesehen. Aber er hatte ja auch Spiegel. Mehrere, kleine und große, wie er selbst vor Onkel Toleke geprahlt hatte.
Ob man Spiegel auch selbst herstellen konnte?
Akiana versuchte es mit einer polierten Metallscheibe. Danach mit einer polierten Fliese. Und danach mit einem gläsernen Untersetzer.
Nichts funktionierte. Es musste mehr an diesen Spiegeln sein als nur die glänzende Oberfläche.
Der Zufall kam ihr zur Hilfe.
Akiana saß, wie fast jeden Tag, vor dem ockerfarbenen Papier, das für ihre kalligrafischen Übungen bestimmt war, und malte geduldig Pinselzeichen für Pinselzeichen. Ihre Handschrift war makellos, wie die anderen Frauen immer wieder betonten, aber makellos war nicht perfekt. Sie schrieb nur ein kleines Gedicht heute, über die Vergänglichkeit der Blumen. Wie zur Bestätigung ihrer Schriftzeichen fiel plötzlich von der Rose, die auf ihrem Tisch stand, ein Blütenblatt herab. Ein zweites folgte.
Akiana runzelte die Stirn. Die Blüte hatte ihre Symmetrie verloren. So sollte ihr Tisch nicht aussehen. Ein kurzer Blick – nein, keiner ihrer Dienerinnen war in Reichweite. Vermutlich schliefen sie, wie die meisten Menschen im Sommerharem um die Zeit der größten Mittagshitze. Sollten sie weiterschlafen. Eine einzelne Rose konnte Akiana sich durchaus selbst holen.
Kurz darauf stand Akiana vor dem Rosenbusch, ein kleines Messer in der Hand, und überlegte, welche Blüte am besten passen würde. Schön waren sie alle, aber die meisten waren bereits zu weit geöffnet, um mehr als ein oder zwei Kerzen auf ihrem Tisch zu überstehen. Und Knospen mochte sie nicht. Schließlich entschied sie sich für eine einzelne Blüte, die ein Stück aus dem Busch herausragte und gerade erst voll erblüht war. Vorsichtig durchtrennte sie den Stängel und nahm die Rose mit zwei Fingern auf. Der Reststängel, der jetzt kahl und nutzlos aus dem Busch ragte, sah hässlich aus. Einen Moment überlegte sie, ihn abzuschneiden, aber das funktionierte nicht. In der einen Hand hielt sie das Messer, in der anderen die Blüte, und sie wollte die Blüte nicht weglegen, ihre perfekte Form mochte sonst Schaden leiden. Ihr fiel Onkel Tolekes Unterricht wieder ein. Damals, der Oleander ...
Die Hand, die das Messer hielt, berührte den herausragenden Stängel. Das hier erforderte Präzisionsarbeit. Der Oleander war verdorrt und dann in kleine Stücke zerkrümelt. Hier sollte aber nur ein einzelner Zweig zerstört werden. Vorsichtig tasteten ihre Gedanken nach der Lebenskraft der Pflanze. Der Rosenbusch wehrte sich unverhofft kräftig, es gelang Akiana nicht, die Lebenskraft einfach zurückzudrängen. Schließlich riss ihr Geduldsfaden, und sie zog sie einfach aus dem Stängel heraus.
Ein bisschen zu viel, wie sie feststellen musste. Vor ihren Augen zerfiel der halbe Busch zu Staub.
Das Sonnenlicht reflektierte auf der Messerklinge. Ein ausgesprochen merkwürdiger Reflex. Akiana sah genauer hin. Das wirkte wie ... Hastig zog sie den Daumen zurück, der schon fast die schimmernde Fläche berührt hatte. Wenn das stimmte, was sie vermutete ...
Das Messer lag auf dem Papier, zugedeckt mit einem dünnen Seidentuch. Irgendwie drang das Schimmern selbst durch das Tuch hindurch. Akiana betrachtete es, ängstlich und fasziniert zugleich. Sollte das Geheimnis wirklich so einfach sein? Eine reflektierende Fläche plus Lebenskraft ergab einen Spiegel, mit dem man zaubern konnte? Dann wäre sie jetzt in der Lage, die ganzen Aufgaben mitzumachen, die Onkel Toleke ihrem Bruder Ajitaka stellte. Interessante Aufgaben. Wichtige Aufgaben. Nur musste sie es dann auch wieder schaffen, unbemerkt den Unterricht zu belauschen. Was schwierig werden würde, denn selbst wenn Onkel Toleke sie nicht bemerkte, ihr Bruder passte mit Sicherheit besser auf.
Ein fallendes Blütenblatt riss sie aus ihren Gedanken. Was ...
Die Blüte sah aus, als ob sie kurz vor dem endgültigen Verblühen war. Wie war das möglich? Ein weiteres Blatt fiel, der Stängel begann sich schwach nach unten zu krümmen. Mit Grauen begriff Akiana. Der Messerspiegel sog das Leben aus der Blüte. Was, wenn er das auch bei ihr tat? Oder bei ihren Dienerinnen, wenn die nichtsahnend in den Pavillon kamen?
Es gab nur eine Person, zu der sie sich mit diesem Problem trauen konnte. Onkel Toleke.
Zwischen den dicken Steinwänden des Palastes war es kühler als in den Pavillons des Sommerharems. Ein kaum wahrnehmbarer Lufthauch wehte durch die offenen Fensterschlitze. Die zarten Seidenvorhänge kräuselten sich wie die Oberfläche eines Teiches. Trotz der kühleren Luft war es auch im Palast ruhig, Akiana begegnete niemandem außer zwei Sklaven, die mit Krügen durch die Gänge eilten.
Onkel Toleke pflegte mittags immer ein wenig zu ruhen. Akiana zögerte, als sie vor seiner Tür stand. Sollte sie ihn wirklich wecken? Ein alter Mann wie er hatte seine Ruhe verdient. Sie hob halb die Hand, um zu klopfen, senkte sie dann wieder. Nein, vielleicht doch lieber nicht. Womöglich war er zornig, wenn sie ihn störte, und würde sie gar nicht erst anhören.
Doch noch bevor sie sich abwenden konnte, wurde die Tür geöffnet. Onkel Toleke sah sie an, seufzte und sagte nur: „Komm herein.“
Akiana gehorchte.
Ihr Onkel setzte sich auf einen der gepolsterten Hocker, gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass auch sie sich setzten sollte. „Erzähl mir, was passiert ist.“
Sie begann, zögernd zunächst, dann schneller, bis es aus ihr heraussprudelte. „... und deshalb denke ich, dass aus dem Messer ein Spiegel geworden ist, aber ich verstehe nicht, warum er die Rosenblüte zerstört hat. Ich meine, er hat sie doch überhaupt nicht berührt! Wie soll ich mit einem Spiegel arbeiten, der sich so benimmt?“
„Du sollst mit überhaupt keinem Spiegel arbeiten.“ Onkel Tolekes Stimme war sehr ernst, sehr nachdrücklich. In seinem Blick glaubte sie Bedauern zu sehen. „Es hat seinen Grund, dass ihr Frauen nicht in der Zauberei ausgebildet werdet. Insbesondere nicht im Gebrauch von Spiegeln. Aber zunächst zu deiner Frage. Der Spiegel hat die Rose zerstört, weil er aus dem Messer gemacht wurde, mit dem du die Blüte geschnitten hast. Dadurch besaß er bereits eine starke Affinität zu der Blüte. Und er hätte sie auch über größere Entfernung töten können. Ich bin ziemlich sicher, wenn du zurückgehst, wirst du den ganzen Rosenbusch verdorrt vorfinden. Spiegel müssen niemanden berühren, um zu töten. Es ist nur einfacher, wenn sie Kontakt haben.“
Akiana schluckte. Tausend weitere Fragen brannten bereits in ihr, aber sie traute sich nicht, sie zu stellen.
„Es gibt natürlich einen Grund, weshalb ihr Frauen nicht als Zauberinnen ausgebildet werdet. Nicht nur Spiegel ziehen Lebenskraft an sich. Auch Zauberer. Und je stärker und je besser ein Zauberer ausgebildet ist, desto stärker zieht er auch Lebenskraft an sich. Ihr würdet euch gegenseitig schaden.“
Jetzt begehrte Akiana doch auf. „Aber das ist unlogisch. Ihr Männer seid doch auch Zauberer, und ihr lebt zusammen, ohne dass es euch umbringt!“
„Weil wir alle ausgebildet sind. Weil wir gelernt haben, uns abzuschirmen und zu schützen.“
„Das könnten wir Frauen doch auch lernen!“
„Ihr vielleicht. Aber was ist mit den Kindern? Sie sind zu jung, das zu lernen, und wenn sie es lernen könnten, wären sie zu schwach. Was glaubst du, weshalb es den Sommerharem gibt? Und weshalb es ihn nur hier, im Palast, gibt, und nirgends sonst? Nur in der Nahne-Sippe sind alle von Zaubererblut. Würden wir, wie es die Nichtmagischen tun, mit unseren Frauen und Kindern zusammenleben, würden das weder die Frauen noch die Kinder lange überleben. Schlimmer noch, die Kinder würden gar nicht erst geboren. Sie würden bereits im Mutterleib sterben. Der Bann in den Palastmauern wurde nicht ohne Grund eingewoben. Er schützt euch. Der äußere Bann schützt die Stadt, der innere den Sommerharem.“
Der Messerspiegel entglitt Akianas zitternden Händen. „Das heißt ... wenn ich diesen Spiegel im Sommerharem behalte, tötet er meine jüngeren Geschwister?“
„Ja.“
Sie schaute auf die glitzernde Schneide, die so klein und unschuldig zu ihren Füßen lag. „Dann müsste ich diesen Spiegel im Palast aufbewahren?“
„Nein.“ Onkel Tolekes Stimme klang jetzt geradezu grimmig. „Du musst diesen Spiegel vernichten. Sofort.“
„Aber ... warum?“
„Was glaubst du, was passiert, wenn die anderen Männer deiner Familie von diesem Spiegel erfahren?“ Er beugte sich vor, sah sie fast beschwörend an. „Du würdest keine zwei Tage überleben. Überleg doch mal! Eine Frau, deren Zauberkraft so stark ist, dass sie ohne Anleitung einen Spiegel schaffen kann, wird immer in Versuchung sein, sich auf diese Art zu schützen. Damit aber würdest du niemals imstande sein, auch nur ein einziges Kind auszutragen, und wärst damit für deinen Vater wertlos. Er könnte dich nicht mehr verheiraten.
Schlimmer noch. Du bist stärker als jeder deiner Brüder, vielleicht mit Ausnahme von Ajitaka. Du könntest jeden von ihnen besiegen. Eine Schande für die ganze Familie. Dem würden sie unbedingt zuvorkommen wollen. Deine schwächeren Brüder würden versuchen, dich zu ihrem Seelenspiegel zu machen. Dann wären es ihnen möglich, Ajitakas Position erfolgreich herauszufordern. Ajitaka würde das um jeden Preis verhindern wollen, aber nicht, um dich zu schützen. Er würde seinerseits versuchen, dich in seinen Seelenspiegel zu bannen. Damit wäre er nämlich stark genug, euren Vater herauszufordern. Die einzige Möglichkeit für ihn sicher zu sein, dass nicht umgekehrt sein Vater auf die Idee kommt, ihn als Spiegel in einem seiner zahllosen Kriege zu verbrauchen, wie er es bereits mit zwei Thronanwärtern vor Ajitaka gemacht hat.
Und sollte mein Bruder es vor seinen Söhnen erfahren – glaub mir, du wärst schneller ein Spiegel, als du schreien kannst.“
Akiana sackte zusammen. Sie bekam kaum noch Luft. In was hatte sie sich da hineinmanövriert?
„Und jetzt vernichte deinen Spiegel!“
Ihr zaghaftes „Wie?“ war nur ein Hauch.
Onkel Toleke machte eine ungeduldige Handbewegung. „Such dir etwas aus. Hier steht ja genug Kram herum. Verwandle es, solange, bis die Kraft deines Spiegels aufgebraucht ist.“
Sie brauchte eine ganze Kerze, bis sie den kleinen Keramik-Kerzenhalter in schimmernde Bronze umgewandelt hatte. Eine weitere halbe Kerze, bis aus der Schreibfeder ein pfauenblaues, hauchdünnes Seidentuch geworden war. Dann lag nur noch der Griff des Messers in ihrer Hand. Onkel Toleke schnappte sich den Griff und ließ ihn zu Wasser zerrinnen. „Besser, wir hinterlassen keine Spuren“. Er musterte sie streng. „Vergiss, was du getan hast. Denk nie wieder daran. Du kannst dir keinen Fehler mehr erlauben.“
Während Akiana hinausging, hörte sie ihn noch brummen „Und ich übrigens auch nicht.“
Sie hatte eindeutig mehr als nur sich selbst gefährdet.
Hatte Akiana zuvor nur ihren Vater gefürchtet, so fürchtete sie jetzt auch ihre Brüder. Und ihr Schlaf war von Alpträumen durchsetzt.