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2. Kapitel 1.
ОглавлениеDas Wetter verlief anders, als es der Wetterbericht vorausgesagt hatte.
Dieser späte März war mehr ein April. Den ganzen Tag hatten sich Schnee- und Regenschauer mit gleissendem, die Landschaft in unwirkliche Klarheit tauchendes Sonnenlicht abgewechselt. Und jetzt versank eine blutrote Sonne hinter den Hügeln, auf denen die Stadt lag.
Für Oberleutnant Wauer wirkte sie an diesem Abend beinahe wie ein Symbol. Er dachte zurück an seine Gymnasialzeit, an die säuerlichen Redewendungen seines Studienrates Beierlein aus Plauen, von denen sich viele lange Zeit als geflügelte Worte unter den Kommilitonen gehalten hatten.
„Im Osten geht die Sonne auf, meine Herren, aber im Westen ist ihr Untergang vorbereitet. Das können sie sich merken.“ Das war während der Inflation gewesen. Beierlein war Hobbysinologe und Sozialdemokrat, unter anderem. Niemand liebte ihn recht, weder Schüler noch Lehrerkollegen. Seine Wertskala lag so völlig verschieden zu der der anderen. Man empfand sein Wesen und seine Anschauungen als zu selbstzerstörerisch.
Aber, so musste sich Wauer in der jüngsten Vergangenheit immer wieder sagen, auf eine eigene schmerzvolle Weise schien Beierlein jetzt recht zu behalten. Seit zwei Jahren deutete sich der Untergang der nationalsozialistischen Sonne als große Wahrscheinlichkeit an.
So hatte es der Studienrat allerdings wohl gar nicht gemeint. Ihm ging es mehr um die Chinesen und die „Gelbe Gefahr“, und so sah er den Untergang der Abendländischen Kultur. Aber wurde der Anfang nicht jetzt gemacht, wenn auch zunächst von den Russen?
Der Oberleutnant war auf dem Weg zu seinem Abteilungschef. Der Major wartete sicher schon, dessen war er gewiss.
Am Nachmittag hatte Wauer befehlsmäßig Verbindung mit den Artilleriebeobachtern der ersten Verteidigungslinie aufgenommen. Die Schusssektoren mussten – zum wievielten Mal eigentlich? – neu aufgeteilt werden, und außerdem waren Einzelheiten über die Informationsmittel bei notwendigen Panzermanövern der 2. Abteilung des 56. Panzerkorps im Raum Neu Tucheband-Hackenow abzusprechen gewesen. Die Artilleristen waren erfahrene, praktische Leute. Es hatte keine größeren Schwierigkeiten gegeben.
Nun wollte der Alte wissen, wie es stand. Er saß in den Bunkern der zweiten Linie, unweit der fünfzehn eingegrabenen Panzer seiner Abteilung.
Wauer ahnte, was ihn erwartete. In diesen Tagen einen Urlaubsantrag zu stellen, grenzte beinahe an Hochverrat.
Hochverrat war es auch, nicht an den Endsieg zu glauben. Das zeigten die zahlreichen Gehenkten entlang der Straße bei seiner Rückfahrt nach Seelow. Es musste schon sehr schlimm stehen, wenn so etwas unter den paar restlichen Zivilisten nötig schien, die hier in der Gegend geblieben waren. Er nahm sich vor, mit seinem Major darüber zu reden.
Der Kübelwagen ratterte in Weinberg ein und verschwand sofort im Unterstand. Mittlerweile war die Sonne hinter den Hügeln versunken. Die Wolken nahmen eine rosaviolette Färbung an und umränderten sich mit einem gleissenden hellen Schein. Wauer brachte die zweihundert Meter bis zum Bunker schnell hinter sich. Es war 16.30 Uhr, als er eintrat.
Er musste sich erst an die Dunkelheit gewöhnen, nachdem die schwere, niedrige Tür ins Schloss gefallen war.
„Oberleutnant Wauer von Gefechtsfeldabstimmung mit Artillerieabteilung vier...“
„Den Rest kannst du dir sparen“, unterbrach ihn der Major. Er war im Dunst des Tabakrauches und im Halbdunkel des von einer kleinen Petroleumlampe nur spärlich erleuchteten Raumes kaum zu erkennen.
„Setz´ dich erst mal hin und erzähl´ in Ruhe, was da vorne los ist“, fuhr er fort.
Dieser Empfang war unerwartet freundlich. Wauer nahm Platz und sah jetzt auch die Flasche mit rotem Burgunder stehen. Er begann sich zu wundern. Was war mit dem Alten los? Was hatte er vom Stab in Wriezen mitgebracht?
„Was soll`s schon geben?“, erwiderte er einigermaßen missmutig. „Die Infanterie hat sich eingegraben, als wollten sie rundherum Krieg führen. Ein MG-Nest am anderen. Alles wunderbar pioniermäßig vermint und verdrahtet. Da findet kaum noch jemand durch. Mittendrin sitzen die B-Stellen der Artillerie, die werden uns über C 3 mitversorgen. Besser kann es also gar nicht sein.“
„Na gut, trinken wir erst mal was“, brummte Mosig und schenkte zwei Gläser voll. Er sah im Moment nicht besonders gepflegt aus, war unrasiert, hohlwangig, mit Ringen unter den Augen. Seine Uniform stand offen, und er rauchte eine schwere Zigarre.
„Wie lange geht heute dein Dienst?“
„Bis 18.00 Uhr.“
„Na, dann ist er ja gleich vorbei. Da können wir uns also einen genehmigen, oder was dagegen?“
Wauer hatte auf dem Tisch ein Bündel Papiere entdeckt, ohne jedoch erkennen zu können, ob diese etwas mit seinem Antrag zu tun hatten. Natürlich war er nicht dagegen, einen mit dem Alten zu heben. Er war froh, dass er so freundlich behandelt wurde.
Den erwarteten Anschiss hätte er mit Sicherheit im Stehen in Empfang nehmen müssen. Offenbar wollte der Major irgend etwas von ihm.
„Mach dir`s bequem, Wauer; nimm `ne Zigarre.
Du bist also der Meinung, dass es gar nicht besser sein könnte. Das ist sehr interessant.“ Dabei dehnte er das „sehr“ ironisch.
„Den Umständen nach, Major, den Umständen nach!“, beeilte sich Wauer einzuschränken.
„Komm, Wauer, wir brauchen uns doch nichts vorzumachen! Wir doch nicht! Das sieht hier elend nach Dünnschiss aus. – Wie lange sind wir nun zusammen?“
„Wird wohl bald drei Jahre sein.“
„Drei Jahre. Ziemlich lange für Kriegszeiten. Manch einer war nur ganz kurz dabei. Lauch, Bröcker, Maschek, alle abgeschossen. Waren prima Kerle. Haben aber Pech gehabt. Und ließen junge Witwen zurück. Wir beide hatten Glück bis jetzt. Erinnerst du dich noch an den Kessel von Brest-Litowsk? Da besonders!“
„Wer könnte das vergessen?“
„Hab ich immer als unfair empfunden, diesen Partisanenkrieg. Damals haben wir sie wenigstens mal erwischt und richtig verhauen. In jener Nacht habe ich dich ziemlich bewundert. Wir kannten uns kaum. Ich war neu zu euch gekommen. Du hast wie ein Fallschirmjäger um dich gehauen. Hätte nie gedacht, dass ein Panzermann so etwas kann.“
„Wir haben`s eben noch richtig gelernt. Die armen Schweine, die später kamen, waren meist nur halb ausgebildet. Kein Wunder, dass sie`s oft nicht lange machten.“
„Seltsam, wie man in diesem Wahnsinnsgeschäft auf solche Dinge wie Menschlichkeit und Opferbereitschaft trifft. Solche Kameradschaft, wie du sie hier findest, gab es im Zivilleben nie. Wer setzt da schon sein Leben für einen anderen auf`s Spiel? Für ein bisschen Wasser vielleicht oder um ihn aus der Linie rauszuholen.
Ist dir übrigens aufgefallen, dass die Besten meist keine Nazis waren?“
„Habe ich, ehrlich gesagt, noch nicht darüber nachgedacht.“ Dass Mosig kein Nazi war, wusste Wauer längst.
„Doch, doch! In der Truppe gibt`s sowieso nicht viele von denen. Die haben alle wichtigere Posten und müssen geschont werden. Allmählich ist eben alles anders geworden in unserem Krieg gegen die Bolschewisten. Wo liegt jetzt noch der Sinn? Was nützte uns unser bürgerlicher Ehrgeiz, den wir vor dem Krieg für das Wichtigste hielten? Du als Ingenieur und ich als Hotelier? Im Krieg verliert alles seinen Sinn. Sogar die Zeit danach.
Hier befehle ich über Arbeiter und Professoren, und sie unterscheiden sich in nichts voneinander. Höchstens, dass es den Herren Studiosi weniger gelingt, zu überleben. Wenn`s mal brennt, gehen sie komischerweise meistens als erste drauf. Ich hab nach alledem nicht mal mehr besonderes Mitleid mit ihnen.“
Wauer schwieg. Er dachte ganz ähnlich.
Sie tranken. Sie rauchten. Sie dachten an zuhause.
Nach einer Weile fing Mosig wieder an.
„Ist dir eigentlich klar, was hier mit uns gespielt wird?“
„Ich glaub` schon“, erwiderte der Oberleutnant.
„Na gut, ich wird dir mal was erzählen. Ich war nämlich heute bis Mittag beim Stab, und es war sehr interessant.“
Er zündete sich eine neue Zigarre an. Wauer lehnte ab. Mosig öffnete eine weitere Flasche, die er unter der Bank, auf der er saß, hervorgezogen hatte.
„Du hast doch bestimmt nur einen Gedanken, mein Lieber: Dass dein Weib in den nächsten Tagen entbindet und dass du zu ihr willst. Aber weißt du, wozu wir uns hier dermaßen eingraben mussten und warum wir unsere Panzer in Artillerie umfunktionieren?“
Er hob wieder das Glas. Er raucht zuviel, dachte Wauer. Irgend etwas wollte der Alte loswerden, das spürte er, obwohl es ihm allmählich an den Nerven zerrte, dass Mosig damit nicht herausrückte.
„Ich denke, dass hier im Oderbruch bald eine wichtige Entscheidung fallen wird“, versuchte er, das Gespräch vorwärts zu bringen.
„Sicher! Genau das, Wauer. Deshalb feiern wir beide auch Abschied. Wäre schließlich schade um meine letzten Bestände, würden sie den Russen in die Hände fallen.“
„Abschied?“, fragte Wauer, leicht verdutzt und ungläubig, da ihm die Zusammenhänge zunächst noch schleierhaft blieben. „Also Wauer, du bekommst einen Sonderbefehl. Urlaub kann dir natürlich jetzt niemand geben. Ab heute mittag ist höchste Alarmbereitschaft. Der Zufall will es, dass der Alte einen Kurier nach Berlin braucht, um einen Koffer von ihm dorthin zu bringen. Offiziell wirst du Verbindungsoffizier für eine neue Sache im Raum Teupitz, falls wir nach der hier noch bis dahin kommen sollten. Ich habe gleich an dich gedacht, und der Alte war einverstanden. Von Teupitz musst du weiter nach Torgau. Wenn du geschickt und schnell bist, kannst du einen kleinen Umweg über Zuhause machen.“
Wauer fühlte sich einen Augenblick lang ganz leicht. Ein Gefühl der Dankbarkeit überwältigte ihn. Auch der Alkohol tat seine Wirkung.
„Ich bin in zehn Tagen urück“, sagte er.
„Quatsch!“, erwiderte der Major. „Du schlägst dich bis Torgau durch. Musst aber vorsichtig sein, da unten sollen bereits die Amis stehen, wie weit genau, weiß ich nicht. Alles weitere steht hier in den Unterlagen. An der Elbe wartest du auf uns. Sollten wir nicht kommen, ist es auch gut. Dann bist du wenigstens näher am Ami.“
„Steht es denn so schlecht um uns hier?“
Mosig sah eine Weile vor sich hin. Er rauchte und trank. Er vertrug mehr als Wauer.
draußen zischte hin und wieder eine Leuchtrakete gen Himmel. Oder es hämmerten ganz weit unten schwache MPi-Salven aus den vordersten Linien bei Reitwein.
„Weißt du“, erwiderte schließlich der Panzer-kommandant, „wir hassen die Bolschewisten beide. Was der Stalin aus den Russen gemacht hat, ist unmenschlich. Aber die überrollen uns; die überrollen uns einfach. Etwas ist bei uns faul. Dieser Meinung ist auch der Alte. Er macht einen mächtig sauren Eindruck.“
„Wie steht es denn wirklich?“, fragte Wauer, inzwischen leicht benebelt.
„Schlecht, verdammt schlecht.Echter Dünnschiss, was wir hier machen müssen. Taktisch gesehen liegen wir natürlich ganz gut, aber das wird uns nichts mehr nützen.
Schicklgruber hat bis Berlin noch etwa eine Million Mann zusammengekratzt und sich in verschiedenen Staffeln eingraben lassen, sagt der Alte. Wir haben jedoch viel zu wenig Material und Munition.
Mir ist völlig unklar, wieso wir den Iwan aus seinen zwei Brückenköpfen bei Reitwein und Kienitz nicht längst wieder rausgeschmissen haben. Stattdessen lassen wir ihn in aller Ruhe aufmarschieren. Hier, zwischen Wriezen und Lebus, liegen wir mit etwa hunderttausend Mann fünfhunderttausend Russen gegenüber. Seit Wochen haben wir nichts gemacht. Flugzeuge scheint es auf unserer Seite überhaupt keine mehr zu geben. Der Küstriner Kessel ist inzwischen auch dicht.
Der Alte sagt, dass der Russe den Fall der Festung schon am 5. März gemeldet hat. Reinefahrt funkt aber immer noch aus der Zitadelle, behauptet, er habe noch viertausend Mann beste Waffen-SS und genügend Material. Er hofft, dass wir ihm helfen, eine Gasse freizuhaun. Machen wir aber nicht, sagt der Alte.“
Müller, der Adjudant Mosigs, unterbrach die beiden und meldete den Offizier vom Dienst.
„Soll reinkommen!“, brummte Mosig.
Der OvD meldete. Er hob dabei die Hand nicht zum deutschen Gruß, was der Major wiederum zu übersehen schien. Dem OvD war anzumerken, dass ihn das Gelage, welches er sah, nicht gerade fröhlicher stimmte. Vielleicht hatte sich auch etwas von Wauers Auftrag herumgesprochen.
„Ist also alles klar, Kunze?“, knurrte der Major.
„Jawohl, Herr Major. Nachtplan A und B mit x plus 15 beziehungsweise x plus 5 eingewiesen. Nächste Vierundzwanzigstundenwache ab 20.00 Uhr eingeteilt. Telefon- und Funkverbindungen stehen. Wir brauchen noch die Parole.“
„Sind die Panzer besser eingegraben und die Schussbereiche ordentlich verteilt? Ich habe heute Nachmittag einige Schlampereien gesehen und den Männern gesagt, sie sollen das ändern. Ihr denkt wohl, wenn`s losgeht, müssen wir nur nach vorne schießen? Wenn der Iwan erst mal in den Gräben ist, wird ohne Rücksicht nach allen Seiten geballert. Die schaffen`s in die zweite Linie, darauf können sie sich verlassen! Und trainieren sie mit den Fahrern im Geist noch mal das Rausrücken! Das müssen die auf Anforderung im Schlaf können. Wenn wir abhauen, muss alles fünfhundertprozentig klappen. Wer nicht mitkommt, ist dann selbst schuld.
In einer Stunde bekomme ich dazu ihre Vollzugsmeldung. Danach sollen die Leute schlafen. Geben sie etwas zu trinken aus, aber nicht zuviel.
Ist was zu essen gemacht worden?“
„Jawohl, Herr Major!“
Mosig nannte jetzt die Parole.
„So, dann können sie abtreten, Kunze, aber leise, bitte.“
Leutnant Kunze entfernte sich, nicht ohne Wauer noch einen missbilligenden Blick zuzuwerfen.
„Müller!“, brüllte Mosig, damit der Adjudant ihn hinter der geschlossenen Tür hören konnte. „Machen sie mir `ne Verbindung zum Alten für meine Meldung. Und bringen sie eine von den beiden letzten Flaschen, sie wissen schon!“
Müller brachte umgehend das Gewünschte. Es war amerikanischer Whisky. Eine erstaunliche Tatsache in dieser Lage. Der Major äußerte sich jedoch nicht weiter über Herkunft und Umstände.
„Leider können sie heute nichts abbekommen, Müller“, sagte er. „Einer von uns beiden muss diese Nacht einen klaren Kopf behalten. Sie kriegen morgen etwas von der letzten. Und jetzt machen sie schleunigst die Verbindung zum Oberst, der wird bereits warten.“
Müller verschwand im Nebenraum
„Wo war`n wir stehengeblieben?“, fragte Mosig.
„Bei Reinefahrt.“
„Ja, den lässt man jetzt fallen. Aber der Alte hat mir heute noch was viel Wichtigeres gesagt. Er und die vom Stab glauben, der Gefreite will hier lediglich Zeit gewinnen und hofft, dass der Iwan sich an uns nochmal den Kopf richtig einrennt. Aus dem Süden wollen sie angeblich sogar Nachschub heranbringen, um dann die Russen, wenn sie sich hier ausgeblutet haben, anschließend einzukreisen und fertigzumachen. Der Alte ist dagegen überzeugt, dass das gar nicht mehr geht. Der Iwan ist viel zu breit aufgezogen. Südlich von Lebus hat er nämlich schon fast die Ukrainischen Fronttruppen heran, wenn die Informationen der Aufklärung stimmen. Und nördlich von Küstrin ist bis Stettin eine neu formierte polnische Armee mit dabei. Mit einer einzigen Armee diesem ganzen Ansturm standzuhalten, ist völlig unmöglich, meinen die vom Stab. Der Oberst glaubt, dass die in Berlin in Wirklichkeit darauf setzen, dass der Russe mit dem Angriff noch wartet, um eine genügende materielle Überlegenheit zu erreichen. So wollen sie Zeit gewinnen. Und weißt du, wofür? Um mit den Amis ins Geschäft zu kommen!
Denen setzen wir immer weniger entgegen. Weißt du, was das heißt? Nichts anderes, als dass wir hier verheizt werden sollen. Denn der Befehl lautet, Kampf bis zur letzten Patrone. Wieder einmal!
Der Alte ist stocksauer. Ich glaube, er hat irgendwas vor, aber er sagt nichts. Vielleicht will er im richtigen Zeitpunkt hier raus mit uns. Möglicherweise hat dein Befehl damit etwas zu tun.
Man schimpft übrigens schon ziemlich offen auf die in Berlin. Ich glaub` nicht, dass aus dem Handel mit den Amerikanern etwas wird. Die sind im Westen trotz allem ziemlich konsequent. Und wieso haben sie im Februar Dresden kaputtgemacht? Das passt alles irgendwie nicht zusammen.“
Müller meldete endlich die Verbindung zum Oberst. Der Major ging hinüber. Sein Gang wirkte schwerfällig. Wauer wunderte sich, dass er im Gegensatz dazu kaum Hemmungen seines Redeflusses erkennen ließ. Er selbst spürte jedenfalls die Wirkung des Alkohols jetzt deutlich. Immer noch hatte er das Gefühl, dass Mosig etwas ganz bestimmtes von ihm wollte. Hoffentlich rückte er bald damit heraus, bevor im Alkoholdusel alles unterging.
Als Mosig wiederkam, wirkte er einen Schein blasser als vorher. Auch nüchterner. Er setzte sich und rauchte erneut eine Zigarre an.
„Ist was passiert?“, fragte Wauer.
„Wenn ich den Alten richtig verstanden habe, ja. Er machte allerdings nur Andeutungen. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Aber es scheint, Reinefahrt will nicht länger warten und morgen versuchen, zu uns herüberzukommen. Er will Hilfe, aber man lässt ihn alleine machen, um nichts unnötig in Bewegung zu bringen. Eine Sauerei ist das alles, man könnte glatt verrückt werden.“
Er goss Whisky nach. Sie tranken weiter.
„Könnten wir denn überhaupt etwas machen?“
„Haben doch alle keine Lust mehr und sind froh über jeden Tag, an dem es nicht kracht. Aber das ist es ja gerade! Weißt du, wie viele sich jedesmal sinnlos zusammenschießen lassen mussten, weil die schnell ernannte Festung unter allen Umständen gehalten werden sollte? Oder glaubt dieser Verrückte, dass es den Russen etwas ausmacht, tagelang Trommelfeuer zu schießen? Die Alliierten pumpen über Wladiwostock und was weiß ich noch wo überall soviel Material nach, wie das ganze Reich in einem Jahr nicht mehr zusammenbringen könnte. Oder wie denkst du darüber?“
Wauer erzählte von seinem Erlebnis am Nachmittag, von der Straße der Gehenkten zwischen Neutucheband und Weinberg. „Ich denke, dass es nur rückwärts gegangen ist, seit der Führer das Oberkommando selbst übernommen hat.“
„Und das in doppeltem Sinne. Erst kam der idiotische römische Gruß, und dann haben wir beim Rückzug gesehen, was die ss inzwischen im Hinterland getrieben hatte, während vorn unsere besten Kameraden draufgegangen sind.
Das haben doch nicht nur wir gesehen! Ist das, was darauf folgte, noch ein Wunder? Ich staune nur, dass die Wehrmachtsführung sich das alles so gefallen lässt und die ganze Clique nicht längst zum Teufel geschickt hat.“
„Die sind eben so wie wir“, sagte Mosig und lächelte dabei sauer.
„Wie denn; wie sind wir denn?“
„Getreu dem Fahneneid und einig mit den Brüdern in unserer Angst vor dem Bolschewismus.“
Wauer schwieg. Irgendwie hatte der Alte den Nagel auf den Kopf getroffen.
„Ja, so ist das, Kamerad“, für Mosig fort. „Aber jene gewinnen. Und wir sollten allmählich daran denken, was wir machen, wenn der Russe uns hier überrollt hat.“
„Wenn wir dann noch leben“, warf Wauer ein.
„Du schon, weil du übermorgen auf Sondermission gehst. Das heißt, wenn es nicht gerade vorher losgeht.
Auf dem Rückweg habe ich dem Alten eine Bitte von mir vorgetragen. Er fuhr ein Stück mit, um sich irgendwas in Neutrebbin selber anzusehen, das ergab sich so. Er selbst suchte auch jemanden Zuverlässigen, der ihm ein paar persönliche Sachen nach Berlin schafft, um sie seiner Frau zu übergeben. Die Bombenangriffe werden dort übrigens jeden Tag schlimmer, und es soll schon sehr viel kaputt sein. Die Papiere hatte er schon fertig. Wir brauchten nur noch deinen Namen einzusetzen. Wie findest du das?“
Wauer schwieg und sah den Major an.
„Du nimmst Verbindung mit Teilen des elften Panzerkorps auf, die irgendwo südlich von Berlin zusammengezogen wurden. Mit denen sollen wir uns verbinden, wenn wir den Befehl kriegen, hier abzuhaun. Du sucht dort einen Major Kneip, dem übergibst du die Papiere. Und dann gehst du in Richtung Torgau, wie ich es dir gesagt habe.
Der Alte denkt, dass es innerhalb der ersten zehn Tage des April hier losgehen wird. Allzulange kann der Russe nämlich nicht mehr warten, sonst ist der Ami eher in Berlin als er. Wenn wir uns fünf Tage hier halten und dann nochmal fünf Tage brauchen, um südlich an Berlin vorbei in Richtung Elbe zu kommen, kannst du uns um den fünfzehnten herum in der Nähe Torgaus erwarten. Du hast also allerhand Zeit.“
„Warum machst du das alles?“
„Menschenskind, weil auch ich wider alle Vernunft auf ein DANACH hoffe! Ich will mir alle Mühe geben, um das hier zu überleben. Aber wenn das nicht klappen sollte, sind für diesen Fall noch ein paar Dinge zu regeln, und dazu brauche ich deine Hilfe ebenfalls.
Was du nämlich noch nicht weißt, ist, dass meine Frau jetzt in Zittau im Haus meiner Eltern wohnt. Und die Mutter deiner Frau lebt doch in Oybin, stimmt`s?“
„Ja, woher weißt du das?“
„Hast du mal erwähnt, als du über deinen letzten Urlaub sprachst, und ich hab`s mir gemerkt. Deshalb kam mir vor ein paar Tagen die Idee, dass deine Frau, wenn da Kind erst da ist, doch mal zu ihrer Mutter nach Oybin fahren wird. Ich gebe dir auf deine Reise ein paar persönliche Dinge von mir und einen Brief mit. Was hältst du davon?“
„Das ist gut, das lässt sich machen. Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.“
„Weiß ich, Karl.“
Der Major hatte Wauer das erste Mal beim Vornamen genannt.
Die Männer sahen sich schweigend an.
„Hoffentlich kann ich alles schleppen, und es geht nichts verloren“, sagte der Oberleutnant.
„Na, so viel ist es nicht. Ist ja schon genug verlorengegangen auf dem Rückzug. Genaugenommen kommt`s darauf auch gar nicht mehr an. Mach dir übrigens nichts draus, dass du hier nicht dabeisein wirst. Auch wenn einige Kameraden sauer sein werden. Denk an das Kind und ein bisschen an die Zukunft! So, und jetzt nehmen wir noch einen Letzten auf die hoffentlich glückliche Geburt deines Nachwuchses. Auf dass es ein Junge werde!
Warte mal, wann hast du ihn überhaupt gemacht?“
„Na, wann schon: Vorigen Sommer, nach meiner letzten Verwundung, als ich auf Genesung in Berchtesgaden war“, erwiderte Wauer.
„Also gut. Hau jetzt ab!“
Die beiden Männer standen auf. Einen Moment verharrten sie, sich in die Augen sehend. Plötzlich umarmte der Major den Oberleutnant und schlug ihm mehrmals kräftig auf den Rücken. Wauer spürte Mosigs Bartstoppeln auf seiner tadellos rasierten Wange. Als er sein Gesicht zurückzog, schienen ihm die Ringe unter den Augen des Alten noch dunkler, fast schwarz.
Der Abschied war schwer, aber sie weinten nicht. Tränen hatten sie nach alledem längst nicht mehr.
Wauer machte kurz kehrt und verließ schnell den Unterstand, um in seine Stellung zu gehen. Die frische, kühle Abendluft schlug ihm entgegen. Es war nun ganz dunkel. Auf dem Weg begegnete er Leutnant Kunze, dessen mürrischer Blick ihn traf.
Der Himmel war sternklar. Es war sehr stell ringsum. Nur von ganz weit, jenseits der Oder, drang undeutliches Motorengebrumm herauf. Die Russen führten im Schutz der Nacht weiteres Material heran. So ging das nun seit Wochen.
Wie lange noch...
Die Hügelkette der Endmoränen bei Reitwein hob sich schwarz gegen den dunkelblauen Nichthimmel. Dahinter begann das Tal der Oder, dem letzten Strom, der die bereits tief eingedrungen sowjetischen Völker vom Herzen Deutschlands trennte.