Читать книгу Falkenrache - Chris Svartbeck - Страница 8

Das Buch

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Einen halben Mond nach der nächsten Regenzeit trafen schlechte Nachrichten aus dem Norden ein. Die Nordmänner hatten die kalte Jahreszeit genutzt, nicht nur einen, sondern gleich vier karapakische Handelsposten zu überfallen. Umgehend sammelte der König seine Truppen. Das konnte er den Nordmännern unmöglich straflos durchgehen lassen, zumal unter den Toten eines der Handelsposten auch ein Adeliger aus dem Haus Kirasa-Poetoni war. Ein Haus, in das zwei Schwestern des Königs eingeheiratet hatten.

Es war geradezu eine Erlösung für Akiana. Alle ihre Brüder würden den Vater begleiten. Und die Nordlande lagen weit, weit weg. Ihr Vater würde mehrere Monde fortbleiben. Mehrere Monde, in denen sie ohne Angst leben konnte.

Wie die anderen Frauen des Sommerharems schickte auch sie ihrem Vater und ihren Brüdern die üblichen formellen Segensworte und Wünsche für ein gutes Gelingen. Im Gegensatz zu den anderen Frauen aber betete sie nicht in dem kleinen Gartentempel für ihre wohlbehaltene Rückkehr. Und dann waren die Männer der königlichen Familie fort, bis auf Onkel Toleke, und es kehrte Ruhe in den Palast ein.

Die Gelegenheit für Akiana, Onkel Toleke ein zweites Mal aufzusuchen.

Sie erschrak, als sie ihn sah. Sein Gesicht war eingefallen, sein Haar schütter und grau. Er bemerkte ihr Erschrecken und lächelte gequält. „Ich weiß, meine Kleine, ich sehe nicht mehr besonders gut aus.“

Akiana war ratlos. Klar, Onkel Toleke war älter als ihr Vater. Aber so viel älter dann auch wieder nicht. „Was ist dir passiert?“

„Der König ist mir passiert. Er hat seinen Spiegel für den Feldzug bei mir aufgeladen.“

„Aber der König ist dein Bruder! Und du hast dein Leben in der Kristallkammer aufgegeben, um seine Kinder zu unterrichten!“

Onkel Toleke kam näher, schwer auf einen Stock gestützt. „Warum glaubst du, dass er auf seinen Bruder mehr Rücksicht nimmt als auf seine Söhne?“

Eine Eisenfaust krallte sich um Akianas Herz. „Ajitaka?“

„Was denkst du, warum dein Vater alle seine Söhne mitnimmt auf seinen Feldzug? Seine eigene Lebenskraft ist nach all diesen Feldzügen mit ihren Kriegszaubern fast erschöpft, seine Spiegel schwach. Er braucht seine Söhne als Reserve. Wenn es ihm dienlich ist, wird er sie ohne Bedenken im Kampf verbrauchen. Bessere Kampfspiegel als Männer mit Zaubererblut wird er nicht kriegen. Er wird erst die Schwächeren verbrauchen. Aber bevor er eine Niederlage akzeptiert, muss auch Ajitaka herhalten.“

„Aber der Thron braucht doch einen Erben!“

„Dein Vater kann jederzeit neue Söhne zeugen.“ Onkel Toleke sprach nur leise, aber die Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Er schwankte leicht.

Akianas Hand schoss vor, ihn zu stützen.

„Nein! Rühr mich nicht an!“

Akiana zog erschrocken ihre Hand zurück.

„Wenn du mich berührst, könnte ich in Versuchung kommen, meine verschwundene Lebenskraft durch deine zu ersetzen.“

„Oh.“ Bedeutete das, dass Onkel Toleke sie tatsächlich mochte?. „Aber was wird jetzt aus dir?“

„Nichts. Ich gehe zurück in die Kristallkammer. Mein Bruder hat mir mehr als deutlich gemacht, dass ich hier nicht mehr am richtigen Platz bin.“ Er lächelte müde. „Keine Angst, Kind, ich werde nicht so schnell sterben. Die Kristallkammer ist ein guter Energiesammler. Dort wird meine Lebenskraft wieder hergestellt werden.“

Er seufzte. „Ich habe dort einen Turm, weißt du? Einen schönen, hohen Turm, von dem aus ich mehr als fünf Biegungen des Tsaomoogra sehen kann. Manchmal fliegen die Falken um die Spitze des Turmes. Ich werde mich in meinen Turm begeben, über das Land schauen und ruhen. Ein paar Jahre, ein paar Jahrzehnte – es spielt keine Rolle. Und wenn ich irgendwann wieder aus dem Turm hervorkomme, wird mein Bruder nicht mehr sein als eine schlechte Erinnerung.“

„Sehe ich dich dann wieder?“

„Ich fürchte, nein“, sagte er. „In den Türmen verstreicht die Zeit anders. Auch dich wird es dann nicht mehr geben. Vielleicht sehe ich deine Kinder. Vielleicht deine Kindeskinder.“

Der Stock klackte auf dem gefliesten Boden. Tack ... tack ... tack ... Onkel Toleke ging zu dem Tisch, auf dem mehrere große Bücher lagen. Nach kurzem Überlegen zog er ein relativ dünnes aus einem der Stapel hervor. Mit dem Buch in der Hand kehrte er zurück und reichte es ihr. „Ich glaube, da steht etwas drin, was dich interessieren könnte. Wenn dein Vater ohne seine Söhne zurückkehrt, wirst du es brauchen. Wenn nicht – nun, du kannst es immer noch für deine Kinder nutzen. Ich glaube nämlich nicht, dass außerhalb des königlichen Palastes irgendein Adeliger lebt, der die Kosten auf sich nehmen würde, um seine magiebegabten Kinder tatsächlich von einem Zauberer unterrichten zu lassen. Du weißt genug, um es notfalls selbst zu können. Dieses Buch wird dir dabei helfen. Sie zu, dass es niemand außer dir zu sehen kriegt.“

Er ging schwerfällig zum Tisch zurück. Dort drehte er sich noch einmal um. „Der Abschied wird für keinen von uns leichter, wenn du wartest. Nun geh schon!“

Akiana sagte nichts. Sie wusste, Onkel Toleke sah ihre Aura, so wie sie die seine sah. Er machte sich nicht mehr die Mühe, seine Zuneigung zu verbergen. Sie verbeugte sich tief und verließ den Raum.

Onkel Toleke verließ den Palast bereits am nächsten Morgen. Aber erst einen halben Mond später traute sich Akiana, das Buch zu öffnen. Es war handschriftlich verfasst, ganz offensichtlich von Onkel Toleke selbst. Kurze, präzise Anweisungen, wie man magiebegabte Kinder zu unterrichten hatte, ohne dass sie sich selbst oder andere Menschen dabei umbrachten. Und einige einfache Zauber, die man auch ohne Spiegel ausführen konnte, zusammen mit der Warnung, sie nicht allzu häufig einzusetzen, weil jeder Zauber ein Stück der eigenen Lebenskraft verbrauchte. Zauber, die nützlich waren, wenn man es mit Menschen zu tun hatte, deren Hauptinteresse vermutlich daraus bestand, einem zu schaden. Tarnzauber, Spionagezauber, Schutzzauber, rasche Übermittlung von Nachrichten und dergleichen mehr. Akiana prägte sich genau ein, was in dem dünnen Büchlein stand. Der Tag mochte kommen, an dem sie das Buch nicht mehr besaß, es vielleicht sogar zerstören musste. Sie durfte nichts davon vergessen. Vor allem nicht, wie sie ihre Aura manipulieren konnte. Weder ihr Vater noch ihre Brüder durften jemals herausfinden, wie stark ihre Zauberkraft war. Sonst wäre ihr ein Schicksal als Spiegel sicher.

Falkenrache

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