Читать книгу Nachtmahre - Christian Friedrich Schultze - Страница 15
4. Kapitel
ОглавлениеIch klingelte dem Kellner, um ihm das Tablett mit den Resten des Frühstücks übergeben zu können. Es dauerte nicht lange, bis er erschien.
Ich gab ihm ein mittleres Trinkgeld, worauf er mich etwas verdutzt ansah, sich aber dann eiligst bedankte und auf meine entsprechende Geste verschwand. Von einem DDR-Menschen hatte er das offensichtlich nicht erwartet. Warum sollten wir wohl auch Trinkgelder verteilen und wovon? Seit Jahren zog man uns unsere Brüder und Schwestern aus dem krisengeschüttelten kapitalistischen Deutschland mit der harten Mark vor und ließ uns manchmal förmlich stehen, wenn wir auf die Frage „DDR oder deutsch“ wahrheitsgemäß antworteten.
Uns Dienstreisenden ging es dabei noch verhältnismäßig gut. Wir wurden vorwiegend von unseren Partnerbetrieben betreut und brauchten selbst kein Geld oder aber viel weniger für Übernachtung, Verpflegung und kulturelle Genüsse auszugeben. Als Tourist musst du es heute einmal im verbündeten Ausland versuchen!
Da kannst du ausprobieren, wie du mit hundertfünfzig Forint pro Tag ein Zimmer für hundertachtzig Forint bezahlst, dich gleichzeitig ernährst und die Kosten für die öffentlichen Verkehrsmittel begleichst.
Ausnahmen bildeten die Polen und die Sowjetfreunde. Bis 1980 hat ihre sprichwörtliche östliche Gastfreundschaft uns gegenüber gehalten. Inzwischen ist auch das Vergangenheit. Der sozialistische Mensch hat es nun noch schwerer zueinander zu kommen.
Ich zog mich an, schaffte etwas Ordnung und schloss alles so gut es ging weg. Als ich das Hotel verließ, war es bereits nach zehn. Ein warmer, blauer Augusttag wallte mir entgegen. Im Hotel war es angenehm kühl gewesen. Anscheinend betrieb man da wirklich eine Klimaanlage. Trotz Energiekrise. Überhaupt erschien es mir, dass die Ungarn die einzigen im „Sozialistischen Lager“ waren, denen es gelang, die weltweite Rezession einigermaßen abzufangen. War das überhaupt noch Sozialismus, was die mit ihren Kommanditgesellschaften machten? Oder war es so ERST Sozialismus?
Anfangs blendete mich die Sonne. Es war noch Zeit. Ich beschloss, einen gemächlichen Spaziergang über den Burgberg zu machen, um meinen übernächtigten Kopf ein wenig auszulüften. Wenn es mir zuviel werden sollte, konnte ich immer noch einen Bus oder ein Taxi nehmen.
An der Zahnradbahn stauten sich bereits zahlreiche Menschen, die zum Volkspark hinauf oder wer weiß wohin wollten. Es war allerhand Betrieb, ein buntes Treiben.
Ich überquerte die Szilágyi Erzsébet fasor, um in den Varosmajor-Park zu gelangen, einem hübschen kleinen grünen Flecken nahe beim Hotel, den ich in Richtung Attila út durchschlenderte.
Von der Ecke an der Vermezö-Straße konnte ich gemütlich den Burgberg zur Fischerbastei emporsteigen, um dort irgendwo in aller Ruhe noch einen Kaffee zu trinken.
Auf dem Plateau angekommen, wandte ich mich der Fischerbastei zu, wo ich in der oberen Etage des Türmchens direkt hinter der Matthiaskirche ein kleines Café wusste.
Kaffeetrinken in Budapest macht Spass!
Erstens braut man hier die unterschiedlichsten Sorten dieses Türkentrankes und zweitens lassen sie dich mit einer Tasse Mokka und einem Glas Wasser, wenn du willst, stundenlang in ungestörter Ruhe, um dann aber auf Augenaufschlag umgehend zu erscheinen und deine Wünsche zu erfüllen. Alles, trotz der für uns DDR-Deutsche ungewohnten Zuvorkommenheit und Promptheit der Bedienung, ruhig und gelassen.
Drittens gibt es noch tausenderlei Gebäck, Törtchen, Küchelchen, Häppchen, Sticks, Eisbömbchen, Halbgefrorenes, Sahnequäntchen, Geschnetzeltes, so dass einem vor Trauer darüber, dass man trotz verantwortungslosester Sündhaftigkeit beim besten Willen niemals alles ausprobieren kann, schier das Herz brechen möchte.
Ich hatte mich so günstig wie möglich hingesetzt, so dass ich in der einen Richtung über die Donau hinweg Richtung Pest schauen, in der anderen, halbrechten, aber auch das unruhige Treiben der Touristen beobachten konnte, die Bus für Bus auf dem Burgberg eintrafen, um sich durch die Matthiaskirche mit ihren unzähligen Sehenswürdigkeiten und anschließend meist noch zu einem begrenzten Streifzug durch das weitläufige Burggelände treiben zu lassen.
Schräg gegenüber, am anderen, dem Pester Ufer der Donau, lag das altehrwürdige Parlamentsgebäude, etwas weiter flussabwärts das älteste der zahlreichen neuen Touristenhotels, das „Duna“. Um die Margareteninsel sehen zu können, hätte ich allerdings aufstehen und ein wenig um die Balustrade des Türmchens herumgehen müssen. Ich blieb aber lieber sitzen und beobachtete den Schiffsverkehr auf der und den Autoverkehr über die Donau.
Schon vor einigen Jahren hatte ich einmal an einer kleinen Ausflugsfahrt, die durch die innere Stadt und um die Margareteninsel herumgeführt hatte, teilgenommen und war beeindruckt gewesen von der freundlichen Anlage, der Ehrwürdigkeit und der frischen Lebendigkeit dieser Metropole...
Glasperlenkettengleich strömte es über die Brücken der Stadt, besonders über die nahe Lanchid, die alte Kettenbrücke, nach der ein berühmter Kognak benannt ist. Und über allem strahlte ein hellblauer Himmel und schien eine heiße Sommersonne. Das war ein Augenblick der Zufriedenheit, ein Moment der Schönheit.
Ich ließ mir ein wenig die Sonne ins Gesicht brennen. Eine Steigerung des Wohlbefindens wäre wohl nur noch in einem der zahlreichen Thermalbäder möglich gewesen.
Was für eine herrliche Stadt ist das, dachte ich. Sie gibt einem den Eindruck von Unversehrtheit, Geschichtsträchtigem, Tradition und dennoch von Leben und Moderne. Und trotz ihrer großen Betriebsamkeit wirkt sie niemals hektisch, wie andere Großstädte.
Selbstverständlich ist sie nicht wirklich unverletzt geblieben in ihrem langen Leben. Das letzte Mal wurde sie 1956 während des Aufstandes ziemlich stark lädiert. Auch im Zweiten Weltkrieg war vieles zerstört worden. Aber wohl doch nicht so grausam und gründlich wie bei vielen ihrer europäische Schwestern.
Am Königsschloss baut man allerdings heute noch.
Diese Stadt muss man lieben, dachte ich.
Es ist eine der schönsten, die ich kenne.
Nur, was kenne ich schon? Moskau, Leningrad, Warschau? Überhaupt eine Reihe polnischer Städte. Prag auch, Bukarest, Sofia?
Manche jedoch nur oberflächlich.
Und Berlin. Ach ja, Berlin...
Wie viele berühmte Städte unseres alten Abendlandes sah ich dagegen noch nicht! Westberlin zum Beispiel...
Sagen wir: München, Wien, Paris, London, Rom, Venedig oder das vielgepriesene Lissabon. Okay, man kann nicht die ganze Welt kennen wollen. Man kann niemals alle Musik hören, die gemacht wurde. Für all das würde ein Menschenleben nicht ausreichen, das war klar.
Trotzdem, Robert kannte nicht nur Europa, auch Istanbul oder Athen, Kairo, New York zum Beispiel. Und er ist jünger als ich.
Budapest gefällt mir. Bis auf eines. Die Leute, die zu verantworten haben, dass direkt neben die Matthiaskirche dieses Hotel gesetzt wurde, sollten unter Tage geschickt werden. Das kannst du ihnen ausrichten!
Es wurde Zeit für mich.
Ich bezahlte und suchte mir ein Taxi. Ich wurde ein wenig aufgeregt. Würde alles klappen?
Der Taxifahrer fuhr schnell und sicher. Er jagte seinen Wolga die Attila hinunter und über die Elisabethbrücke in die Rakoczi hinein. Hier ging es wesentlich langsamer voran, weil gewaltige Mengen Menschen und Autos auf den Straßen waren. Mir fiel auf, dass man kaum Polizei sah. Und nur wenige Verkehrsschilder. Das Straßenleben regelte sich irgendwie individueller, weniger reglementiert, schien es, aber dafür zuvorkommender, gelassener. Oder etwa charmanter?
Wir hielten kurz hinter dem „Astoria“. Ich bezahlte, stieg aus und gelangte durch den Straßentunnel, der zur Metrostation führt, direkt ins Hotel.
Es war noch nicht ganz ein Uhr.
Noch eine Viertelstunde!
Ich marschierte durch die Eingangshalle. Einmal, zweimal; er war nicht da.
Ich setzte mich in ein riesiges grünes Ledersofa schräg gegenüber der Hallenbar, so, dass ich die große Pendeltür im Auge hatte.
Ich wartete.
Zu lesen nahm ich mir nichts, dazu war ich zu nervös.
Ich suchte mir ein Pärchen an der Bar aus. Es dauerte eine Weile, ehe ich die schönste Frau entdeckt hatte. Der Kerl neben ihr war wesentlich älter und wenig attraktiv, besaß aber eine ausgezeichnete Garderobe. Offensichtlich konnte er sie sich leisten. Ich stellte mir vor, ich wäre an seiner Stelle.
Was würde er dann über mich denken?
Was Frauen manchmal so für Männer haben, da kann man sich nur wundern. Andererseits staunt man, dass umgekehrt oft gutaussehende Männer ganz unscheinbare Frauen zur Seite haben. Es gibt da eine Menge Geheimnisse, wie mir scheint. Nun, es gab auch wirklich wichtigere Probleme, zugegeben.
Aber es ist ein hübsches Spiel, das ich gern spiele, wenn ich warten muss.
Man wartet oft im Leben, oder? Man sollte es können. So einfach ist das gar nicht.
Ich habe schon oft in meinem Leben gewartet, finde ich.
Auf Frauen zum Beispiel. Besonders auf Frauen.
Aber auch auf Straßenbahnen, Busse, Züge, Flugzeuge. Auf Kellner, Beamte, Vorgesetzte. Auf die Geburt unseres Sohnes, wie hatte ich darauf gewartet! Gewartet, dass er das Sprechen lernte, das Laufen, auf mehr Selbständigkeit, dass er aus Krankenhausaufenthalten entlassen würde, dass er zur Schule kam, dass er anfinge, mich zu verstehen.
Und dann das Warten bei der Armee, Mann, das war, glaube ich, ein einziges Warten auf die Entlassung.
Jeder wartet immer auf irgend etwas, meistens auf sein Glück. Nur auf den Tod wartet keiner. Wieso sollte man auch auf den Tod warten?
Ich wartete jetzt auf meinen Vetter Robert aus München. Aber er kam nicht. Es wurde gleich zwei.
Allmählich bekam ich Hunger. Ich wagte jedoch nicht, ins Restaurant zu gehen, denn wir waren in der Halle verabredet. Für heute, morgen und übermorgen. Jedesmal um ein Uhr. Sicherheitshalber. Wenn er zu diesen Terminen nicht erschien, musste etwas schiefgegangen sein. Das würde ich womöglich ganz schnell oder aber erst nach der Rückkehr in die DDR erfahren.
Ich blieb weiter sitzen. Es wurde drei. Ich war nahe daran, essen zu gehen, da mir bereits der Magen laut zu knurren begann. Dann beschloss ich aber, an der Foyerbar etwas zu trinken und doch noch bis vier Uhr zu bleiben. Anschließend würde ich endgültig verschwinden. Kam er bis dahin nicht, musste ich es morgen wieder versuchen.
Meine Schöne von vorhin war mit ihrem Herrn längst gegangen, und ich hatte mir eine neue aussuchen müssen, um sie beobachten zu können.
Ihre Bewegungen sind für mich das Wichtigste! Die Art, wie sie ein Glas zum Munde führen, wie sie es austrinken, wie sie eine Zigarette halten. Oder ihre Hände, ja die sind ihr Spiegel. Wie sie sich damit das Haar aus dem Gesicht streichen. Und ihre Augen, wie sie damit lächeln, wie sie ihr Gegenüber fixieren. Wie sie ihre Beine präsentieren, wenn sie sie, wie selbstverständlich, übereinanderschlagen. Wie sie mit einer wippenden Bewegung aufstehen und einher schreiten! Wie sie es ertragen, nein genießen, die Aufmerksamkeit der Aufmerksamen auf sich zu ziehen. Da hat jede ihre eigene Meisterschaft.
Wenn man es nicht sähe, brauchte man sie vielleicht gar nicht. Ich meine, mit diesen ganzen Geschichten. Aber wenn sie so an dir vorüber schweben, ergreift dich unwillkürlich diese unglückselige Besitzgier. Die wissen das, glaube mir!
Ich nahm noch einen Martini. Kostete ein Schweinegeld. Ich hatte trotzdem keine Lust, über den bedauerlichen Unterschied des Lebens in einem First-Class-Hotel und in Kambodscha und so weiter nachzudenken.
Ich wollte die Sache mit Robert hinter mich bringen.
Die Ungewissheit zerrte an den Nerven.
Die Warterei strengte an.
Punkt vier erhob ich mich wie von einer bösen Pflicht erlöst, verließ das Astoria und ging die Rakoczi in Richtung Elisabethbrücke hinunter. Die ganze Welt schien hier auf den Beinen zu sein.
Die Brücke vibrierte vom darüber rollenden Verkehr. Das erste Mal, wenn du auf ihr die Donau überquerst, wirst du deswegen erschrecken. Zweifelnd wirst du die mächtigen Stahltrossen beäugen, die kühnen Konstrukteure bewundern und versuchen, dich an die Schwingen zu gewöhnen.
Was sollte ich nun mit dem verkorksten Nachmittag anfangen? Wenn Robert erschienen wäre, hätten wir sicher noch eine Menge zu erledigen gehabt. Die Verabredung mit den Ungarn morgen früh musste auf jeden Fall noch wahrgenommen werden, damit sie nicht etwa in Berlin anriefen und fragten, wo ich denn bliebe.
Das würde bis Mittag dauern, mindestens. Anschließend von ihnen wegzukommen, würde gar nicht so einfach sein. Dafür musste ich mir noch eine glaubhafte Begründung ausdenken. Mit Roberts Auto müssten wir es über Györ bis nach Hegyeshalom schaffen, um gegen sieben Uhr abends die Leute zu treffen, die mich über den Grenzübergang Nickelsdorf nach Österreich hineinbringen sollten.
Wenn alles wie geplant klappte, wollten Robert und ich uns in der Nähe von Lutha wieder vereinen, um gemeinsam über die Wiener Autobahn an Linz und Salzburg vorbei nach München durchzufahren.
Die Österreichischen Behörden waren uns in der Frage der Auslieferung zu unsicher, deshalb hatten wir uns geeinigt, keine Zeit zu verlieren und möglichst schnell nach Bayern zu gelangen. Beim Fahren konnten wir uns abwechseln, Aufenthalte waren keine vorgesehen.
Eine Panne oder etwas Ähnliches durfte uns nicht passieren. Auch das Geld und die richtigen Papiere mussten auf dem Weg nach Hegyeshalom versteckt werden.
Da Robert heute nicht erschienen war, stand wohl bereits einiges in Frage von unseren Plänen. Demnach musste ich morgen mit den Ungarn unbedingt bis Mittag fertig werden, um es bis ein Uhr noch ins Astoria zu schaffen. Meine Eile würde sie sicher verwundern, wenn nicht sogar verärgern, da sie sich stets einiges für meine Betreuung einfallen ließen, was sie bestimmt auch dieses Mal getan hatten. Hoffentlich fiel mir bis dahin noch eine plausible Erklärung ein.
Was aber würde passieren, wenn Robert zu spät am Nachmittag eintraf? Würden wir es dann noch bis zur vereinbarten Zeit packen? Zwar ist die Europastraße 4 eine gute Straße und die Entfernung betrug nur einhundertsiebzig Kilometer. Eine Autobahn ist sie jedoch nicht, und ein gutes Vorwärtskommen war sehr vom Verkehr abhängig.
Würden die österreichischen Bekannten, falls wir sie morgen verpassten, am darauffolgenden Tag nochmals Anlauf nehmen? Und würde das nicht die Aufmerksamkeit der Organe erregen? Robert hatte die Zuverlässigkeit seiner Gewährsleute sehr gelobt. Dennoch konnte eine Menge schiefgehen bei unserem Unternehmen und jede Stunde, die ich hier sitzenblieb, war eine zuviel.
Ich beschloss schließlich, den Gellertberg hinaufzusteigen und den restlichen Nachmittag an der Zitadelle zu verbringen.
Wenn man den sorgfältig kleingepflasterten Zickzackweg zu diesem mächtigen Bauwerk erklimmt, breitet sich zunehmend das imponierende Panorama der Donaustadt unter einem aus. Da sieht man erst richtig, was das für eine stolze Metropole ist.
Und dann bist du endlich oben, umwanderst den Wall und saugst den Rundblick in dich ein, willst ihn nie mehr vergessen. Weit dehnt sich der ‚Blick rechts und links des Stromes bis in den Dunst der Vorstädte hinein. Die Freiheitsstatue hält ihren Palmenzweig, den Friedenszweig, gen Osten!
Symbolik der Erbauer für spätere Zeiten?
Im Osten geht die Sonne auf! Was wird mit dem Abendland?
Es haben sich die Zeiten geändert seit der Befreiung dieser Stadt von der Naziherrschaft am 13. Februar 1945, dem Tag, als eine andere europäische Kulturmetropole völlig zerbombt wurde.
Besonders schön wird es hier oben, wenn die Nacht hereinbricht und die Stadt ihre Lichter anzündet. Von den Budaer Bergen über den breiten Donaustrom mit seinen vielen illuminierten Brücken, die die Hügelstadt mit der Wiesenstadt verbinden, von den Pester Stadtvierteln bis hinunter zur Czebel-Halbinsel glitzert und blinkt das nächtliche Leben empor.
Bis zum Abend war noch Zeit. Der Hunger meldete sich wieder. Ich ging ins Restaurant, um erst einmal richtig zu essen. Die Bewirtung war gut. Eine Zigeunerkapelle spielte. Ich trank zwei Schoppen Roten zum umfangreichen und umständlich servierten Zigeunersteak. Ich geriet in Stimmung. Der Ärger und die Spannung darüber, dass es mit unserem Rendezvous nicht geklappt hatte, waren mit einem Mal wie weggeblasen. Ich bekam Lust, noch eines meiner kleinen Spiele zu spielen, draußen auf den Anlagen, und dann den Bus zu nehmen und in mein Hotel zu fahren.
Ich zahlte und ging hinaus. Ich suchte mir eine, die in Frage kam und folgte ihr möglichst unauffällig, so lange es irgend ging.
In der Touristenmenge war es leicht, eine zu finden. Sie war allein. Das heißt, sie hatte keinen männlichen Begleiter, nur eine Freundin. Das macht die Sache meist wesentlich leichter.
Männer, die gute Frauen zur Seite haben, sind stets etwas misstrauisch gegenüber ihrer Umgebung. Schon deshalb, weil sie ständig die Wirkung ihrer Schönen auf die Umwelt überprüfen müssen, womit sie sich anscheinend die Erfolgserlebnisse verschaffen, die sie so dringend benötigen wie du und ich auch. Das steckt noch so drin aus Urzeiten, dass im Geiste andauernd das Revier abgesteckt wird.
Allerdings kannst du daraus ersehen, dass dieses Verhältnis noch an seinem Anfang ist oder jedenfalls im Stadium des gegenseitigen Interesses. Später werden die Männer in der Regel schlapp, und sie wenden sich anderen Interessensgebieten zu. Sie beginnen, ihre immer noch attraktiven Frauen zu vernachlässigen und verlieren sie dadurch allmählich aus dem Auge.
Dann hast du gute Chancen, noch ein anderes Spiel zu spielen, eines für Erwachsene.
Ich machte mein harmloseres, und wir stiegen am Ende fast gleichzeitig in den Bus. Sie in ihren, ich in meinen, der mich über die Villànyi und die Alkotás zurück zum Varosmajor-Park brachte. Von da aus schlenderte ich gemächlich bis zu meinem Hotel, das ich gegen halb sieben abends wieder betrat.
Ich fuhr sofort hoch in mein Zimmer. Mir war plötzlich klar, dass ich heute nicht wieder in die Ringbar gehen würde, um diese Susza zu treffen, obwohl ich wirklich gerne gewusst hätte, wie es mit uns beiden ging.
Aber jetzt bewegten mich mit einem Mal ganz andere Gedanken, mit denen ich irgendwie erst ins Reine kommen wollte. Ich musste an Lothar denken und seltsamerweise auch an Helga. Ein bisschen auch an Barbara. Offensichtlich musste ich mir wohl allmählich eingestehen, dass der vor mir liegende Schritt schwieriger war, als ich es bisher hatte wahrnehmen wollen. Weshalb begann ich nun wieder, viel zu spät, an der Richtigkeit meiner Entscheidung zu zweifeln? Hatte ich nicht lange genug gezögert? War ich nicht mehrmals völlig am Ende gewesen und wäre am liebsten manchen Tag sofort aufgestanden, wenn dies nur möglich gewesen wäre?
Was war eigentlich los mit mir?
Seit meiner Entscheidung war nun fast ein halbes Jahr vergangen. Einmal musste der Sprung gewagt werden, sonst würde das zermürbende Hin und Her nie ein Ende haben.
Ich sollte mal ausschlafen, dachte ich.
Ich duschte und legte mich aufs Bett. Die gedämpften Geräusche des Hauses hüllten mich ein. Ich starrte gegen die Decke und war bemüht, einzuschlafen. Aber es ging nicht. Mir kam jene Begegnung mit Freund Thomas vom Frühjahr in den Sinn, die kurz nachdem Vater gestorben war, und wir mit Robert den Plan geschmiedet hatten, stattgefunden hatte.
Damals hatte ich versucht, für mich eine neue Basis zu finden, eine Orientierung, auf die ich mein weiteres Leben hätte gründen können. Ich fand, dass ich mich redlich bemüht hatte, aus jener Misere, in die ich geraten war, herauszufinden. War sie nun das Ergebnis meines eigenen Handelns oder der konkreten Lage, in der sich untere sozialistische DDR-Gesellschaft mittlerweile befand? Ich wusste keine Antwort.
Das Sein bestimmt das Bewusstsein! Oder was hatte mich dazu gebracht, meinem sozialistischen Vaterland mit dem lächerlichen Kürzel als Namen, diesem ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat, dem realen Sozialismus, den Rücken kehren zu wollen?