Читать книгу Nachtmahre - Christian Friedrich Schultze - Страница 14
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ОглавлениеAber zunächst dauerte meine Kindheit.
Es kam das Jahr 1952. Im Herbst sollte ich eingeschult werden, ein Jahr später als üblich. Für Kriegskinder war das möglich. Durch eine Anämie war es mir gelungen, meine Kindheit um ein Jahr zu verlängern. Man verabreichte mir Lebertran und rohe Leber, damit ich die notwendige Widerstandskraft für den sozialistischen Bildungsweg, der mir nun bevorstand, entwickelte. Im Hinblick auf das baldige Ereignis meines Schuleintritts und auf Grund des speziellen Verhältnisses zu meinem Vater, beschloss ich im Frühjahr jenes Jahres, durch außergewöhnliche, richtungsweisende Handlungen die Aufmerksamkeit der Menschheit auf mich zu lenken.
Es waren Taten, auf die ich heute mit einem gewissen Stolz zurückschaue, weil sie zeigen, dass ich bereits frühzeitig den richtigen Weg erkannt hatte, wenn auch mehr gefühlsmäßig. Im Gegensatz zu den letzten Jahrzehnten meines unbedeutenden Lebens versuchte ich damals aber noch, für meine Überzeugungen zu kämpfen.
Die Überland-Tram, eine alte, kreischende elektrische Straßenbahn, die von Hohenstein-Ernstthal nach Ölsnitz fuhr, hatte schon immer Angst und Abscheu in mir erregt. Mir wurde langsam klar, dass ich dieses Ungetüm der Technik irgendwie besiegen musste, in meinem wie im Interesse der übrigen Gesellschaft, was damals für mich noch ungefähr dasselbe war.
Eines Tages sprang ich also solange auf den Schienen vor der anrollenden Bahn hin und her, bis sie wirklich stoppte. Die Aufregung unter den Passagieren war groß. Trotzdem wurde es leider nur ein halber Erfolg, da der Straßenbahnführer, der ausgestiegen war und mich eingefangen hatte, mir kurzerhand den Hintern versohlte und mich meiner inzwischen herbeigeeilten Mutter übergab.
Die Bahn fuhr weiter, bis 1962, dann wurde ihr Verkehr eingestellt und durch Kraftomnibusse ersetzt, was mehr Umweltbelastung bedeutete. So kämpft man oft gegen ein kleines Übel, um sich am Ende ein größeres dafür einzuhandeln.
Noch etwas anderes störte mich an meiner damaligen Umwelt. Es war das unweit von unserem Haus gelegene, wohlerhaltene Kriegerdenkmal des Ersten Weltkrieges. Dass es im dritten Jahres des Bestehens der neuen Deutschen Demokratischen Republik ungestört weiterexistierte, war fraglos ein Anachronismus. Woher ich diese Empfindung bezog, ist mir auch heute noch unklar. Leider überkommen mich auch jetzt manchmal derart seltsame Gefühle, wenn ich sehe, wer mit Orden und Würden dekoriert und für wen Denkmäler errichtet werden.
Damals war mir das Heldenmal anscheinend zuwider, weil es mich in zu eindringlicher Weise daran erinnerte, dass Krieg für Männer, Frauen und Kinder, ganz besonders aber für Väter, eine schreckliche Sache war.
Außerdem verkraftete ich wohl die ständigen Widersprüche nicht, in die sich mein erst zart entwickeltes Heldenverständnis verstrickte.
Auf den Gedenksteinen für die Jahre 14 bis 18 waren die deutschen Männer noch Helden. So stand es für Kundige zu lesen. Unsere Väter waren anfangs auch welche gewesen, dann aber, ab 1945, keine mehr. Wahrscheinlich mussten Helden auch gewinnen, um welche sein zu können. Denn die Sieger besaßen davon viele, wie wir später lernten.
Ich beschloss, das Bauwerk zu schleifen. Weit kam ich aber leider nicht. Ich transportierte gerade die dritte Fuhre abgebauter Pflastersteine in meinem sehr leistungsfähigen Holzspielauto ab, als ein neubestallter Ordnungshüter mein zukunftserhellendes Tun abrupt unterbrach, um mich sodann meinen Eltern und einem siebentägigen Stubenarrest zu übergeben. Mein Vater war im Grunde seines Herzens ein Krieger. Und obwohl zu Beginn der neuen Epoche jedes Mannes Hand abfaulen sollte, der je wieder ein Gewehr in die Hand nahm, stimmte er in der Heldenfrage mehr mit dem Ordnungshüter überein. So absolvierte ich meine erste Haftstrafe.
Heutzutage dominieren allerorten wieder die Krieger. Pazifisten sind wahrscheinlich keine richtigen Männer. Und heute steht übrigens noch mehr drauf, idiotische Denkmäler zu stürzen.
Natürlich wirst du einwenden, dass das alles kindlich-kindische Instinkthandlungen waren und ich noch gar keine pazifistischen Überzeugungen haben konnte.
Sicher, es wirkt immer etwas kindisch, gegen Windmühlen zu kämpfen. Das Leben zeigt jedoch, dass es manchmal darauf ankommt, gefühlsmäßig zur richtigen Zeit das Richtige zu tun. Erst hinterher liefern wir eine verstandesmäßige Erklärung, die oft wie eine Entschuldigung anmutet.
Viel Zeit hast du meistens nicht, wenn du handeln sollst. Aber wieviel unnötige Zeit wird verschwendet, um zu begründen, wie notwendig es war, das Falsche oder nichts zu tun. Und wieviel zu beweisen, dass das Richtige nicht in unsere vorgefasste Meinung passt.
Sind wir wirklich weiter als die Kinder?
Meinen Versuchen, bereits frühzeitig den rechten Weg zu finden, wurde also zunächst ein Riegel vorgeschoben. Nicht zuletzt dadurch, dass im Herbst des Jahres 1952 meine sozialistischer Bildungsweg begann.
Anfangs der fünfziger Jahre wussten nur ganz wenige Leute, was dies bedeutete. Meine Eltern, ein Teil meiner Lehrer und natürlich ich wussten es noch nicht so recht...