Читать книгу Nachtmahre - Christian Friedrich Schultze - Страница 12
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ОглавлениеDas Vaterhaus war zweistöckig, mit ausgebautem Boden wegen der Flüchtlinge, die bis 1952 bei uns wohnten. Es war gelb abgeputzt, wie viele dieser Bergarbeiterhäuser im westerzgebirgischen Steinkohlegebiet. An einigen Stellen bröckelte der Putz, aber sonst war es stabil.
Zum Haus gehörte noch ein massiver Schuppen, der die gleiche Farbe hatte. Der Hof, in welchem ein sehr hoher Apfelbaum stand, wurde nach hinten von der Hecke des angrenzenden Friedhofs geschützt und an der Seite, wo der Hundezwinger stand, von einem mannshohen Bretterzaun mit Tor. Nach vorn, der Straße zu, gab es einen großen Garten mit Wiesen, Obstbäumen und ganzen Rabatten von Haselnusssträuchern.
Im Erdgeschoss wohnten Leute, an die ich mich nicht weiter erinnere.
Wir wohnten im Obergeschoss.
Am besten besinne ich mich auf die große Wohnküche mit dem gewaltigen, gesetzten weißen Kachelherd, der einen Sims voller Töpfe und irdener Behältnisse, einen eingebauten Heißwasserbehälter, der ständig gelötet werden musste, und eine tiefe Backröhre besaß, die mir lange Zeit eine Art verwunderter Ehrfurcht einflösste, wegen der erstaunlichen Verwandlungen, die oftmals in ihrer Gluthitze stattfanden. Weiter enthielt unsere Küche eine blau lackierte Eckbank mit Tisch, auf und unter der sich nach meiner heutigen Erinnerung ein wichtiger Teil meiner Kindheit abspielte.
Ein riesiger Apfelbaum schaute durch die Fenster in die Küche. Er gab die Jahreszeiten an: Grüne Knospen und zartrosa Blüten im Mai, winterharte Äpfel, die sehr schwer zu holen waren, im Herbst und knorrige, schneebedeckte Äste im Winter. Denke ich zurück, so umgibt mich der Geruch vom Stearin der Haushaltskerzen wegen der Stromsperren, die regelmäßig stattfanden, von Molke, denn der Quarksack hing immer am Ofen, und das Milchwasser wurde selbstverständlich zur weiteren Verwendung aufgefangen, und von Schmierseife, mit der Mutter unsere Wäsche wusch. Alles für immer untrennbar in meinem Gedächtnis mit diesem Raum verbunden.
Der erste Monat meiner Existenz war für mich und meinen Geburtsort einigermaßen unruhig. Mehrfach zogen amerikanische Einheiten hindurch, ohne sich jedoch festzusetzen. Einige Male versteckten sich nachts versprengte deutsche Einheiten in den Häusern, um gleich am anderen Morgen wieder zu verschwinden. Ab und zu überflogen uns amerikanische oder britische Bomber, die in Richtung Dresdner Raum oder Chemnitz unterwegs waren, beziehungsweise von da zurückkehrten. Einige entluden ihre Fracht sogar in unserer Nähe, wahrscheinlich, weil sie von deutschen Jägern bedrängt worden waren. Sie landete hinter dem Friedhof auf den Feldern, machte viel Getöse aber richtete weiter keinen Schaden an, so dass wir mit dem Schrecken davonkamen.
Ende April wurde es ruhig. Die Amerikaner waren aus Hohenstein-Ernstthal abgezogen und die Russen eingerückt. Dank dieser Schutzmächte und meiner Mutter, unseres relativ großen Gartens und einigen Viehzeugs wuchs ich alles in allem wohlbehütet auf und hatte auch zu essen.
Aber wohl nicht immer, denn ich weiß noch deutlich, dass ich oft Hunger hatte. Mutter machte mir aber klar, dass man mit Brot und Marmelade sparsam umzugehen habe. Doch gab es ja glücklicherweise die Stromsperren.
Ich glaube, ich war reichlich vier Jahre alt. Meine Angst vor der Dunkelheit war nur noch mäßig und ich kannte mich bereits einigermaßen in der Wohnung aus. Deshalb nahm ich bei solch günstigen Anlässen Gelegenheit, aus dem im Küchenschrank aufbewahrten Marmeladetopf vom guten Selbstgemachten zu naschen.
Das ging eine Weile gut.
Einmal wieder war es soweit. Schnell war ich von meiner unter der Eckbank befindlichen BUDE an den Küchenschrank heran und hatte den Finger im Topf, dann im Mund. Sekunden darauf glaubte ich, sterben zu müssen. Mutter hatte, um mir die Nascherei ein für allemal abzugewöhnen, für den Marmeladetopf einen mit Schmierseife hingestellt. Auch dieser Stoff war ja in jener Zeit etwas Wichtiges. Bei ihm bestand jedoch nicht die Gefahr, dass er unberechtigt vor der Zeit aufgegessen würde. Ich kam allein und im Dunkeln bis hinunter ins Waschhaus, wo ich mich übergab und mir dann den Schlund mit reichlich Wasser ausspülte. Erst dann hatte ich Zeit, Angst zu bekommen in meiner elenden Einsamkeit. Damals wähnte ich, Mutter hätte von alledem nichts bemerkt. Heute ahne ich, dass sie mein Erlebnis wohlweislich überwachte. Das finde ich großartig.
Das Obst unseres Gartens war allgemein begehrt, weil rar in dieser Zeit. Meine Mutter war damals Mitte Zwanzig. Um ihre Ernte zu verteidigen, legte sie sich nachts oftmals auf die Lauer. Als Waffe stand ihr ein sechsschwänziger Ochsenziemer zur Verfügung, der in meinem Jugendleben auch noch eine gewisse Rolle gespielt hat.
Die Obsträuber hatten die seltsame Angewohnheit, nach getaner Arbeit im Garten ihre Losung zu hinterlassen. Allmählich erwies sich diese Handlungsweise jedoch als taktischer Fehler, denn Mutter hatte sich darauf eingestellt. Am Ende bezogen einige dieser Halunken gewaltige Dresche auf ihr entblößtes Hinterteil, genau in dem Moment, als sie dabei waren, in einer Art naturalistischer Gegenleistung für ihren Diebstahl unseren Garten zu bedüngen. Taktisch befanden sie sich natürlich in dieser Lage stets im Nachteil, denn bekanntlich kann ein Mann mit heruntergelassener Hose nicht...
Diese Form von Selbstjustiz in einer neu anbrechenden, aber von allgemeiner Rechtsunsicherheit gekennzeichneten Zeit, trug meiner Mutter zuletzt doch die Achtung und den Respekt jener Mitbürger ein, die an einem Definitionsmangel für den neuen Begriff Volkseigentum litten und davon ausgingen, dass nunmehr ausnahmslos alles jedem gehöre. Der Kampf währte längere Zeit. Auch heute gibt es auf diesem Gebiet gewisse Schwierigkeiten. Zwar achtet nach reichlich dreißig Jahren sozialistischer Entwicklung inzwischen jedermann sehr genau darauf, was sein ist und dass es möglichst viel sei. Aber hinsichtlich des Volkseigentums greift in allen Schichten der Bevölkerung eine zunehmende Aneignungskampagne um sich, der niemand mehr Herr zu werden scheint. Man fragt sich, wer damit angefangen hat. Oder fragen sich das die Bonzen, die mit unbefangener Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass ihnen ihre Privilegien völlig legitim zustehen, etwa nicht? Es kann natürlich auch daran liegen, dass man mit der Umkehrung der alten christlichen Formel, was mein ist, sei auch dein, auf Dauer einfach besser zurecht kommt.
In jenen Zeiten allerdings, in denen es auf ein paar Tote mehr oder weniger nicht ankam, bedeuteten derartige einzelgängerische Nachtpatrouillen für eine Frau wahrlich sehr viel.
Ich bekam also meine Marmelade.
Und die erwähnte Molke. Wer weiß heute schon noch, was das ist? In dieser Zeit kannst du dein Kind ja kaum dazu überreden, Milch zu trinken, ohne etwas aus dem Deliladen hineinzurühren. Versuch mal, jemandem frische Ziegenmilch anzubieten. Man wird dankend ablehnen, obwohl genügend Vitamine drin sind. Wenn die Ziege gut ist, reicht´s zusätzlich immer für Quark. Übrig bleibt die Molke, die auch einen ordentlichen Frühstückstrunk abgibt und obendrein gut für den Teint ist.
Hast du noch ein Stückchen Erde zum Bebauen, wirst du immer überleben können. Brennesseln, Löwenzahn und Sauerampfer wachsen an allen Ecken. Du musst nur das Rezept wissen, wie man eine vernünftige Diätsuppe daraus macht. Manchem unserer überfressenen Herz-Kreislauf-Kostenverursacher würde eine solche Kur sicher weiterhelfen.
Willst du am Sonntag mal etwas Besonderes machen, dann gibt’s Schlagsahne aus rohen Kartoffeln und Kaffeesatzkuchen vom „Muckefuck“.
Später hielt Mutter noch ein paar Hühner und Karnickel. Jeden Herbst wurde ein Osterzicklein geschlachtet.
Dies alles war natürlich ein Glück für uns, weil wir in einem Dorf und in einem Haus wohnten, wo so etwas möglich war. In den Städten sah es schlimmer aus. Manche erinnern sich noch an die Hamsterkäufe. Unsere heutigen Großstädter hätten wahrscheinlich überhaupt keine Chance.
Sicher wundert es keinen, wenn er nun erfährt, dass ich Ende achtundvierzig, gewarnt durch das schlechte Beispiel unserer Obsträuber, bereits so sauber war, dass ich peinlichst vermied, unseren Garten mit Exkrementen zu verunreinigen. Vielmehr pinkelte ich stets aus unserem Besitztum durch den Gartenzaun auf den Fußweg hinaus, oft genug in den friedlichen Gang von Passanten, was meistens ziemlich aufregend wurde.
Auch verschenkte ich manches recht freizügig, so zum Beispiel eine frisch angefertigte Wollmütze an einen barhäuptigen Jungen außerhalb, obwohl ich von der Bergpredigt damals noch keinerlei Kenntnis hatte.
Einen Vater vermisste ich nicht, was beweist, dass man als solcher immer im Nachteil ist. Auch von der Existenz des meinigen spürte ich real nichts. Mit den Hinweisen meiner Mutter wusste ich nur wenig anzufangen. Da waren sein Arbeitszimmer und sein Schreibtisch, dadurch gekennzeichnet, dass sie beide ein gewisses Tabu umgab und dass Mutter stets recht feierlich wurde, wenn sie mich einmal mit hineinnahm und mir das Foto zeigte, das auf dem Schreibtisch stand und einen Herrn in Leutnantsuniform der deutschen Wehrmacht darstellte.
Dieser Herr sah wiederum dem Bräutigam an der Seite meiner weißbekleideten Mutter auf dem Hochzeitsbild nur wenig ähnlich. Solches geschah meistens dann, wenn wieder irgendwelche geheimnisvollen Nachrichten aus einem fernliegenden Aufenthaltsort, der „Gefangenschaft“ hieß, eingetroffen waren. Dann weinte Mutter immer, schloss mich in die Arme und saß eine Weile mit mir im Lehnstuhl, um jenes Bild zu betrachten. Das war sehr schön, fand ich, obwohl ich nicht begriff, worum es ging. Und mit einer Vatererfahrung hatte es nichts zu tun.
Andere Männer spielten in jener Zeit eine größere Rolle für mich. Zum Beispiel unser alter Hausarzt Doktor Krause, der mich zur Welt gebracht hatte und der stets an meinem Bett erschien, wenn ich mit Fieberträumen meine obligatorischen Kinderkrankheiten absolvierte. Seine kühlen, harten Hände wirkten beruhigend, respekteinflößend und immer heilend. Mutter schwor auf Homöopathie. Doktor Krause ließ sie bei dem Glauben. So kämpfte ich Masern und Mumps selbst und ohne Hilfe von Antibiotika nieder. Ob mir das geschadet hat, wird sich noch herausstellen, denke ich.
Dann war noch Onkel Joachim, genannt Jo, der nur einen Arm hatte. Der andere war 1941 in Frankreich geblieben. Statt dessen lebte er, der gelernte Jurist, der nicht nationalsozialistisch genug war, um noch eine entsprechende Anstellung zu bekommen, bei einer kleinen Textilarbeiterin in Glauchau, die ihn während dieser Zeit ernährte, weil sie ihn liebte und Männer sowieso knapp waren.
Er besuchte uns regelmäßig, beschäftigte sich auch mit mir, blieb mir aber trotzdem immer etwas unheimlich wegen seiner Armprothese und weil er sehr wenig sprach.
Er kam, fragte höflich, wie es uns gehe, saß bis zum Dunkelwerden auf der Eckbank in der Küche, trank seine Tasse Muckefuck und verschwand nach kurzem Gruß am Abend mit der letzten Bahn.
So wurde ich ohne wesentliche Zwischenfälle fünf Jahre alt. Ich war ein Einzelkind und lebte in enger Harmonie mit meiner Mutter. Mittlerweile hatten wir auch amerikanische Margarine, amerikanisches Milchpulver, amerikanische Konserven und das Wort CARE kennengelernt. Eine weitere lukullische Erfahrung waren die ersten selbstgeräucherten Heringe. Brot gab es auf Marken schon etwas reichlicher, so dass mich Mutter im Verzehr meines damaligen Lieblingsgerichtes, Schwarzbrotscheiben mit aufgeträufelter Maggiwürze, nicht mehr zu bremsen brauchte.
Eines Morgens, am Samstag vor dem ersten Advent 1950, wurde ich durch einen Schrei geweckt. Es war meine Mutter unten auf der Treppe. Sie schrie so, wie ich später nur noch Frauen im Orgasmus schreien gehört habe, so bejahend, zum Empfangen bereit, dem Ursprung nahe. Das Telegramm, welches die Rückkehr meines Vaters aus der russischen Gefangenschaft ankündigte, war aus Frankfurt an der Oder eingetroffen.
Ich fand meine Mutter auf der untersten Stufe der Treppe sitzend, das Papier in den zitternden Händen, den Kopf darüber gebeugt. Ich lief zu ihr. Dieser Schrei hatte etwas in mir getroffen, so, als hätte ich ihn schon einmal gehört, als könne ich mich erinnern und begreifen. Ich weinte längere Zeit zusammen mit ihr in ihren Armen, ohne zu wissen was geschehen war. Wir weinten in der vollkommenen Solidarität, die keiner Worte bedarf, die nicht mit Argumenten und Gründen nach ihrem Standpunkt suchen muss, sondern die weiß und einfach von innen her da ist.
Am folgenden Abend des ersten Adventssonntags fuhren meine Mutter und ich, begleitet von Doktor Krause und Onkel Jo, nach Hohenstein-Ernstthal, um Vater abzuholen, der nun aus Russland zurückkehrte, wie mir Mutter erklärt hatte. Mir war beileibe nicht klar, welche Bedeutung ich in den Begriff Vater legen sollte.
Es kamen viele Heimkehrer aus unserer Gegend mit jenem Zug an. Im dichten Menschengewühl sah ich auf einmal, wie sich meine Mutter an einen unappetitlichen, dicken alten Mann mit grauen Bartstoppeln und graugrüner, abgerissener Wattejacke klammerte und ihn heftig drückte und küsste. Nachdem dies vorüber war, kamen beide auf uns zu und Mutter deutete mit einem verklärten Gesichtsausdruck auf mich. Was sie dabei sagte, konnte ich nicht hören.
Daraufhin blieb der Mann genau vor mir stehen, hob mich zu meinem Schrecken plötzlich empor, so dass mein Gesicht ganz nah vor seins kam und ich Tränen in seinen Augen erkennen konnte, die ihm dann einzeln die Wangen herunterliefen. Und dann küsste er mich, sagte „mein Junge“ und roch dabei nach Tabak und Schweiß, und die Stoppeln stachen mich, so dass in mir ein Widerwille entstand und ich das Bedürfnis bekam, den Kuss schnell von meinen Lippen zu wischen, was ich dann, als er mich nach einer Weile wieder auf den Boden zurückgestellt hatte, auch sofort tat.
Es schien nichts Gutes zu bedeuten, wenn man einen Vater bekam.