Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 10
Kapitel 9
Оглавление"Die Renegaten finden Sie überall in der Stadt", antwortete der kleine Mann auf Tandras Frage. "Am besten schaut Ihr mal bei den freien Essensausgaben vorbei. Da werdet ihr mit Sicherheit einige von ihnen sehen." Jikav und Tandra kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Während sich in Nuhåven die Renegaten verstecken mussten, um nicht getötet zu werden, konnten sie sich hier in Deusakem frei bewegen und arbeiteten auch noch für den Gottkaiser.
"Darf ich Sie noch etwas fragen?", wendete sich jetzt Jikav an den kleinen Siebzigjährigen, der ihn erwartungsvoll anschaute.
"Immer heraus mit der Sprache. Sie scheinen hier neu zu sein. Heute erst angekommen?"
"Ja, richtig! Genau", stotterte Jikav. "Wie kommt es, dass die Renegaten hier nicht verfolgt werden?"
"Das ist doch ganz einfach, mein unwissender Freund. Wir in Deusakem sind alle keine Freunde der Mår-quell. Diese kleine, dicke Fettel. Die tut doch nichts mehr für ihr Volk. Sitzt nur herum und schaut sich an, wie sie sich in ihrer eigenen und der Schwesterpartei um die fettesten Posten prügeln." Er zog die Nase hoch und spuckte dann angewidert aus. "Ekelhaft, diese Frau. Zu meiner Zeit hat es so etwas nicht gegeben."
"Verstehe ich das richtig,...", vergewisserte sich jetzt Tandra, "...dass sich der Widerstand hier sammelt und Jachwey eines Tages zum Gegenschlag ausholen wird?"
"Ob er zum Gegenschlag, wie Sie das bezeichnen, ausholen wird, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall macht er das genaue Gegenteil von dem, was diese Mår-quell macht. Deswegen platzt die Stadt auch so gut wie aus allen Nähten. Der Gottkaiser ist immer darum bemüht, weitere Städte oder Stadtstaaten für sich zugewinnen, die ihn als Lenker des Schicksals anerkennen." Der alte Mann redete sich förmlich in Rage vor Begeisterung. Die beiden jungen Renegaten hatten schon die Befürchtung, er könne sich so ereifern, dass er einen Herzinfarkt bekommt.
"Ach, wisst Ihr was? Ich bringe euch jetzt zu einer dieser Essensausgaben. Wenn dort Renegaten sind, dann stelle ich euch vor." Der alte Mann hakte sich bei Tandra und Jikav unter und schlurfte los.
Es dauerte einiges an Zeit, bis sie eine der erwähnten Ausgaben erreichten. Während sie die Stadt mit dem Siebzigjährigen an ihrem Arm durchquerten, erzählte dieser unentwegt weiter über die früheren Zeiten. Zwischendurch erklärte er ihnen dann auch mal, in welchem Teil der Stadt sie sich befanden und wie es dazu kam, dass aus dem ehemaligen, hoch technisierten Akeḿ das neu industrielle Deusakem wurde. Eigentlich war die Erklärung dafür ganz einfach. Jachwey hatte die Stadt vollkommen autark von der Regierung gemacht, indem er sie sogar vom Stromnetz nahm, damit die Hauptstadt Ͼapitis sie nicht unter Druck setzen konnte. Leider hatte die Lebensqualität etwas darunter gelitten, wie die kleine Gruppe aus Nuhåven feststellen konnte. Die Straßen waren nicht so sauber, wie sie hätten sein können. Doch Reinigungssysteme brauchten viel Strom. Und den konnten die Kohlekraftwerke nicht in dem Maße produzieren. Also wurde dieser für die wirklich wichtigen Dinge verwendet, während anderes auf der Strecke blieb. Trotz dieser Tatsache bemühte sich der Gottkaiser darum, dass es seiner Bevölkerung an möglichst wenigen Dingen fehlte.
"Wie Ihr also erkennen könnt, haben wir keinen Grund uns über irgendetwas zu beschweren. Der Gottkaiser bemüht sich wirklich mit allen Mitteln", endete der alte Mann, als sie bei der Essensausgabe ankamen. "Geht. Holt euch was. Ihr müsst hungrig sein. Ich setze mich hier hin und warte auf euch."
"Hast du Geld dabei?", fragte Jikav Tandra. Die schüttelte verneinend den Kopf. "Wie sieht es mit euch aus?", wendete er sich jetzt an Misuk und Thevog, die daraufhin in ihren Taschen wühlten.
"Worauf wartet Ihr?", fragte der alte Mann verwundert.
"Wir haben kein Geld bei uns."
"Das macht doch nichts. Das Essen gibt es umsonst. So will es der Gottkaiser. Essen und Obdach ohne das auch nur ein einziger, der es sich nicht leisten kann, darauf verzichten muss." Die vier schauten sich verwundert an.
"Wie finanziert der Gottkaiser diese Sozialleistungen?", fragte Thevog verwirrt.
"Der Junge ist patent", freute sich der Siebzigjährige. "Willst du später mal in die Politik gehen?" Thevog schaute ihn überrascht an.
"Der Junge ist ziemlich clever", bestätigte Jikav. "Und sehr interessiert."
"Das merkt man", erwiderte der Mann und schlug Thevog von Begeisterung auf die Schulter, dass dieser ein wenig zusammensackte. "Ich kann dir leider nicht sagen, wie Jachwey es schafft, all diese Dinge zu bezahlen. Aber eins kann ich dir sagen. Es wird niemand ausgebeutet, damit wir alle diesen Luxus wahrnehmen können. Ich denke, es ist das Prinzip, du tust etwas für mich und ich tue etwas für dich. Wenn man sich gegenseitig unterstützt, braucht man kein Geld. Jetzt aber genug des Redens. Holt euch endlich was zu essen. Wir können uns gleich weiter unterhalten. Das geht mit vollem Bauch auch besser." Der alte Mann wendete sich ab und ging auf eine Bank an einem der langen Tische zu, auf die er sich setzte. Als er sah, dass sich die Gruppe noch immer nicht bewegt hatte, gab er ihnen mit einer Handbewegung zu verstehen, endlich zu verschwinden.
Am Tresen der Essensausgabe standen etwa zwanzig bis dreißig Menschen in mehreren Reihen. Im Gegensatz zu ihren Erwartungen, gab es nicht nur ein Gericht zur Auswahl, sondern fünf verschieden. Mit großer Neugier betrachteten sie die verschiedenen Essen, bis sie an der Reihe waren und von einer jungen Frau angesprochen wurden.
"Hallo. Ich bin Shilané. Was darf ich euch bringen?" Fleißig zählte sie alle Mahlzeiten auf, wies auf deren Besonderheiten und Verträglichkeit hin, dann schaute sie auf und wartet ab. Plötzlich verdunkelte sich ihr Gesicht, nur um dann gleich wieder voller Freude sich aufzuhellen. "Tandra?", fragte sie vorsichtig. Die Renegatin erschreckte sich und blieb einige Zeit stumm. Dann endlich antwortete sie dem Mädchen in dem grauen Kleid mit der Schürze und dem Häubchen auf dem Kopf.
"Ja?", sagte sie unsicher. "Ich bin Tandra. Kennen wir uns?"
"Ja, wir kennen uns. Ist zwar schon über ein Jahr her, aber dein Gesicht würde ich nie vergessen." Tandra war verwirrt und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an das Mädchen erinnern.
"Entschuldige bitte", sage sie schließlich. "Ich habe einen partiellen Gedächtnisverlust erlitten", log sie, um nicht noch tiefer in diese peinliche Situation gezogen zu werden. "Wie war nochmal dein Name?"
"Shilané. Und es tut mir leid, dass du dein Gedächtnis verloren hast. Wenn es dich interessiert, können wir uns nach meiner Schicht treffen und unterhalten. Vielleicht erinnerst du dich dann wieder an das ein oder andere." Das Mädchen war offensichtlich ganz aufgeregt. Als hätte sie nach Jahren ihre beste Freundin wiedergefunden.
Um die Situation zu entschärfen, bestellten Jikav, Misuk und Thevog ihr Essen, was Tandra schließlich ebenfalls tat. Sie erklärten Shilané, dass jemand an einem der Tische auf sie warten würde und verabschiedeten sich. Der alte Mann winkte fröhlich in ihre Richtung. Die Gruppe dachte, er würde ihnen winken, damit sie ihn nicht suchen mussten. Endlich am Tisch angekommen, begrüßte der Mann sie dann mit den Worten:
"Mensch, da habt ihr ja gleich meine Enkelin kennengelernt." Die vier verharrten für eine Sekunde in ihren Bewegungen und schauten sich an. Jeder dachte das Gleiche. Es war kein Zufall, dass der alte Mann sie gerade hierher gebracht hatte. "Und jetzt möchte ich euch noch diese Leute vorstellen. Allesamt Renegaten. Die Frau heißt Dahos und die beiden Männer Siglas und Qari. Ich gehe dann mal zu meiner Enkelin. Die müsste nämlich bald Feierabend haben. Ach übrigens", er reichte Tandra einen Zettel, "Das ist meine Adresse. Ihr könnt gerne bei mir und Shilané wohnen."
"Wohnt Shilané nicht bei ihrer Mutter und ihrem Vater?", fragte Tandra verwundert nach.
"Eigentlich müsste sich in ihrer Quolcose wohnen. Aber ich habe mit der Mutter Oberin dort eine Vereinbarung, dass sie, wann immer sie will, bei mir leben kann."
"Was ist eine Quolcose?", fragte Misuk neugierig, die schon lange nichts mehr gesagt hatte und scheinbar ihren eigen Gedanken nachhing.
"Die Quolcosen werden von sogenannten Ankilla bewirtschaftet. Sie versorgen die Stadt mit Lebensmitteln, Bekleidung und anderen wichtigen Dingen des Lebens. Ich habe mal gehört, wie jemand sie mit einem Kloster verglichen hat. Keine Ahnung, was das ist. Vielleicht könnt ihr etwas damit anfangen." Mit diesen Worten stützte er sich auf seinen Knien ab, stand auf und ging in Richtung der Theke, wo seine Enkelin noch immer die Hungrigen mit Essen versorgte. Kopfschüttelnd blickten Tandra und Jikav ihm hinterher. Ein merkwürdiger, aber liebenswerter Kauz.
Schließlich wandten sie sich ihren Mahlzeiten und den Renegaten zu, die ihnen gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen waren. Natürlich sprach Jikav nicht das Thema an, weswegen er überhaupt nach Akeḿ, beziehungsweise Deusakem gekommen war. Zuviel Menschen waren um sie herum und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie diese auf den Namen Pumar reagieren würden. Das konnte er noch nicht einmal für die anwesenden Renegaten sagen. Die Gruppe blieb über mehrere Stunden zusammen, während Tandra und Jikav immer mehr über die neuen Renegaten in der Stadt erfuhren. Genaugenommen machten sie das Gleiche, wie die Widerstandskämpfer von Nuhåven. Nur machten sie es mit Unterstützung des Stadtstaates, am hellichten Tag und mit Beihilfe der ProTeq. Die beiden Jungrenegaten konnten einfach nicht begreifen, was sie dort hörten. Es war unvorstellbar für sie.
Nachdem alle ihr Essen schon längst beendet hatten, würde das Geschirr zur Theke zurückgetragen. Dahos, Siglas und Qari luden die vier ein, sie in ihren Stützpunkt zu begleiten. Darauf hatte Jikav und Tandra inständig gehofft, weswegen sie sich auch sofort mit ihren neugewonnenen Freunden auf den Weg machten. In ihrer Basis konnten sie endlich den Versuch starten, sich vorsichtig nach Pumar zu erkundigen. Sehr, sehr vorsichtig, wie Tandra für sich beschloss und es auch Jikav wissen ließ.