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c) „Ausbau“ des Art. 38 GG zum „Anspruch auf Demokratie“

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Zu hinterfragen ist auch der in den letzten Jahren konsequent betriebene Ausbau des Art. 38 GG zum „Anspruch des Bürgers auf Demokratie“ (BVerfGE 129, 124, 169; seit BVerfGE 135, 317, 386 nur noch in Anführungszeichen)[10], der in der Maastricht-Entscheidung bereits angedeutet (BVerfGE 89, 155, 171 f), in der Lissabon-Entscheidung expliziert (BVerfGE 123, 267, 330 u. 331), im EFS-Urteil gegen Kritik verteidigt (BVerfGE 129, 124, 168 f) und in der Einstweiligen Anordnung zum ESM-Vertrag (BVerfGE 132, 195, 238), im OMT-Beschluss (BVerfGE 134, 366, 396 f), im ESM-Urteil (BVerfGE 135, 317, 386), im OMT-Urteil (142, 123, 219) und im Urteil zur Europäischen Bankenunion (BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nrn 92 u. 205 f) bekräftigt wurde[11].

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Die gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon erhobenen Verfassungsbeschwerden erachtete das BVerfG für zulässig, „soweit mit ihnen auf der Grundlage von Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG eine Verletzung des Demokratieprinzips, ein Verlust der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland und eine Verletzung des Sozialstaatsprinzips gerügt wird“ (BVerfGE 123, 267, 328): Die Wahlberechtigten besäßen nach dem Grundgesetz das Recht, „über die Ablösung des Grundgesetzes ‚in freier Entscheidung‘ zu befinden“. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG gewährleiste „das Recht, an der Legitimation der verfassten Gewalt mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluss zu nehmen. […] Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt“ (BVerfGE 123, 267, 331 f).

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Mit gewisser Konsequenz wird nun geltend gemacht, dass das so verstandene Recht jedes wahlberechtigten Bürgers auf Teilhabe an der verfassungsgebenden Gewalt aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG iVm Art. 146 GG bei jeder Verletzung des Art. 79 Abs. 3 GG verletzt sein müsse, da der verfassungsändernde Gesetzgeber damit in verfassungswidriger Weise in die verfassungsgebende Gewalt eingreife: „Führt man den systematischen Ansatz des BVerfG zu Ende, dann kann daher unter Berufung auf Art. 38 Abs. 1 GG jede Verletzung der Schutzgüter des Art. 79 Abs. 3 GG mit der Verfassungsbeschwerde gerügt werden – nicht nur die Verletzung des Demokratieprinzips, sondern auch die Verletzung der übrigen unabänderlichen Verfassungsprinzipien.“[12] Wortlaut und Gewährleistungsgehalt des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG werden auch dann gründlich überdehnt, wenn das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag nur zum „Anspruch auf Demokratie“ im Sinne eines Schutzes vor Berührung der nach Art. 79 Abs. 3 GG verfassungsänderungsfesten demokratischen Grundsätze und gegenüber offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen durch die Europäischen Organe (so zuletzt BVerfG, 2 BvR 1685/14 vom 30.7.2019, Abs.-Nr 92) ausgebaut wird[13]. Auch die normative Verankerung dieses bürgerexklusiven Anspruchs in der Würde des Menschen (BVerfGE 123, 267, 341; 129, 124, 169) wirft Fragen auf.

§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick

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