Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 13
Kapitel 12
ОглавлениеEs hatte der kleinen Gruppe etwas Mühe bereitet die Adresse von Shilanés Onkel zu finden. Kurz vor Sonnenuntergang standen sie jedoch endlich vor seiner Haustür. Der Siebzigjährige öffnete und war mehr als erfreut, Tandra und ihr Begleiter zu sehen. Im Wohnzimmer saß Shilané, die ebenfalls erfreut aufsprang und die vier begrüßte. Ihr Onkel verschwand umgehend in der Küche, wo er auf die Schnelle etwas zum Essen zauberte, damit, wie er sagte, seine Gäste keinen Hunger leiden mussten. Nachdem alle gesättigt waren, lehnte man sich mit einem Glas Wein gemütlich zurück und erzählte sich das Neueste. Dabei war Shilané am meisten daran interessiert, wo Tandra die letzten Monate nach ihrem plötzlichen Verschwinden gewesen war.
"Darf ich dich zunächst einmal fragen, wann ich hier war und wie wir uns begegnet sind? Ich hatte dir ja schon gesagt, dass ich mich an einige Dinge nicht mehr erinnern kann", bat sie das junge Mädchen. Die lehnte sich in ihrem Sessel nach Vorne, um sich dann mit ihren Unterarmen auf den Oberschenkeln abzustützen. Dabei fielen ihr die langen, leicht welligen und brünetten Haare ins Gesicht, die sie mit einer Kopfbewegung wieder an ihren Platz brachte, bevor sich darauf ein Lächeln abzeichnete, als sie an die damalige Zeit dachte.
"Du bist vor etwas mehr als drei Monaten hier gewesen und warst täglich bei mir an der Essensausgabe. Jedes Mal, wenn du gekommen bist, hast du dich mit deiner Bestellung an mich gewandt, nach meiner Meinung oder dem Gericht des Tages erkundigt. Irgendwann haben wir angefangen herumzualbern. Wir haben so getan, als wärest du eine hochgestellte Persönlichkeit, die sich in die Niederungen der Küche begibt, um dort unerkannt die Köstlichkeiten der unteren Schicht zu probieren." Shilané stockte und schaute ihren Onkel an, der scheinbar schon wusste, was jetzt kommen würde. "Dabei sind wir uns immer näher gekommen." Erneut schwieg sie und Tandra fing langsam an zu begreifen, was danach wohl passiert sein könnte. Doch sie wartete, bis das junge Mädchen weitersprach. "Naja. Eines Abends, in der Nacht genauer gesagt, hast du mich mit zu deinem Stützpunkt genommen. Wir sind an den Wachen vorbeigeschlichen in dein Quartier. Und dort wurde es sehr zärtlich." Ein weiteres Mal unterbrach sie sich und schaute dabei Tandra prüfend an. Die hatte, seitdem Shilané angefangen hatte zu erzählen, ihren Kopf vollkommen frei von allen Gedanken gemacht, in der Hoffnung, die Erinnerungen könnten diese Leere füllen. Und das taten sie, wenn auch nur sehr spärlich. Verschwommene Bilder erschienen, die jedoch nicht wirklich viel erkennen ließen. Vereinzelte Gefühle machten sich in der Renegatin breit. Tandra bekam eine Gänsehaut oder die Nackenhaare stellten sich ihr auf. Sie blickte in das hoffnungsvolle Gesicht dieser schönen Frau und wünschte sich die Erinnerungen zurück.
"Ich kann mich leider nicht daran erinnern", sagte sie nach einigen Minuten der Stille. "Aber, wenn ich dir zuhöre, habe ich das Gefühl, dabei gewesen zu sein. Ich weiß, das klingt jetzt komisch, aber ich kann es nicht anders beschreiben. Vielleicht kannst du noch mehr schildern. Möglicherweise gibt es einen Moment, bei dem es bei mir Klick macht."
"Da gibt es einen für mich sehr wichtigen Moment. Kann sein, dass du dich daran erinnerst. Nachdem wir zueinander gefunden hatten in dieser Nacht, verbrachten wir viel Zeit miteinander, weswegen ich meine Arbeit in der Quolcose vernachlässigt habe. Irgendwann ist Marah mir gefolgt und hat alles herausgefunden. Sie hat gedroht alles der Mutter Oberin zu berichten und mich bestrafen zu lassen. Du hast sie dir geschnappt, bevor sie wieder zurückgehen konnte und ihr deutlich klar gemacht, was passieren würde, wenn sie mir Schwierigkeiten bereitet. Du hast sie so sehr eingeschüchtert, dass sie mich in Ruhe gelassen hat. Was sich allerdings schlagartig änderte, als du dann plötzlich verschwunden bist." Shilané Gesicht wurde von einem dunklen Schatten der Traurigkeit überzogen. Tandra und Jikav betrachteten das Mädchen mitfühlend.
"Es tut mir sehr leid, Shilané. Ich würde dir gerne erklären, warum ich so unerwartet verschwunden bin. Nur kann ich mich auch daran nicht erinnern. Mir ist aber klar, dass ich dir damit sehr weh getan haben muss. Das bedauer ich sehr, Shéré." Tandra lehnte sich zu ihr herüber und tat etwas, das die Anwesenden nicht unbedingt erwartet hatten. Sie küsste die junge Frau intensiv. Shilané war überrascht und glücklich zu gleich.
"Du hast dich erinnert", platzte sie, nachdem der lange Kuss geendet hatte, heraus. Tandra sah sie verwirrt an. "Shéré! Mein Kosename, den du mir gegeben hast. Du hast gesagt, das wäre ein Wort aus einer alten Sprache. Zumindest glaubtest du, dass es so lautete. Übersetzt bedeutete das Wort Liebling."
"Das stimmt", bestätigte Tandra ihre Aussage. "Ich erinnere mich an das Wort. Und irgendwie auch daran, dass ich es in deiner Gegenwart benutzt habe. Allerdings eher, als wäre es bereits Jahrhunderte her. Was fällt dir noch zu unserer gemeinsamen Zeit ein? Kannst du mir noch andere Dinge sagen, von denen ich vielleicht berichtet habe? Die wir zusammen unternommen haben?"
Shilané dachte angestrengt nach und fing dann erneut an alles zu rekapitulieren, an das sie sich erinnern konnte. Dies dauerte bis in die späte Nacht. Sie erzählte von gemeinsamen Unternehmungen, von Geheimnissen, welche die beiden hatten. Davon, dass Tandra manchmal plötzlich gehen musste, ohne ihr zu sagen warum. Von einer mysteriösen zweiten Person, die Tandra ihr nie vorgestellt und weswegen sie manchmal Zweifel an ihre Beziehung hatte. Das Tandra manchmal spät in der Nacht völlig erschöpft zu ihr ins Bett geschlüpft war und dort sofort einschlief. Je mehr das Mädchen erzählte, um so mehr fiel ihr ein. Bald war sie an den Punkt angelangt, wo sie einfach nicht mehr stoppen konnte und sich allen der Kopf drehte. Schließlich brachte Tandra sie mit einem weiteren Kuss zum Schweigen. Erst da viel es Shilané auf, dass sie ununterbrochen geredet hatte und die Zeit um Stunden vorangegangen war.
Jikav hatte sich jede Einzelheit genau angehört. Nichts davon klang erfunden oder überinterpretiert. Er erkannte Tandra in jedem von Shilanés Worten wieder. Sie musste also schon einmal hier gewesen sein. Aufgrund der Tatsache, dass Shilané von plötzlichen Verschwinden und nächtlicher, erschöpfter Rückkehr berichtete, vermutete der Renegat, dass sie auf einer Mission war. Plötzlich vielen ihm ihre Worte im Stützpunkt ein. Jachwey hatte die Technologie gestohlen. Je mehr er über all das Gesagte nachdachte, desto mehr dämmerte ihm etwas Bedeutsames. Alle Ereignisse spielten sich im selben Zeitrahmen, den letzten drei Monaten, plus minus einiger Tage oder Wochen, ab. Tandras Erscheinen in Akeḿ. Jachweys Aufbau einer Regierung in Akeḿ. Sogar sein Hoverabschuss passte in diesen Zeitraum. Und im Zentrum dieser Ereignisse stand eine Figur. Pumar. Interessiert blickte er zu Tandra rüber, die ihn ebenfalls schon seit einigen Minuten beobachtete. Dachte sie eventuell das Gleiche? Ohne es wirklich zu wollen, nickte er der jungen Renegatin zu, die das Nicken erwiderte. Misuks Gesicht verwandelte sich bei diesem Anblick in ein breites Grinsen, was die beiden jedoch nicht sahen. Dafür fiel Thevog die Situation auf, der sofort wieder Verschwörungstheorien gegen Misuk in seinem Kopf zusammensetzte. Aber niemand sprach den Namen Pumar laut aus.
Am nächsten Morgen war alles ganz anders. Das bemerkten sogar die Menschen, die Tandra und Jikav nicht so lange kannten. Die Renegatin schien förmlich durch die Räumlichkeiten zu tanzen. Ihre volle, schulterlange rote Mähne war vollkommen zerzaust und ihr ohnehin schon verführerischer Blick noch um einiges intensiver. Ihre sinnlichen Lippen umspielte ein Lächeln, das gar nicht mehr weggehen wollte. Eins war klar. Etwas war letzte Nacht passiert. Und das bestätigte auch das Aussehen von Jikav, welches dem von Tandra sehr ähnelte. Shilané sah dies mit gemischten Gefühlen. Offensichtlich hatte sie gehofft, die alten Zeiten würden mit Tandra wieder zurückkehren.
"Seit wann seit ihr ein Paar?", fragte sie die Renegatin daher in einem Moment der Einsamkeit. Diese schaute sie erschreckt an. Ein Paar. In dieser Kategorie hatte sie noch überhaupt nicht an Jikav gedacht. Daher wich sie in ihrer Antwort der direkten Frage aus.
"Wir kennen uns erst seit einigen Monaten. In Nuhåven habe ich ihm zunächst geholfen, seine Erinnerungen wiederzufinden, dann haben wir gemeinsam mit meiner Schwester…", bei dem Wort stockte sie für einen Moment, "...Kaziir gegen die Liga des Untergangs gekämpft, bis die Stadt dann zerstört wurde."
"Was ist mit Kaziir?", wollte Shilané neugierig wissen. "Sie scheint jemand besonderes für dich zu sein." Tandra nahm sich einen Augenblick, bevor sie antwortet. Nicht nur, um über den Verlust von ihrer Schwester hinwegzukommen, sondern auch, um darüber nachzudenken, wie das junge Mädchen es aufnehmen würde, ihr von einer weiteren Liebesbeziehung zu erzählen.
"Kaziir und ich waren Amazonen. Schwestern. Sie ist bei den Kämpfen ums Leben gekommen."
"Das tut mir sehr leid für dich. Ich nehme an, ihr standet euch sehr nahe."
"Wir Amazonen stehen uns immer sehr nah. Die Kriegerinnen sind eine eingeschworene Gemeinschaft, in der jeder für den anderen verantwortlich ist. Das macht unsere Stärke aus."
"Ich habe noch nie davon gehört, dass es Amazonen wirklich gibt. Wie wird man eine solche Kriegerin?"
"Unter anderem, indem man einer Amazone hilft. Sie beschützt. Ihr zur Seite steht. Und indem man Kampfbereitschaft für das Gemeinwohl zeigt. Oder aber, man geht hin und fragt", grinste Tandra.
"Na, wirbst du schon wieder neue Anwärterinnen für die Kriegerinnen an?", fragte Jikav fröhlich, als er an den beiden vorbeiging.
"Vielleicht gar keine schlechte Idee", konterte Tandra. "Ich denke, sie hat das Herz am rechten Fleck." Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter. "Ich glaube, wir sollten uns fertig Machen. Siglas steht vor der Tür."
"Siglas? Woher weiß der, wo wir sind?", fragte Thevog, der gerade aus dem Bad kam.
"Er ist aus dem gleichen Grund hier, weswegen ich nicht im Standort übernachten wollte. Der Kommandant lässt uns überwachen. Kein Wunder, wo ich doch gestern gesagt habe, der Gottkaiser hätte die Technologie gestohlen. Würde ich nicht anders machen." Shilané schaute die beiden fragend an. Tandra bemerkte dies als Erste und legte ihr zur Beruhigung den Arm um die Schultern. "Also gut, gehen wir zum Kommandanten und sehen mal, ob er etwas über unseren speziellen Freund herausgefunden hat. Wir sehen uns bei der Essensausgabe, Shéré."