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3. Kompetenzkontroll- und Kompetenzfreigabeverfahren
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In Art. 93 Abs. 1 Nr 2a und in Art. 93 Abs. 2 GG sind zwei prozessrechtliche Sonderfälle der abstrakten Normenkontrolle geregelt, die materiellrechtlich als Spezialformen des Bund-Länder-Streitverfahrens verstanden werden können[14]. Nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG entscheidet das BVerfG bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes (Kompetenzkontrollverfahren). Der Prüfungsmaßstab dieses Verfahrens ist enger, der Kreis der Antragsberechtigten weiter als bei der abstrakten Normenkontrolle. Dadurch wird die Stellung der Landesparlamente, um deren Gesetzgebungskompetenzen es ja geht, gegenüber der jeweiligen Exekutive gestärkt[15]. Die Entscheidungswirkungen sind identisch: Ein nicht (mehr) im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird vom BVerfG gem. § 78 BVerfG für nichtig erklärt.
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Nach Art. 93 Abs. 2 GG entscheidet das BVerfG auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes, ob im Falle des Artikels 72 Abs. 4 GG die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Artikels 125a Abs. 2 S. 1 GG nicht mehr erlassen werden könnte (Kompetenzfreigabeverfahren). Durch dieses Verfahren wird den Ländern die Möglichkeit eröffnet, das BVerfG anzurufen, wenn entsprechende Bundesgesetze nicht zustandekommen: Die Entscheidung des BVerfG ersetzt entsprechende Bundesgesetze gem. Art. 93 Abs. 2 S. 2 GG.[16]
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Da Rechtsprechung (vgl zB BVerfGE 107, 133, 142 ff) und Literatur[17] davon ausgehen, dass Rechtsnormen nachträglich unwirksam werden können, ergeben sich Überschneidungen dieses Verfahrens mit dem Kompetenzkontrollverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG: Ein nicht mehr im Sinne des Art. 72 Abs. 2 GG „erforderliches“ Bundesgesetz wird verfassungswidrig und kann in diesem Verfahren für nichtig erklärt werden, so dass der Antrag nach Art. 93 Abs. 1 Nr 2a GG die Anwendung des Art. 93 Abs. 2 GG in der Praxis vielfach verdrängen wird. Der eigentliche Anwendungsbereich des Kompetenzfreigabeverfahrens sind die Bundesgesetze, die auf Grund des Art. 72 Abs. 2 GG in der bis zum 15. November 1994 geltenden Fassung erlassen wurden und der damaligen Bedürfnisklausel entsprachen: Sie wurden gem. Art. 125a Abs. 2 S. 1, 2 GG durch die „Verschärfung“ des Art. 72 Abs. 2 GG im Jahr 1994[18] nicht verfassungswidrig, sondern gelten bis zu einer bundesgesetzlichen „Freigabe“ weiter[19]. Erfolgt diese nicht, kann sie nur durch eine Entscheidung des BVerfG nach Art. 93 Abs. 2 GG ersetzt werden.
§ 2 Verfahrensarten und Verfahrensgrundsätze › III. Die Zuständigkeiten des Bundesverfassungsgerichts im Überblick › 4. Bund-Länder-Streitverfahren