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14.

Der Flug zum äußeren Rand des Sonnensystems dauerte mit den Normaltriebwerken, die nur für Unterlichtgeschwindigkeit vorgesehen waren, etwas mehr als zwei Wochen. Die Triebwerke arbeiteten einwandfrei, Ernest hatte sogar den Eindruck, dass sie weniger Geräusche verursachten als früher. Die Bordzeit und der Lebensrhythmus richteten sich nach mitteleuropäischer Standardzeit.

Das Leben an Bord des Raumgleiters hatte sich eingependelt. Es gab keine Kollisionen, weder im Waschraum noch in der Bordküche. Die Crewmitglieder verrichteten ihre Arbeit und vertrieben sich die übrige Zeit mit Diskussionen über die verschiedensten Themen, mit Musikhören, Filme betrachten oder mit Unterhaltungsspielen.

Christopher machte holografische Fotos von den Planeten und Asteroiden des Sonnensystems und vom Sternenhimmel.

Michelle hatte sich gut in das Team eingefügt. Sie hatte sich anerboten, sich um die Kommunikation und Informationsübermittlung zu kümmern. Wenn eine Nachricht eintraf, legte sie sie den anderen vor, worauf gemeinsam entschieden wurde, wie darauf zu antworten war. Michelle übermittelte dann die entsprechende Nachricht.

Ernest hatte sein anfängliches Misstrauen ihr gegenüber weitgehend abgelegt. Nur am Anfang des Flugs war es zu einer hitzigen Diskussion gekommen, als er ihre Aussage bezüglich des Treffens mit Mark noch mal infrage stellte und sogar die Möglichkeit in Betracht zog, die Begegnung mit Christopher sei von ihr inszeniert worden. Erneut versicherte sie, dass es sich so abgespielt habe, wie sie es bereits zuvor beschrieben hatte.

Christopher und Michelle hatten sich näher kennengelernt und verbrachten ab und zu die Zeit zusammen, ohne sich auf irgendwelche Annäherungen einzulassen. Sie hatten ein paar Gemeinsamkeiten entdeckt, aber in anderen Dingen unterschieden sie sich doch ziemlich voneinander. Als dann die gegenseitigen Sympathien immer offenkundiger wurden, wäre es zwischen Ernest und Christopher beinahe zu einem handfesten Streit gekommen. Ernest konnte Michelle anscheinend immer noch nicht das volle Vertrauen entgegenbringen. Der Rest seines Zweifels veranlasste ihn, Christopher vor einer möglichen Dummheit zu bewahren. Doch dieser warf ihm daraufhin Einmischung in seine persönlichen Angelegenheiten vor. Eric, der in solchen Fällen stets besonnen reagierte, schaffte es jedoch, dass sich die beiden Streithähne wieder vertrugen. Michelle blieb dieser Konflikt nicht verborgen und zog sich in den ersten paar Tagen danach des Öfteren in ihre Kabine zurück, bis Ernest sie darauf ansprach und sie bat, sich wieder vermehrt an gemeinsamen Gesprächen und Diskussionen zu beteiligen.

In der darauffolgenden Zeit erlaubten sich Ernest und Eric zwischendurch sogar ihre Späße, indem sie entsprechende Bemerkungen über Christopher und Michelle äußerten. Doch die beiden ließen sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen und erwiderten die Äußerungen ihrerseits mit provokanten Bemerkungen. Die Beziehung zwischen Michelle und Christopher beschränkte sich jedoch auf eine allgemeine Freundschaft und gegenseitige Sympathie. Ob Christophers Zurückhaltung gegenüber Michelle auf den Streit mit Ernest zurückzuführen war, konnte niemand mit Sicherheit sagen.

Alles in allem hatte Michelle frischen Wind ins Team gebracht. Nicht unwesentlich war die Tatsache, dass sie die einzige Frau an Bord des bisher nur von Männern bevölkerten Gleiters war. Auffällig war unter anderem auch, dass die Bordküche einen gepflegteren Eindruck machte als früher.

Allerdings konnte Michelle mit Ernests Kochkünsten genau so wenig anfangen wie Christopher. Damit hatte er endlich eine Verbündete. Die gelegentlichen Diskussionen übers Kochen endeten jedoch meistens in einem Gelächter.

Als sie Pluto passiert hatten, startete Ernest die Überlichttriebwerke. Da das Ziel vorprogrammiert war, konnte er das Steuer des Schiffes dem Autopiloten übergeben.

Innerhalb des Sonnensystems hatte es sich Ernest nicht nehmen lassen, den Gleiter zwischendurch manuell zu fliegen. Da er manchmal ziemlich nahe an Asteroiden vorbeiflog, nutzte Christopher die Gelegenheiten, um Nahaufnahmen zu machen.

Am dritten Tag des Überlichtfluges wachte Ernest mitten in der Nacht auf. Im Hyperraum gab es zwar keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht, doch das Bordgeschehen richtete sich nach wie vor nach irdischer Zeit.

Als Ernest die Tür seiner Kabine öffnete, wurde er Zeuge eines Gesprächs zwischen Christopher und Michelle. Sie unterhielten sich über sein Alter und sein wesentlich jüngeres Aussehen. Dabei spekulierten sie über die verschiedensten Möglichkeiten, die zu diesem Phänomen geführt haben könnten.

Ernest war es gewohnt, dass sich Leute darüber den Kopf zerbrachen. Daher erstaunte es ihn nicht, dass sich auch Michelle über diese Tatsache Gedanken machte und mit Christopher darüber diskutierte. Er hatte in seinem Leben deswegen schon einige kuriose Situationen erlebt, die ihn meist sehr amüsierten.

Nachdem Ernest vom Toilettenraum in seine Kabine zurückgekehrt und sich wieder hingelegt hatte, kreisten seine Gedanken einmal mehr um die Umstände seines Alters. Er war sich völlig im Klaren, dass er der medizinischen Welt Rätsel aufgab. Das menschliche Durchschnittsalter hatte sich zwar in den letzten Jahrhunderten sukzessive erhöht und sich bei knapp unter einhundert Jahren etabliert. Dabei gab es auch immer wieder Leute, die einhundertzwanzig Jahre oder älter wurden. Nur hatte niemand von ihnen die Physiognomie eines knapp Siebzigjährigen, geschweige denn die körperliche Konstitution dazu.

Das alles war Ernest sehr wohl bewusst. Er kannte auch den Grund dafür. Nur hatte er bisher noch mit niemandem darüber gesprochen. Er hatte auch nicht vor, es in absehbarer Zeit zu tun. Er durfte nicht darüber reden. Es war ihm verboten worden.

Was er damals vor knapp sechzig Jahren erlebt hatte, war so unglaublich, dass er oft selbst daran zweifelte, es tatsächlich erlebt und nicht nur geträumt zu haben. Er war nach wie vor von diesen Erinnerungen fasziniert. Sie hatten bis heute kein bisschen von ihrer Eindrücklichkeit eingebüßt.

Es geschah auf dem Rückflug von einer Autorentagung, die auf dem Kolonialplaneten MOLANA-III stattgefunden hatte. Damals hatte er mit einem Abenteuerroman aus der Vergangenheit der Erde einen großen Erfolg verzeichnen können. Darin hatte er geschickt Fiktives mit Realem kombiniert und Grenzen derart verwischt, dass der Leser nicht mehr genau feststellen konnte, was Fantasie war und was nicht.

Erneut versank Ernest in die Erinnerungen der damaligen Geschehnisse.

Der Raumgleiter, der damals nur von einer kleinen Crew besetzt war und vom Autopiloten gesteuert wurde, verließ plötzlich ungeplant den Hyperraum. Ernest war der einzige gewesen, der es bemerkt hatte, da der Rest der Crew schlief.

Im großen Panoramafenster erblickte er eine leuchtende Kugel. Mangels Perspektive war es ihm unmöglich, ihre Größe zu bestimmen. Dies war aber nicht nötig. Denn als sie sich näherte und irgendwann das gesamte Panoramafenster ausfüllte, wusste er, sie war riesengroß. Da ihre Hülle transparent war, konnte er sogar ins Innere sehen. Sie schien in Äquatorhöhe in zwei Hälften unterteilt zu sein. In der oberen konnte er dunkelblaue, skurrile Gebilde erkennen, die in hellem Licht erstrahlten, während die untere Hälfte komplett von dunkelblauer Farbe ausgefüllt war. Eine Quelle dieses Lichts konnte er nicht erkennen. Es war, als würde die gesamte obere Hülle selbst leuchten.

Kurz darauf begann das Szenario, das sein zukünftiges Leben entscheidend prägen sollte.

Vor dem großen Panoramafenster erschienen winzig kleine Lichtpunkte, die zuerst langsam, dann immer schneller auf ihn zuschossen. Die anfängliche Furcht wich schnell einer Faszination, als er merkte, dass die Lichter ihm keinen Schaden zufügten. Zudem verspürte er eine gewisse Vertrautheit, die sich noch verstärkte, als die Lichtpunkte ihn immer mehr einhüllten. Ein Rausch des Glücksgefühls überkam ihn, und er ließ sich treiben. Er verlor jegliches Zeitgefühl, jegliche Orientierung. Als er vor lauter Lichtpunkten nichts anderes mehr erkennen konnte, schloss er die Augen, aber die Punkte blieben weiterhin sichtbar.

Er fühlte sich glücklich und frei.

Plötzlich verschwanden die Lichtpunkte. Er wurde sich wieder seines Körpers gewahr, hatte den Eindruck, irgendwo zu stehen, spürte Wärme auf seiner Haut. Als er die Augen öffnete, hielt er sofort die Hand schützend davor, um sie vor dem gleißenden Licht zu schützen. Er brauchte einen Moment, um sich daran zu gewöhnen.

Seine Füße ruhten auf einer dunklen, mattblauen Fläche. Sie gehörte zu einer unförmigen Plattform, die auf glitzerndem Wasser schwamm. Es gab unzählige solcher Plattformen, die alle mit schmalen, unregelmäßig gebogenen Stegen miteinander verbunden waren. Die Ränder der Plattformen wurden von sanften Wellen überspült.

Ernest blickte in die Ferne und erkannte skurrile, unterschiedlich geformte Türme in derselben Farbe wie die Plattformen. Überhaupt gab es außer dem gleißenden Licht, das von oben kam, und dem Wasser keine andere Farbe als dieses matte Dunkelblau. Am Firmament konnte er keine sichtbare Lichtquelle erkennen, keine Sonne oder etwas Ähnliches. Der gesamte Himmel, wenn es denn einer war, bestand aus Licht, welches diese eigenartige Welt mit einer strahlenden Helligkeit überflutete. Außer dem leisen Plätschern des Wassers herrschte absolute Stille.

Was war das für ein Ort?

Wie war er hierhergekommen?

Außer ihm war nichts und niemand hierher geholt worden. Kein Gleiter, keine seiner Mitreisenden und keinerlei Material. Auch nicht, was er am Körper getragen hatte.

Aus den Augenwinkeln konnte er plötzlich eine Bewegung ausmachen. Sofort wandte er seinen Blick in diese Richtung und erspähte von Weitem eine Gestalt, die sich über Plattformen und Stegen auf ihn zubewegte. Er kniff die Augen zusammen, versuchte ein klareres Bild zu erhalten, wartete gespannt und erkannte bald darauf einen nackten Jungen mit schwarzem, mittellangem Haar.

Wenig später stand er Ernest gegenüber und sah ihm vertrauensvoll in die Augen. Ernest kannte ihn nicht, konnte sich nicht vorstellen, wer das war. Trotzdem wurde er den Eindruck einer großen Vertrautheit nicht los.

»Hallo Ernest.« Die Stimme eines gewöhnlichen Jungen, freundlich, nichts Bedrohliches.

»Wer bist du?«

»Nenn mich Ahen.«

»Wo bin ich hier?«

»An einem zeitlosen Ort.«

Ernest sah den Jungen verwirrt an. Etwas in seinem Inneren sagte ihm, dass er auf weitere Fragen keine Antworten erhalten würde.

»Ich muss dir eine Botschaft übermitteln«, sprach der Junge weiter.

»Mir? Eine Botschaft? Warum gerade mir?«

»Diese Botschaft musst du in dir tragen und mit niemandem darüber sprechen.«

»Worin besteht dann der Sinn dieser Botschaft?«

»Wenn die richtige Zeit gekommen ist, wirst du den Sinn erkennen. Dann sollst du darüber reden, sie an andere Menschen weitergeben.«

»Wie weiß ich, wann es soweit ist?«

»Du wirst es merken.«

»Wie lautet die Botschaft?«

»Eine große Gefahr geht von deinem Heimatplaneten aus. Sie bedroht das gesamte Universum.«

»Was für eine Gefahr?«

Der Junge antwortete nicht, sah ihm nur in die Augen.

»Verstehe. Du kannst mir nicht auf alles antworten. Aber wie kann ich etwas gegen die Bedrohung tun?«

»Du wirst den Zeitpunkt erkennen, wann du diese Botschaft den Menschen mitteilen musst.«

»Wann wird das sein?«

Keine Antwort.

»Vielleicht lebe ich nicht lange genug, bis dieser Zeitpunkt eintritt.«

»Du wirst lange genug leben.«

Wieder starrte Ernest den Jungen verwirrt an.

Plötzlich streckte Ahen seinen Arm aus und zeigte mit dem Finger auf einen der skurrilen Türme. »Schau.«

Ernests Blick folgte dem Finger. Sofort sah er, was der Junge ihm zeigen wollte. Der Turm veränderte fortwährend seine Form.

»Was ist das? Ein Lebewesen?«

»Es ist dasselbe wie das, worauf du stehst.«

Sofort blickte Ernest nach unten auf die Plattform, dann zum Rand, der nach wie vor von Wellen überspült wurde. Auch dieser veränderte ständig seine Form, zwar nur minimal, aber doch deutlich erkennbar.

»Lebt dieses Material etwa?«

»Nein, aber es ist von Leben erfüllt.«

»Aber das ist doch …«

»… ein Widerspruch, wolltest du sagen.« Ahen bückte sich, legte seine flache Hand auf die Oberfläche der Plattform und wartete einen Moment.

Ernest starrte gebannt hinunter und sah, wie die Hand des Jungen bis etwa zur Hälfte in dem mattblauen Material versank, als würde es schmelzen. Dann hob er die Hand und hielt Ernest die Innenfläche entgegen. Sie war übersät mit einem feinen, blauen Pulver, das sich auf der Haut zu bewegen schien.

»Was ist das?«

»Leben. Behalte es gut in Erinnerung.«

Bevor Ernest seiner erneuten Verwirrung Luft verschaffen konnte, begann es um ihn herum zu flimmern. Erneut wurde er von Lichtpunkten eingehüllt, bis er von der Umgebung, dem hellleuchtenden Firmament, den skurrilen Türmen, den Plattformen und von Ahen nichts mehr sehen konnte.

Im nächsten Augenblick stand er im Gleiter vor dem großen Panoramafenster, als wäre nichts geschehen. Draußen schwebte die leuchtende Kugel, die sich langsam entfernte und wenig später aus seinem Blickfeld entschwand.

Der Gleiter tauchte wieder in den Hyperraum ein und setzte den Rückflug ungehindert fort.

Die Kolonie Tongalen

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