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Karl Wauer lieferte den Koffer des Obersten pünktlich zum vorgegebenen Treff am vierten April 1945 auf dem Schlesischen Bahnhof in Berlin ab. Er sah dort viel Schreckliches. Er benötigte weitere fünf Tage, um seine Kurierpost loszuwerden und sich anschließend von Teupitz aus nach Süden durchzuschlagen. Am 9. April nachts traf er endlich von Chemnitz kommend in Lugau ein. Die Amerikaner saßen bereits in Hohenstein-Ernstthal, und es war nicht ungefährlich für ihn in seiner deutschen Offiziersuniform. Er musste ständig damit rechnen, von einem amerikanischen Vorauskommando aufgegriffen zu werden, denn es gab kaum noch deutsche Verbände in dieser Gegend. Es wäre sein Glück gewesen, aber damals sah er das ganz anders.

Er schlich sich deshalb auf Umwegen in sein Haus. Zur Geburt seines Sohnes kam er einen Tag zu spät, und natürlich ärgerte er sich darüber, denn mit einem Quäntchen mehr Glück hätte er es schaffen können. Die junge Mutter empfand es nach dem überwundenen Wiedersehensschock dagegen als ein Wunder Gottes, das ihr ungeheure Kraft verlieh. Für Jahre, wie sich bald herausstellte.

Karl Wauer nahm sich aber lediglich die Zeit, sich mit seiner Frau Helene auf den Namen Martin für seinen Erstgeborenen zu einigen. Nach ein paar flüchtigen und unbeholfenen Küssen auf das schrumpelige Menschenbündel floh er in der darauffolgenden Nacht mit dem geliehenen Fahrrad seines Stammtischbruders und Lugauer Hilfskantors Böhler in Richtung Chemnitz, wo er es pflichtbewusst bei der Frau eines sich ebenfalls im Endkampf befindlichen Arbeitskollegen unterstellte.

Das Fahrrad wurde später zurückgegeben.

Karl Wauer schlug sich weiter erfolgreich bis Torgau durch, wo er am 15. April abends eintraf. Hier wartete er gemä seines Marschbefehls auf seine Einheit, die nicht kommen konnte, weil sie in den Kämpfen um die Seelower Höhen fast völlig aufgerieben worden war. Die spärlichen Reste, die es geschafft hatten, sich bis nach Teupitz zu retten, wurden in der dortigen Waldschlacht vernichtet oder in alle Winde verstreut.

Wauer schloss sich in Torgau einem Oberst der Artillerie an, der die Brücke über die Elbe mit einigen seiner Leute und einem Kommando der Militärpolizei für die Flüchtlingsströme freizuhalten suchte. Übrigens gelang es nicht, alle zurückflutenden Truppenteile, die ihrerseits so schnell wie möglich zu den Amerikanern wollten, davon abzuhalten. Wauer selbst spielte mehrmals mit dem Gedanken, sich auch abzusetzen.

Aber es waren Gerüchte durchgedrungen, dass die Russen bei der Schlacht um Berlin ungeheure Verluste erlitten hatten. So beschloss er, lieber noch einige Tage zu warten, um von Mosig vielleicht doch noch irgendein Lebenszeichen zu erhalten.

Er wartete vergeblich.

Denn Russen und Amerikaner einigten sich inzwischen über den vorläufigen Verlauf der Demarkationslinie. Am 1. Mai nachts war plötzlich die Brücke zu. Die Amis hatten sie dicht gemacht. Viele versuchten es noch über den Strom hinweg, überwiegend erfolglos. Die meisten ertranken.

Am 2. Mai kam der Russe, und Karl Wauer wurde als Kriegsfangener der Roten Armee interniert. Dadurch erhielt er die Möglichkeit, den Weg des deutschen Rückzuges, der vordem ein siegreicher Vormarsch gewesen war, in einer Art doppelter Negation wieder zu seinem ehemaligen Zielpunkt zurückzuverfolgen.

Es sollten fast fünf Jahre vergehen, bis er, als einer der Überlebenden heimkehrend, die Oder abermals in Richtung Deutschland überschritt.

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