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5. Kapitel 1.

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Wir saßen im backsteinroten Hotel „Zur Lausche“ in Waltersdorf im Zittauer Gebirge, unten im Restaurant. Allmählich kannte man mich da.

Es war ein Freitag im Mai 1982.

Erst am Tag vorher hatte ich mich, von einer andauernden Unruhe getrieben, zu jenem Blitzbesuch entschlossen, von dem ich hoffte, dass er eine Klärung bringen könnte. Ich hatte telefoniert und auch mein altes Quartier bekommen. Danach hatte ich Thomas angerufen, der ein wenig knurrte wegen des Überfalls und war dann am nächsten Tag mittags losgefahren. In Zittau hatte ich bei Annemarie noch Kaffee getrunken und versucht, sie etwas zu besänftigen. Dann holte ich Thomas aus seinem Krankenhaus ab.

Wir hatten unser Zimmer bereits bezogen und uns noch etwas frisch gemacht. Nun, da der Tag zur Neige ging, aßen wir gut und billig und spürten wegen des Bieres eine gewisse Erschlaffung.

Es war ein warmer, sonniger Maientag gewesen, und ich beglückwünschte mich zu dem schnellen Entschluss, dem hitzeflimmernden Betoneinerlei der Hauptstadt entflohen zu sein. Der Mai in diesem Jahr war besonders heiß, sagte man überall.

Ich versuchte Thomas zu erklären, was mit mir los war. Ich brauchte jetzt jemanden, dem ich meine Nöte anvertrauen konnte und dessen Urteil für mich Wert hatte. Seit dem Gespräch mit Robert an dem Tag, an dem wir Vater beerdigten, nagte der Gedanke in mir, dass die Lösung meiner Probleme in Roberts Angebot liegen könne und mir lediglich der Mut fehlte, dieser ummauerten Enklave zu entfliehen.

Als ich mich gewissermassen erst einmal ein wenig ausgeheult hatte, sah mich Thomas einen Moment lang recht eigentümlich an. Sein Blick war eine Mischung aus Verdutztheit, Spott und Mitleid, als er sagte:

„Das kann man natürlich auch alles ganz anders sehen, mein Lieber.“

Natürlich, man kann alles von allen möglichen Seiten sehen. Nur, eine muss doch die richtige sein, oder?

Thomas Deutscher ist mein Freund seit vielen Jahren.

Seit wann eigentlich? Genau weiß ich es nicht mehr. Es muss zu einem der Faschingsbälle gewesen sein, die die Zittauer Penne damals alljährlich veranstaltete. Das war so eine Sitte, und der Oberschulkarneval etwa genauso berühmt, wie das für die gesamte Umgebung bedeutende Großschönauer „SCHISSN“. Wer weiß, ob es das heute noch gibt?

Alle Ehemaligen wurden zu diesem Ereignis eingeladen. Ich war allerdings kein „Ehemaliger“. Aber ich war mehrere Jahre zur Abendoberschule gegangen, und daher kannte ich einige. Auch solche, die von der Großschönauer Schule stammten oder aus dem Sportverein. Außerdem gab es stets Mädchen, für die man sich interessierte. Also ließ ich mir Karten besorgen. Drei oder vier Jahre hintereinander ging ich hin, dann verlor ich das Interesse, aus Gründen, wie du noch sehen wirst.

Thomas war zu der Zeit einer der führenden Leute dort. Zusammen mit einigen anderen wie Schmitti und Tomzy, die die Grössten in Physik und Mathe waren, was sie später auch studierten. Schmitti sogar in Leningrad. Oder wie Charlie, der weniger wegen seiner schulischen Leistungen berühmt war, sondern wegen seiner Band, in der er der Leader und Pianist war und die seinerzeit für Aufsehen sorgte.

Das weiß heute anscheinend auch keiner mehr, wie schwer es damals war, unter den Augen der stalinistisch denkenden und fühlenden Obrigkeit und unter Einhaltung der AWA-Vorschriften den begehrten Rock`n Roll, den Twist und die neue POPMUSIK der Beatles in unsere Tanzsäle zu bringen. Wer erinnert sich noch dieser Revolution?

Die Schulbands waren ihre Avantgarde. Wie oft bekamen sie Spielverbot! Wir aber standen hinter ihnen, fochten ihren Kampf mit, versuchten es, über die FDJ-Leitungen zu drehen, hatten endlich etwas, womit wir die Etablierten reizen konnten. Wie trostlos ist es, wenn einem alles erlaubt ist, wie den heutigen, besonders drüben!

Die Orthodoxen von der FDJ-Leitung standen bald auf verlorenem Posten, bis auch sie nachgaben, wenn auch erst nach Jahren und als die OBEN es erlaubt hatten.

Ich erinnere mich an klare, kalte Winternächte mit viel Schnee und Myriarden von Sternen. An Heimwege mit der Clique und Tanzabende in dunkelblauweißen Schneemondnächten mit anschließenden Schmusepartys bei sturmfreien Arzttöchterleins. Thomas wirkte schon damals reifer und weiter als wir alle. Er blieb ruhig und reserviert, strahlte aber eine gewisse Arroganz aus, die uns jedoch eher anzog als abstieß. Besonders natürlich die Mädchen.

Ging es um Philosophie oder Theologie, dann machte er plötzlich mit. Wir führten endlose Diskussionen und waren begeistert von unseren intelligenten Disputen. Damals war uns das meiste viel klarer als heute.

Über Weibergeschichten redete Thomas nie, ganz im Gegensatz zu uns anderen. Ich glaube, er wusste zu der Zeit so ziemlich als einziger von uns richtig, wie es lang ging.

Damals spannte er mir eine meiner platonischen Freundinnen aus und hielt dann eine ganze Weile zu ihr. Ich begriff, dass er sie zur Frau machte und sie mich nun als ziemlichen Idioten ansehen musste. Anfangs war es wohl eine recht einseitige Geschichte. Ich brauchte ihn, lernte von seiner Art, die Dinge zu durchdringen und an den wunden Punkt zu gelangen. Ich wollte ihn, er ließ es sich gefallen. Es war seine angeborene Gabe des lateralen Denkens, die mich immer wieder verblüffte und mich anzog. Sie half mir oft, die Dinge von der rentableren Seite her anzugehen.

Später dann, als die schönen und unbeschwerten Jahre vorbei waren, er in Berlin Medizin studierte und wir uns nur noch selten sahen, begann unsere dauerhafte Freundschaft, die mir viel wert ist, auch wenn wir mit den Jahren große Unterschiede in unseren Weltanschauungen hergestellt haben. Er hielt mit seiner Wahrheit nie hinter dem Berg und legte einen meist erfolgreich bloß. Manchmal braucht man so etwas, auch wenn es nicht gerade angenehm ist; seltsam.

So entsprach es nur seiner alten Gewohnheit festzustellen, dass man meine Probleme auch ganz anders sehen könne.

Anders ja, aber was war richtig für mich?

„Streitet doch niemand ab“, erwiderte ich. „Nur ob wir zwei beiden die objektive Wahrheit herausfinden, ist eben die Frage. Jedenfalls muss ich mir jetzt langsam klar werden, was ich mache.“

„Was ist Wahrheit?“ meinte er, ein uraltes Bibelwort zitierend. „Und was ist kaputt bei dir? Nur das Gemäuer oder sind es bereits die Fundamente?“

„Wer sagt dir denn, dass ich in alten Löchern graben will? Ich will was vollkommen Neues machen, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Das ist der Irrtum, den alle begehen. Sie glauben, aus ihrem Schatten springen zu können.“

„Besteht nicht darin der Sinn des Lebens, im unentwegten Versuch, über den eigenen Schatten zu springen?“

„Wollen und können ist ein gewaltiger Unterschied. Die meisten vergeuden mit solcherlei Übungen nur ihre Zeit, mit der sie was Nützlicheres anfangen könnten.“

„Das ist ja gut“, ereiferte ich mich, „lassen wir`s also lieber gleich bleiben und den Dingen ihren Lauf! He, Alter, bist du müde geworden oder faul, etwas Neues anzufangen, gelegentlich?“

„Ich denke, heute geht`s um dich??“

„Na gut, ich hab mein Problem. Aber wie sollst du mir helfen, wenn du nicht verstehst, wenn du überhaupt nicht so empfindest?“

„Ich hab was dagegen, wenn versucht wird, Mauern umzurennen, wenn man drübersteigen kann.“

„Aber das ist doch genau, was ich will! Es hat gar keinen Zweck, gegen all diese Mauern zu rennen. Da geht man nur kaputt dabei, manche früher, andere später.“

„Wir reden aneinander vorbei, leider. Was dich betrifft, ist es der alte Traum vom Fliegen, der dich erfasst hat. Jeder träumt ihn mal, bis er bemerkt, dass er nicht dafür geschaffen ist. Wir sind anders determiniert, mein Freund. Lässt du mal alles Drumherum weg, bleibt die Pflicht, deine Pflicht zu erfüllen, übrig. Vorausgesetzt, du erkennst endlich, worin sie besteht. Wenn es gut gewesen ist, dein Leben, dann ist es Mühe und Arbeit gewesen, glaub`s endlich!“

„Solltest du wirklich nicht sehen, in welch ausweglose Lage manche gedrängt werden; wie sinnlos es für viele geworden ist? Ich gebe meinen Traum von etwas Besserem nicht auf. Auch Männer, die ihre Pflicht erfüllten, haben ihren Flug gehabt, und die Welt spricht mit Bewunderung von ihnen. Es kann doch nicht falsch sein, aus diesem mittelmäßigen Trott heraus zu wollen.“

„Dazu braucht man Talent, und wir wissen nicht, ob wir genügend davon haben. Du willst, dass etwas Besseres für dich dabei herausschaut, das ist dir die Hauptsache. Dabei übersiehst du, dass es viel wichtiger ist, das richtige Verhältnis zu den Verhältnissen zu finden. Zuerst musst du mit dir selbst ins Reine kommen, dann kommst du auch zurecht mit dem Übrigen.“

„Das ist ganz beschissen fatalistisch. Warum soll ich aufhören, nach meinem Glück zu suchen? Da kann ich mich ja gleich neben Camus beerdigen lassen!“

„Je mehr du einem Glück, von dem du nicht weißt, was es ist, hinterher rennst, desto unzufriedener wirst du, desto mehr Leuten um dich herum wirst du auf die Nerven fallen. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus.“

„Na gut, möglicherweise ist was dran an dem, was du sagst. Trotzdem bleibt dann für mich der Widerspruch, dass es anscheinend vollkommen wurscht ist, wie herum ich mich drehe, ändern kann ich doch nichts.“

„Das ist die falsche Diskussion. Es geht doch zuerst nicht darum, dass außen sich etwas bessert. Du selbst musst dich ändern, musst eine vernünftige Einstellung zu dir selbst finden. Sicher ist das eine Charakterfrage. Aber manche sehen ihr Ziel bereits, für manche ist es sogar schon zum Greifen nahe, und trotzdem wollen sie nicht glauben, dass es das ihre ist.“

„Und du kennst dein Ziel?“

„Der Weg ist das Ziel, sagt Zarathustra.“

„Wie tröstlich!“

„Hör mal, du kommst so mir nichts dir nichts aus deinem Berlin“ – er sagte wirklich „aus deinem Berlin“ - „machst Annemarie nervös, weil sie denkt, dass ich wieder zuviel saufe mit dir und belästigst mich mit deinen Problemen. Versuche also bitte mal, ein bisschen ernsthaft zu sein und nicht auszuweichen.“

„Also, ich finde nicht, dass ich ausweiche. Gestatte aber bitte, dass ich versuche, dir meine Sicht der Dinge zu offenbaren. Dass Annemarie ein wenig unruhig ist, schadet übrigens nichts. Da merkt sie wenigstens, was sie an dir verlieren würde.“

„Du willst nicht fliegen, sondern FLIEHEN“, sage er, ohne auf meine Neckereien einzugehen.

„Zu Behauptungen gehörten früher Beweise“, entgegnete ich ziemlich schwach.

„Nicht weil du abhaun willst. Vor dir selber und deinen Problemen fliehst du, wenn du das nur mal begreifen wolltest. Meinst du, du wirst dich los, wenn du dich in eine andere Gegend begibst? Du weigerst dich, der Situation treu zu bleiben. Schon damals warst du auf der Flucht, als du dich von deiner Familie trenntest.“

„Mann, wie willst du das beurteilen? Hast du vielleicht drin gesteckt?“ Ich spürte, wie recht er hatte.

„Nein, aber ich kenne allmählich deinen Charakter. Dir fehlt die Schau. Und noch etwas: Immer, wenn du etwas hast, willst du etwas anderes. Immer, wenn du auf einem Weg bist, möchtest du lieber einen anderen gehen. Immer, wenn du dich wo niedergelassen hast, möchtest du bereits weiter.

„Geht das nicht allen so? Geht`s dir nicht so?“

„Das sind Empfindungen. Man bleibt aber bei seiner Aufgabe, falls man von einem Träumer zum Realisten geworden ist.“

„Und vorausgesetzt, dass man überzeugt ist, im richtigen Loch zu graben.“

„Willst du entscheiden, was wichtiger oder besser ist als das andere? Jeder hat seine Aufgabe. Nur wenn er sich nicht mit ihr identifiziert, fühlt er sich von ihr bedrückt. Ich halte nichts von Selbstverwirklichung.“

„Praktisch sieht es aber so aus, dass es einerseits eine Menge Posten gibt, die für die Menschheit absolut unnötig sind, und dass andererseits eine Menge Leute Stellen besetzt halten, für die ihnen sowohl die Eignung als auch das Verantwortungsbewusstsein fehlen. Gehören die ebenfalls in dein Bild?“

„Sicher. Aber ich hätte vielleicht sagen sollen: Jeder hätte seine Aufgabe, wenn er nur wollte. Du musst eben versuchen, innerhalb deines Einflussbereiches etwas zu tun. Oder willst du lieber eine neue Revolution organisieren?“

„Das ist doch eine Illusion, Mann, dass man auf seinem Gebiet mehr Vernunft durchsetzen könnte! Man arrangiert sich und verkündet, dass man ja zumindest für sich selbst versucht, das Gute zu tun. Das riecht mir verdammt nach deiner idealistischen Weltanschauung, die dich lehrt, in Demut stillzuhalten und nicht wider den Stachel zu löcken. Der Marx hatte wirklich recht: Die Christen sind für die Machthaber die bequemsten Leute. Sie geben immer dem Kaiser, was des Kaisers ist.“

„Du zitierst nur die Hälfte, mein Freund. Der Schluss lautet: ´...und Gott was Gottes ist´. Und das ist entscheidend für den Christen. Aber wenigstens sind wir wieder beim Thema. Es sind ja auch wirklich diese Fragen, die man sich stellen muss, wenn man noch einen Sinn sehen soll. Übrigens bestreite ich, dass Menschen, die vorm Tod keine Angst haben, weil sie glauben, dass sie damit von allen ihren Widersprüchen erlöst werden, wirklich bequem sind für diejenigen, die Macht über sie ausüben wollen.“

Das Restaurant leerte sich mehr und mehr, und der Kellner hatte das Geschirr schon längst von unserem Tisch geräumt. Wir waren jeder beim vierten Bier angekommen.

„Weißt du was“, fuhr er fort, „wir bezahlen jetzt und dann haun wir ab hier. Was sollen wir herumsitzen und uns den Wanst vollsaufen? draußen ist ein herrlicher Abend, wir sollten lieber noch ein Stück laufen. Ein bisschen Bewegung wird uns bestimmt gut tun. Und in klarer Luft denkt sich`s auch besser.“

Beim Bezahlen sah ich mich im Raum um und bemerkte eine attraktive Blondine neben einem mir farblos scheinenden Mann. Unsere Blicke kreuzten sich kurz. Schien es mir nur so oder hatte sie fast unmerklich die rechte Augenbraue gehoben? Thomas hatte es wohl gesehen. Er knurrte nur: „Du kannst es nicht lassen. Ist wie ein Zwang, was?“

Wir gingen hinaus. Inzwischen war es kurz nach neun. Schon blinkten die ersten Sterne am Himmel, der im Westen über dem Bergrücken noch recht hell war. Die Luft hatte sich bereits ein wenig abgekühlt. Ein sanfter Lufthauch umwehte uns angenehm. Ich dachte an die armen Menschen in den kochenden Städten.

Wir schlenderten ohne Hast die schmale, gewundene Dorfstraße hinauf, vorbei an alten, jedoch zum Teil renovierten Umgebindehäusern mit herrlichen Türstöcken aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert. Die Abzweigung nach Neusorge ließen wir rechts liegen. Wir erklommen nun das letzte steile Stück der Straße von der Grenzbaude zum ehemaligen Zollhaus, um von da den Weg vom Schlagbaum rechts direkt an der Grenze zur Tschechoslowakischen Republik zu nehmen, der den Berg hinauf führte. Es roch nach frischem Grün, nach Dung, der kürzlich auf die Wiesen gebracht worden war, nach dem spezifisch herben Duft der aufbrechenden Buchenreiser und noch ein wenig nach verfaulendem Laub vom Vorjahr.

An diesem Abend war hier die Welt scheinbar vollkommen in Ordnung. Kaum vorstellbar, dass die Menschheit allerorten damit beschäftigt war, den einstigen Frieden der Natur systematisch zu zerstören. Man benötigt wenig, um zufrieden sein zu können.

Je weiter wir nach oben kamen, desto kälter wurde es. Unten lag das Dorf und schickte das vertrauensspendende Blinken seiner Lichter zu uns hinauf. außer uns schien niemand mehr unterwegs zu sein.

Der steile Anstieg zwang uns, tief durchzuatmen, und wir taten es. Mit jedem Schritt fühlten wir uns wohler.

Es war schön.

Es war einfach schön.

„Warum willst du bloß weg von hier, von uns?“, fing Thomas an. Meinst du nicht, dass du etwas dramatisierst? Versuch doch wenigstens einmal, die Sache von einer anderen Seite zu sehen!“

„Das kann ich nicht. Ich sehe nur, dass ich entweder im Gleichschritt mitmarschiere und untergebuttert werde wie alle, oder, sollte ich mich entschließen, einmal wirklich laut und vernehmlich ´SCHEISSE´ zu brüllen, meinen wohlerworbenen Besitzstand einbüße. Manchmal denke ich, es wäre vielleicht anständiger, in den Knast zu wandern.“

„Bist du sicher, dass du damit einen Nutzen erzielst? Bist du sicher, dass hier alles ´SCHEISSE´ ist? Hier hast du alles, was im Leben wirklich zählt: Freunde, Verwandte, deinen Sohn, deine Mutter, und irgendwo geistert doch auch noch diese Frau in dir herum. Mit der bist du doch noch längst nicht fertig, oder?

Willst du dein Leben einfach abtrennen von allem? Auch von diesem Land hier, das doch deine Heimat ist?“

Ich musste lachen.

„Mensch, wenn die Partei solche Agitatoren hätte wie dich, dann brauchte ihr nicht bange zu sein um das sozialistische Bewusstsein der Leute und um ihre Zuverlässigkeit. Aber begreif‘ doch! Es macht mich fertig, in der Strömung mitzuschwimmen. Es kotzt mich zur Zeit alles an, da kann ich hernehmen, was ich will. Mich selbst eingeschlossen.

Man sieht einfach nicht mehr, wofür man sich guten Gewissens engagieren soll. Das braucht man aber, wenn man moralisch nicht vor die Hunde gehen will.

Damals, in der FDJ, da waren wir begeistert, nicht von allem, aber doch vom Grundsatz her. Irgendwie dabei sein, wenn wir aus dem Dreck des Zusammenbruchs steigen. Dem blödsinnigen Krieg der Väter eine vernünftige Antwort geben. Einen Sozialismus aufbauen, in dem nicht mehr eine Handvoll Leute von der Arbeit aller anderen lebt. Dafür war ich vor allem, als ich in die Partei eintrat. Dafür war ich sogar noch, als ich schon merkte, dass da bereits wieder andere Typen am Werk waren, denen es mitnichten um das Wohl des Volkes, das sie ununterbrochen im Munde führten, sondern einzig um ihr eigenes ging.

Vielleicht war in einem gewissen Masse auch mein alter Herr schuld, der für mich immer einen lebenden Widerspruch darstellte im Hinblick darauf, was er wollte und was er konnte. Verglichen mit dem, was auf diesem Gebiet heute geschieht, war er allerdings in armseliger Waisenknabe.

Ich will jedenfalls, dass es allen gutgeht, dass alle sich frei fühlen können und besonders, dass niemand jemals mehr ein Gewehr in die Hand zu nehmen braucht, um damit einen anderen zu töten.

Doch wo stehen wir heute?

Was ist aus dem Land, den Menschen, den guten Idealen geworden? Was ist in Ungarn, der Tschechoslowakei und nun zuletzt in Polen wirklich geschehen?

Und was ist mit mir?

Heute muss ich bekennen, dass ich der falschen Revolution nachrannte, dass ich in einer falschen Partei bin und leider auch die falsche Frau hatte. Allmählich habe ich sogar das Gefühl, dass ich auf dem falschen Breitenkreis sitze: Dauernd regnet es hier, der Himmel ist meistens grau, und sieben Monate im Jahr ist es zu kalt.“

Thomas lächelte.

„Heute war der Himmel blau. Und du bist lediglich mit den Nerven herunter, deshalb siehst du alles so schwarz. Weshalb ärgerst du dich über vergangene Fehler? Jeder macht die seinen, das ist doch nichts Neues. Du musst das wollen, was du auch kannst, das Einfache, Naheliegende. Schon das ist ja beinahe unmöglich. Aber das Unmögliche ist durch uns einfach nicht zu machen. Das muss man mal einsehen.“

„Ich bin eher der Meinung, dass man gerade das Unmögliche wollen muss, sonst geht es mit der Welt nicht vorwärts. Im Grunde deines Herzens meinst du doch auch, dass man ein bisschen mehr machen muss, als man zu können glaubt.“

„Deshalb muss man nicht unbedingt aus dem Rahmen fallen wollen, finde ich. Der Mensch ist nun mal unvollkommen.“

„Deine Theorie, dass wir nur dazu da sind, das Gesetz zu erfüllen, kenne ich bereits“, erwiderte ich.

„Das ist nicht meine Theorie. Wieso glaubt ihr Marxisten oder was ihr seid, dass eine Revolution so etwas Überwältigendes ist, nur weil sie ab und zu auch die menschliche Gesellschaft erfasst? Wie kommt ihr bloß auf die Idee zu glauben, dass die russische die wichtigste und letzte gewesen sei? Warum vertraut ihr Marx und Einstein in Wirklichkeit gar nicht, die die unumstössliche Dialektik zwischen Evolution und Revolution so genial nachgewiesen haben?

So Gott will, werden noch hunderte Revolutionen in der Geschichte der Menschheit stattfinden. Du könntest sogar froh darüber sein, dass du dich einer verschrieben hattest. Für mich gibt es überhaupt keinen Grund zur Aufregung, nur weil die vorläufig letzte erst einmal zu Ende gegangen ist, auch wenn in ihrem Ergebnis freilich nicht allzuviel Neues herausgekommen ist. Jedenfalls nicht, was den Sinn des Menschseins anbelangt.“

Wenn ich nicht davon überzeugt gewesen wäre, dass er alles, was er sagte, völlig ernst meinte, hätte ich glauben können, dass er der allergrößte Zyniker sei.

Ich sagte: „Demzufolge wird es also ewig so weitergehen? Für alle Zeiten soll es Ungerechtigkeit, Dummheit und Grausamkeit geben, und uns wird es niemals gelingen, eine positive Wende herbeizuführen?

Wieso lässt Gott so etwas zu? Wieso tut er nichts zur Schaffung des Paradieses? Warum machte er ein Entwicklungsgesetz mit solch hohen Kosten wie Krieg, Revolution, Hunger, Krebs? So kann er doch der Freund des von ihm zu seinem Ebenbild geschaffenen Menschen nicht sein!“

„Also, eigentlich hat er uns beauftragt, unsere Sache vernünftig zu machen. Aber er muss wohl schon geahnt haben, dass wir so sein wollten wie er. Zumindest hinsichtlich der Allmacht-Frage, der moralischen eher nicht.

Da wir`s aber anscheinend doch nicht so perfekt können, machen wir`s jetzt so: Geht es uns gut, ist das selbstverständlich unser Verdienst, geht es schlecht, ist ER schuld. Aber es kommt anders, mein Freund. Er wird schon nochmal eingreifen. Ich glaube jedenfalls daran. Zunächst sind wir der Schlange auf den Leim gegangen, leider. Dennoch werden wir aus dem Feuersturm, den wir selbst entfachen werden, gerettet. Du solltest mal den Propheten Daniel und die Offenbarung lesen!“

„Ich glaube an keine Propheten.“

„Jeder glaubt an Propheten. Die einen an Christus oder Mohammed, die andern an Lenin.“

„Wer sagt dir, dass deine besser sind?“

„Mein Gefühl und die Bibel. Weil da geschrieben steht: ´...an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen...´“

„Deine Selbstsicherheit geht mir auf die Nerven. außerdem ist es ja so, dass wir Heutigen den Marx verfälscht haben.“

„Oh ja, es gibt auch sehr integere Marxisten, wie du mir bereits mehrfach bewiesen hast. Und auch heute ist es noch schwer für sie, ihren falschen Glauben aufzugeben, obwohl alle Praxis gegen die Theorie spricht. Fällt dir denn immer noch nicht auf, dass es bei aller Vorgabe, die Welt endlich verändern zu wollen, in Wahrheit Fatalismus ist, wenn man bekennt, dass alles, auch des Menschen Wille, objektiven Gesetzen untergeordnet ist und der Mensch selbst nichts weiter als die höchste Organisationsform der Materie? Diese Entpersonifizierung der Welt macht dich endgültig zum Sklaven. Sie degradiert dich zum unwichtigen Rädchen im historischen Getriebe.

Nichts von der Freiheit des Menschen, sich so oder so zu entscheiden. Nichts von seiner Verantwortung gegenüber dem Prinzip des Guten. Niemand leugnet, dass es für die Entwicklung der Menschheit Gesetzmäßigkeiten gibt. Doch zeigt sich nicht bereits jetzt schon ganz deutlich, dass die ökonomischen Triebkräfte am Ende eben nicht ausschlaggebend für das Handeln der Menschen sind? Ich leugne nämlich ganz entschieden, dass es die Arbeit war, die den Affen zum Menschen gemacht hat. Warum sollte der Affe wohl anfangen zu arbeiten? Hatte er nicht genug von allem? Weshalb sollte er mehr produzieren wollen, als er wirklich für sich benötigte?

Alle sind so hingerissen von der Logik des Gebäudes, dass gar niemand merkt, dass gleich am Anfang etwas nicht stimmt. Erst heute, da die Arbeit den Menschen allmählich immer mehr zum Affen macht, beginnen endlich einige nachzudenken. Nein, mein Lieber, mein Bild ist anders. Der Mensch war von Beginn an Mensch. Als Ergebnis eines revolutionären Schöpferaktes.“

Ich wunderte mich etwas über seinen plötzlichen Ausbruch, und ich schwieg vorsichtshalber erst einmal. Wir waren auf dem kahlen Plateau des Gipfels angekommen. Wir stellten uns auf das Dach der Schutzhütte, die anstelle des schon vor dem Krieg abgebrannten Gasthauses an den Felsen herangebaut wurde. Der Fernsehumsetzer ragte schwarz und drohend gegen den nun bereits nächtlichen Himmel, wie ein Symbol dafür, dass es außer uns beiden und meinen Problemen noch eine Menge anderes zwischen Himmel und Erde gab, dessen Existenz zwar gegenwärtig, aber ohne diese in die Natur hinein greifende Technik nicht wahrnehmbar wurde.

Wir ließen uns von dem unübersehbaren klaren Sternengefunkel überwältigen. Hätten wir etwas mehr Kenntnis über astronomische Dinge besessen, so würden wir sicher nach der einmaligen Konstellation der Planeten unseres Sonnensystems rund um die Venus gesucht haben, wie es sie dieser Tage gab und wie sie nur alle hundert Jahre vorkommen soll. So aber schauten wir unwissend hinein in die dunkelblaue Unendlichkeit, durch die sich die Milchstraße von Nord nach Süd zog, und es überkam mich ein Gefühl von Ewigkeit, von Nichts und von Tod und davon, wie unwichtig man als Menschlein doch in seinem kurzen ärmlichen Dasein ist und dass jeder, wo er sich auch befinden mag, stets nur wenig über den Anfang hinaus kommt.

Mach das ruhig mal, mein Junge! Geh nachts bei klarem Himmel auf einen Berg und beschau dir den Kosmos! Dann wirst du wissen, was ich meine.

Es fehlt uns in unseren Neonlichterstädten.

Von unten blitzten schwach Lichter böhmischer Dörfer herauf. Werde ich nochmal hierher kommen?, fragte ich mich.

„Dein Bild ist, glaube ich, nicht besser als irgendeines“, nahm ich den Faden wieder auf.

„Du versuchst, alles aus einem unbewiesenen Gott heraus zu erklären. Das ist ebenfalls ein sehr einseitiger Blickwinkel, oder etwa nicht?“

„Mag sein, aber im Mittelpunkt stehen nur Gott und ich. Und ich bin glücklicherweise nicht ganz unwichtig dabei. Es ist meine persönliche Beziehung. Die benötige ich, bereits hier und jetzt, um überleben zu können, unabhängig vom fragwürdigen Entwicklungsstand einer mehr, aber eher weniger perfekten Gesellschaft. Mir nützt keine abstrakte Hoffnung auf eine im Trüben liegende Zukunft, in der sich das Positive schon noch zeigen wird. Ich brauche Hoffnung für mich, jetzt. Ich lehne es ab, mich auf die Zukunft vertrösten zu lassen. Die Entschuldigung, dass wir zur Zeit noch nicht ganz so weit sind, hilft mir nicht. Ich will EWIG LEBEN, mein Freund. Diese Verheißung benötige ich täglich aufs Neue, denn es kann mich jede Sekunde ereilen.“

„Du bist komplett verrückt! Du weißt so gut wie ich, dass das eine Utopie ist. Wie soll das aussehen? Sind deine Glaubensbrüder etwa anders gewesen als die Heiden? Denk mal an Rom und die Inquisition, denk an die Kreuzritter! Haben die nicht genauso massenhaft Not und Elend über die Völker gebracht wie diejenigen, welche nichts von christlicher Nächstenliebe gewusst haben?“

„Das waren nicht meine Glaubensbrüder. Das waren Menschen, die nichts begriffen hatten, wie die meisten. Sie dienten der Macht. Und dennoch scheint es so zu sein, dass sie ihre Funktion hatten. In meinen Augen waren es Werkzeuge zur Erfüllung des Gesetzes.“

„Das ist doch die Höhe! Stell dir vor, Hitler und Stalin, Bukassa und Pol Pot als Werkzeuge Gottes.“

„Du vereinfachst! Wo ist das rein Gute, wo das rein Böse? Man lebt zwischen beidem. Das ist die entscheidende Sache zwischen Gott und mir, ob ich ihm diene oder der Macht. Ich hab da eine reelle Chance.“

„Demnach waren Marx, Engels und Lenin ebenfalls Werkzeuge?“

„Für mich, ja. Warum denn nicht? Durch sie hat sich doch zweifellos etwas bewegt in der Geschichte. Nicht nur dorthin, wie es uns die heutigen Antikommunisten weismachen möchten. Aber auch anders, als jene es sich so schön vorgestellt hatten. Denn kaum hatten sie ihren Glauben artikuliert, begann auch schon der Verfall ihrer Lehre. Und zwar dadurch, dass sie von den verschiedensten Seiten dogmatisiert wurde. Schau dir nur die Richtungskämpfe zwischen den Moskauern, Pekingern, Jugoslawen und Eurokommunisten an. Ganz wie seinerzeit innerhalb der christlichen Kirche. Millionen rennen wieder den Dogmen hinterher.

Wie die Sache ausgeht, werden wir vielleicht noch erleben. Denn schon entstehen ganz andere Drücke auf die Menschheit, die neue Propheten notwendig machen.“

„Ich finde deine Sicht einigermaen zynisch angesichts der riesigen Verluste, unter denen die Menschheit zu leiden hat. Soll das im Sinne des Herrn sein?“

„Eben nicht! Das sage ich ja! Es liegt daran, dass der Mensch sich nicht an das Gesetz hält, dass er sich abwendet, es besser wissen will, dass er sein will wie ER.“

Wir befanden uns seit einer Weile auf dem Rückweg. Durch die Dunkelheit des Waldes verlief er etwas beschwerlicher als der Aufstieg. Der Mond, der unseren Weg etwas hätte erhellen können, war noch nicht aufgegangen.

„Da muss ich mich ein bisschen wundern, dass sich dein Gott einen so unvollkommenen Partner geschaffen hat. Es hätte das Risiko doch von vornherein erkennen müssen, das in der uns übertragenen Freiheit liegt. Meinst du nicht, dass er sich nur ein Spiel gemacht hat, das in einem grandiosen Inferno sein Ende finden wird?“

Es entstand ein kurzes, intensives Schweigen. Ich spürte, dass ich ihn jetzt getroffen hatte.

„Habe ich denn behauptet, dass ein Christ wirklich mehr weiß als andere? Dass er frei ist von Zweifeln und Anfechtungen? Ich frage mich genauso unentwegt, wieso der Mensch dermaßen unfähig ist, sich die Erde in einem ganz positiven Sinne untertan zu machen. Das ist das schlimme Dilemma eines gewissenhaften Christenmenschen: Bin ich wirklich unfähig, den mir übergebenen Laden in Ordnung zu halten oder scheint es nur so? Bin ich selbst nicht in der Lage, mir das ewige Leben zu verdienen? Wieso bin ich auf die Gnade des HERRN angewiesen, an dieser Ungereimtheit nicht zu verzweifeln?

Das ist die Scheidelinie zwischen Erkennen und Glauben, das ist genau das, was verstandesmäßig nicht zu gewinnen ist. Da hören alle Erklärungen auf.“

„Was willst du mir damit sagen, mein Freund? Denn dann hast du`s ja auch nicht besser als einer, der das nicht glaubt. Dazu könnte ich mich jedenfalls nicht bekennen: wissen, wie unvollkommen ich bin und mich auf jemanden verlassen müssen, von dem ich nicht genau weiß, ob es ihn überhaupt gibt. Da wundert es einen nicht, wenn viele selbst Gott sein wollen. Dieser Widerspruch verführt ja geradezu, alle Macht der Welt zu erstreben: Es gibt Zeiten, da hält man`s dann mit dem Teufel.“

“Wenn ich aber ewig leben will, bleibt mir, vereinfacht ausgedrückt, keine andere Hoffnung als die von der Wiederkunft Jesu Christi zusammen mit der Pflicht, das Gesetz zu erfüllen. Dann fühle ich wieder, dass es gut ist, einen Gott zu haben, dem man für sein Leben verantwortlich ist und dass es Gebote gibt, die nicht dazu aufrufen, der Macht zu dienen, sondern der Liebe.“

„Gegen das Liebesgebot habe ich überhaupt nichts einzuwenden“, sagte ich.

„Dann tu`s doch. Lieb dich und dann die anderen mehr als dich selbst. Das ist die einzige Legitimation, um überhaupt irgendwo einzugreifen. Mir scheint jedoch, du liebst dich nicht, deshalb rennst du andauernd im Kreise.“

„Das kann man leicht sagen von einem anderen.“

„Mein Lieber, wo du dich befindest, in welcher Gesellschaft, in welchem System, ist doch vollkommen gleichgültig. Als was für einer du dich darinnen wiederfindest, allein darauf kommt es an.“

„Ich bezweifle nicht einmal, dass das sehr klug ist, was du sagst. Aber wenn das Problem wirklich darin besteht, dass ich mich so lieben muss, wie ich bin, ich es jedoch noch nicht schaffe, dann kann ich es ebensogut mal in einer anderen Gegend probieren. Vielleicht fällt es mir dort sogar leichter.“

„Da du es an dem nötigen Ernst mangeln lässt, fasse ich meine beiden Hauptargumente für dich leichtverständlich zusammen: Erstens rührt deine Unsicherheit von deiner wankenden weltanschaulichen Basis, die nun nicht mehr ausreicht, die Wirklichkeit zu verstehen. Zweitens bin ich ganz entschieden davon überzeugt, dass dich eine Trennung von deinen menschlichen und heimatlichen Bindungen noch weniger zu dir selbst führen würde.“

„Wirklich erstaunlich, wie einfach alles ist“, sagte ich mit einem bitteren Unterton. „Was weiß ich, was hier alles zusammenkommt. Meine Abenteuerlust, der Drang, aus dem Gleichmaß, das vor allem Mittelmaß ist, heraus zu gelangen und mal was Großes zu machen, etwas, wovon man wieder leben kann. Vielleicht wollte man es gar nicht, wenn es einem nicht durch eine Reihe lächerlicher Gesetze und Vorschriften verboten wäre.“

„Vielleicht ist es tatsächlich eine Charakterfrage“, erwiderte Thomas. „Vielleicht bin ich mehr ein Ackerbauer und du ein Nomade.“

Der Abstieg hatte uns an der Skihütte und an der ehemaligen Sprungschanze vorbei weiter über die Wiesen, die im Winter als Skigelände genutzt werden, hinunter geführt. Die Masten des Schleppliftes standen finster, verlassen und untätig am Berg.

Wir wandten uns nach links zur Nordostrinne und kamen bald am Haus Nummer 175 vorbei, das einsam am Waldessaum liegt und das stets mein besonderes Interesse hervorruft, weil ich gern wüsste, wie die Leute darinnen leben. Einmal klopfe ich noch an diese Haustür.

Jetzt war alles dunkel im Haus.

Über den ausdrücklich so bezeichneten Privatweg kamen wir endlich auf die Dorfstraße. Der große Wagen war bereits ein gutes Drittel um den Polarstern herum gewandert.

Über dem Pass zum Sonneberg hin, genau an der Stelle, wo nach wochenlangem Biwakieren in den Wäldern 1968 die russischen Panzer, Lastkraftwagen und motorisierten Schützen der miteinander auf EWIG verbündeten Volksarmeen in die Tschechoslowakei einbrachen, um den von Millionen Menschen mit Hoffnung begrüßten Prager Frühling niederzuwalzen, war die schmale Sichel des Mondes hervorgetreten. Dieser Naturvorgang fand statt, mit Zuverlässigkeit, nach wie vor.

Wir schwiegen. Für heute schien alles gesagt. Unser Gespräch hatte ein gutes, wenn auch offenes Ende gefunden. Es hatte Antworten gegeben und weitere Fragen. Nichts war endgültig, nichts stand fest. Besonders heutzutage...

Und wer da behauptete, Unwiderrufliches über Fragen wie Liebe, Leben, Tod, Macht, Glück, Leid, Raum, Zeit oder Ewigkeit zu wissen, war entweder ein Dummkopf oder ein Verführer. Das hatten wir bereits vorher gewusst.

Nachtmahre

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