Читать книгу Die Kolonie Tongalen - Chris Vandoni - Страница 9
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Nachdem das mehrere Jahrzehnte lang andauernde Terraforming abgeschlossen war, trafen vor dem Beginn der irdischen großen Krisen die ersten Siedler auf dem zweiten Planeten des TONGA-Systems ein. Sie landeten in der nördlichen Hemisphäre an der Westküste des einzigen Kontinents.
Ein mehrere Hundert Kilometer breiter Gürtel, der von einer Meeresströmung mit mildem Klima versorgt wurde, erstreckte sich die Küste entlang von Norden nach Süden, wo er in einen üppigen Urwald überging und jenseits des Äquators in einer Sandwüste endete, in der nur Hitze und Dürre herrschten. Südlich dieser Wüste existierte ein weiteres bewohnbares Gebiet, jedoch wesentlich kleiner als jenes im Norden.
Durch immerwährende gewaltige Stürme und Orkane war die Ostküste des Festlandes nicht bewohnbar. Zudem gab es im Innern des Kontinents ebenfalls nur Wüsten und Trockenheit.
Durch das Terraforming war es dem Planeten nicht möglich gewesen, in einem natürlichen Evolutionsprozess eigenes Leben hervorzubringen. Man hatte ihn zu schnell aus seinem Urzustand herausgeführt. Eine Fauna existierte daher nur im Anfangsstadium in Form von Insekten und Mikroorganismen, Letztere vorwiegend in Gewässern. Die Pflanzenwelt hingegen konnte sich in den gemäßigten Breitengraden schnell entwickeln und brachte, dank nahezu irdischen Verhältnissen bezüglich Klima und Luftzusammensetzung, mit einigen Ausnahmen ähnliche Gattungen hervor wie die Erde.
Die Kolonisten von TONGA-II stammten aus verschiedenen Ländern der Erde, setzten sich jedoch vorwiegend aus gesellschaftlichen Minderheiten, politisch Andersdenkenden oder ärmeren Schichten zusammen. Viele fühlten sich von Regierungen, Behörden, sozialen und kirchlichen Institutionen benachteiligt oder von Mitmenschen unterdrückt und verfolgt. Die Anzahl derer, die sogar abgeschoben worden waren, machte einen nicht unwesentlichen Anteil aus. Sie wussten denn auch einiges über die Machenschaften von Regierung und Behörden in ihren ehemaligen Heimatländern zu berichten.
Anhand dieser Berichte wurden Andersdenkende und Dissidenten als psychisch Kranke oder geistig Verwirrte eingestuft. Man setzte sie so lange verschiedenen Repressalien aus, bis sie irgendwelche Geständnisse ablegten und somit den Beweis für ihre „Geisteskrankheit“ erbrachten. Folter, die von Gesetzes wegen weltweit verboten war, durfte nun unter dem Deckmantel einer psychischen Behandlung eingesetzt werden. Auch medikamentöse Behandlungen, um die Patienten wieder auf den leuchtenden Weg geistiger Klarheit zurückzuführen, waren an der Tagesordnung.
Die anfänglich kleineren Siedlungen auf TONGA-II wuchsen durch den permanenten Zustrom weiterer Einwanderer schnell zu größeren Orten und Städten heran, sodass die irdische Kolonialverwaltung ihre Aufgabe sehr bald als erfüllt betrachtete und TONGA-II zu einer sich selbstverwalteten Kolonie ausrufen konnte.
Man gab dem Kolonialgebiet den Namen Tongalen und nannte die Hauptstadt Tongala.
Der Administrative Rat von Tongalen wurde von der Bevölkerung in regelmäßigen Abständen neu gewählt. Bisherige Amtsinhaber konnten wiedergewählt werden. Jeder Bürger hatte das Recht, sich für ein Amt zu bewerben.
Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen wurden bewusst einfach gehalten. Verschiedene Ämter sorgten für das Funktionieren des öffentlichen Lebens und die Erfüllung sozialer Aufgaben. Die Wirtschaft diente ausschließlich der Selbstversorgung. Religionen und kirchliche Institutionen existierten offiziell keine.
So gedieh eine Gesellschaft ohne die dogmatischen und ausbeuterischen Strukturen, wie sie auf der Erde vielerorts noch herrschten oder bis vor kurzem noch geherrscht hatten, und mit denen die allerersten Einwanderer in ihrem alten Leben noch konfrontiert gewesen waren.
Das völlig andersartige Wertebewusstsein der Tongaler verhinderte die Entstehung jeglicher kapitalistischer Systeme. Nicht Masse und Besitztümer spielten im Leben die dominierende Rolle, sondern gesellschaftliche Integration, Kreativität und soziale Kompetenz. Kunst im kulturellen Sinn hatte in allen Situationen des Alltags großen Einfluss, besaß jedoch ausschließlich geistigen und metaphysischen Wert und stellte keinerlei wirtschaftliche Bedeutung dar.
In ihrem persönlichen Charakterbild entwickelten sich die Tongaler zu sehr offenen Wesen, die sich bezüglich ihres Denkens aufrichtig und ohne einschränkende Konventionen äußerten. Um dies korrekt und ohne Irrtümer interpretieren zu können, brauchte man als Außenstehender gute Kenntnisse über Eigenschaften und Charakteristiken der Kolonisten. Zu Beginn der Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Erde und Tongalen kam es des Öfteren zu Missverständnissen sowie zu kuriosen und peinlichen Situationen.
In zwischenmenschlicher und sexueller Hinsicht entwickelten die Tongaler ebenfalls eigene Formen. Sie unterwarfen sich nicht den stark regulierten Systemen, die auf der Erde in verschiedenen Kulturen seit jeher existierten. So gab es keine amtlich oder kirchlich abgesegnete Heirat und keinen Besitzanspruch an Partner. Tongaler lebten äußerst selten paarweise, sondern meist in Kommunen und Wohngemeinschaften.
Körperliche Liebe gehörte zum Leben wie das Atmen und war weder gesetzlich eingeschränkt noch durch irgendwelche Tabus belegt. Zudem besaßen Frauen eine stark erhöhte Sensibilität bezüglich ihrer Empfängnisbereitschaft. Dadurch war es Partnerschaften möglich, ihren Nachwuchs ziemlich genau zu planen.
Das konventionelle Familiensystem, wie es auf der Erde in vielen Kulturkreisen existierte, gab es in Tongalen nicht. Es kam selten vor, dass eine Partnerschaft mehrere Kinder hervorbrachte. Viel eher wurden Partner gewechselt, sodass die weiteren Nachkommen einen anderen Elternteil besaßen. Oftmals lebten ehemalige und neue Partner in derselben Kommune, was das Aufziehen von Kindern vereinfachte.
Trennungen gingen unkompliziert und unbürokratisch über die Bühne. Man entschloss sich dazu und ging entweder seiner Wege oder lebte weiter in derselben Gemeinschaft. Auch polygame Beziehungen waren keine Seltenheit. Durch das Fehlen von Besitzansprüchen war Eifersucht eine ziemlich unbekannte Eigenschaft.
Obwohl die Tongaler ursprünglich von irdischen Menschen abstammten, hatte sich ihr Organismus über die Generationen den planetarischen Verhältnissen abgepasst. Durch den leicht geringeren Sauerstoffgehalt besaßen sie eine höhere Dichte von Lungenbläschen und eine leicht größere Anzahl roter Blutkörperchen. Die etwas geringere Gravitation gegenüber der Erde hatte auch Veränderungen ihrer Anatomie zur Folge. So waren Tongaler von größerer Statur und schmaler gebaut als irdische Menschen. Durch eine völlig andere Ernährungskultur war Fettleibigkeit eher eine Seltenheit.
Tongaler besaßen auch Schwächen. So hatten sie sehr große Schwierigkeiten mit dem Alleinsein. Auch mit psychischem Stress und Druck konnten sie sehr schlecht umgehen.
Um nicht dieselben Gesellschaftsformen entstehen zu lassen, wie sie die Erde hervorgebracht hatte, schützten sich die ersten irdischen Auswanderer mit entsprechenden Gesetzen. Doch über die Generationen hinweg entwickelte sich die tongalische Gesellschaftsform zur Selbstverständlichkeit und Tradition.
Nach der Wiederaufnahme der Beziehungen wurde man auf der Erde irgendwann auf die neuartigen Lebensqualitäten in der Kolonie Tongalen aufmerksam. Nach einem mehrere Generationen dauernden Unterbruch entwickelte sich ein neuer Zustrom. Tongalen begann wieder zu wachsen.
Aber nicht alle neuen Einwanderer konnten sich mit dieser Art von Gesellschaftsform anfreunden. Viele brachten die irdische Denkweise mit und versuchten diese in ihrer neuen Lebensumgebung weiterzupflegen. Zwischenfälle begannen sich zu häufen, in denen andersdenkende Einwanderer und traditionelle Kolonisten aneinandergerieten oder Einwanderer versuchten, das System zu verändern.
Nach einiger Zeit bildete sich unter den neuen Kolonisten eine religiöse Gemeinschaft namens Curaner, eine Ableitung von lateinischen Wort ‚Cura‘. Der Sinn dieser Gemeinschaft bestand darin, den Glauben an einen Gott, wie man ihn auf der Erde pflegte, weiterzuführen und Sitte und Moral nach irdischen Maßstäben zu bewahren.
Zwei Lebenskulturen prallten aufeinander.
Das Gleichgewicht innerhalb der Gesellschaftsform, das sich mittlerweile seit mehreren Generationen bewährt und gefestigt hatte, wurde empfindlich gestört. Es bildeten sich zwei Parteien, und es drohte eine Spaltung.
Durch den stetigen Zustrom neuer Einwanderer gewann die Partei der Curaner immer mehr an Einfluss.
Doch bevor es zur dramatischen Eskalation kam, entschlossen sich beide Parteien, gemeinsam einen Weg für eine friedliche Lösung zu suchen. Auch in dieser Hinsicht wollte man nicht dem Beispiel der Erde folgen und bei unterschiedlichen Ansichten und Lebensauffassungen einen Krieg beginnen.
Nach vielen Verhandlungen und Gesprächen einigte man sich, für die Curaner in einem bisher unbewohnten Gebiet südlich des Äquators, ebenfalls an der Westküste des Kontinents, einen neuen Staat zu gründen, in dem sie ihre eigene Kultur und Gesellschaftsform pflegen konnten.
Die Kolonisten beider Parteien atmeten auf, da sie einen drohenden Bürgerkrieg auf diplomatischem Weg verhindert hatten.
Bei den Feierlichkeiten der Staatsgründung wurde der neue Staat Curanien ausgerufen. Seine Hauptstadt sollte den Namen Curania tragen.
Grenzstreitigkeiten zwischen den Curanern und den Tongalern waren aufgrund des lebensfeindlichen Äquatorialbereichs zwischen ihnen so gut wie ausgeschlossen.
Auch wenn die beiden Staaten von sehr unterschiedlichen Kulturen und Lebensauffassungen geprägt und voneinander unabhängig waren, entwickelte sich doch bald reger Handel.
Die Konflikte gerieten in Vergessenheit, und man akzeptierte sich gegenseitig.