Читать книгу Nachtmahre - Christian Friedrich Schultze - Страница 17
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ОглавлениеEs ist schwer, einen neuen Blickwinkel für sich selbst zu finden, selbst wenn man es wirklich will. An dem, was du dir im Verlaufe deines Lebens mühsam an Wissen und Erfahrung erworben hast, hängst du eben und lässt es nicht gern in Frage stellen, selbst wenn es sich herausgestellt hat, dass es falsch ist und du es im Grunde auch bereits weißt Die Macht der Gewohnheit ist so stark. Und es kann manchmal geradezu tödlich sein zuzugeben, dass man sich für einen Irrtum geopfert hat.
Mir war also klar geworden, dass es nicht allein die philosophischen oder gesellschaftlichen Fragestellungen waren, die mich zu einem Entschluss drängten. Oder die persönlichen Probleme, in die ich mich manövriert hatte.
Es lag in mir, da hatte Thomas völlig recht. Nur, dies zu wissen, brachte mich auch nicht recht weiter. Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, dachte ich an jenem Abend resigniert. Irgendwoher würde vielleicht ein Anstoß kommen.
Sicher gewöhnt man sich dran, dass einen ihre LEHRE auf Schritt und Tritt verfolgt, einen täglich aus Rundfunk, Fernsehen und Presse anspringt. Eigentlich müssten nach fünfunddreißig Jahren Einerlei alle gleichmäßig ausgerichtet sein, müsste jeder nach diesem Glauben problemlos leben können. Denn nun ist klar, dass es sich bei den uns verwirrenden Erscheinungen nicht um antagonistische Widersprüche handelt. Unsere Dialektik erlaubt es uns sogar, die überall wie Pilze emporschießenden Übel als für die Entwicklung notwendige Widersprüche zu kennzeichnen.
Aber merkwürdig, das Volk verschließt sich mehr und mehr. Es ist nicht wahr, dass man die Masse ideologisch manipulieren kann, wenn sie für die neue LEHRE nicht offen ist. Wenn nicht geglaubt wird, entsteht keine Woge. Im Gegenteil, irgendwann verkehrt sich plötzlich alles.
Es setzt sich zusammen aus einem Mosaik von tausenden Kleinigkeiten, die so vielschichtig und verflochten wirken, dass man daran zweifeln muss, jemals beschreiben zu können, wie diese schizophrene Doppelbödigkeit überhaupt entstand, auf der unser heutiges Leben gründet und was uns trotz dieses ständig wachsenden Gegensatzes zwischen Sein und Schein vor dem Zusammenbruch bewahrt.
Nur wer drin ist, weiß es. Nur wer drin war, kann endgültig desillusioniert sein. Nur wer wirklich dafür begeistert war, kann das Vakuum ermessen, das folgte, nachdem der schöne und humane Traum des Sozialismus von Leuten vom Schlage Stalins getötet und von der resignierten Gemeinde der ehemaligen Kämpfer zu Grabe getragen wurde.
Und dabei sah anfangs tatsächlich alles so gut aus, so, als sei die Zeit endlich reif.
Die Welt ist doch wirklich nicht mehr dieselbe, seit die Bombe auf Hiroshima fiel. Und darüber hinaus sind in der Zeit unseres kurzen Lebens über die Hälfte aller bisherigen Erfindungen der Menschheit gemacht worden. Der Mensch setzte seinen Fuß auf einen anderen Himmelskörper und war dadurch doch immerhin in der Lage, die Einmaligkeit seines blauen Planeten zu erkennen. Und da sollten die sozialistischen Vordenker nicht recht gehabt haben?