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Kapitel 20
ОглавлениеAls Shilané am Abend mit Thevog und Tandra zu ihrem Onkel nach Hause kam, wartete dort bereits Jikav auf sie. Kommandant Vecal hatte ihm noch eine weitere Einheit genannt, die scheinbar mit Pumar zusammenarbeitete. Er war dort hingegangen, um eventuelle zusätzliche Informationen zu erhalten, die einen Einblick in Pumars Mission geben könnten. Leider ohne Erfolg. Die Renegaten hatte lediglich Material bereitgestellt, das irgendwann unbemerkt abgeholt wurde. So wie man es bei einer Geheimmission eines Spezialagenten erwarten konnte. Auf die Platine angesprochen, berichtete Shilané und Thevog abwechselnd, was sie herausgefunden hatte. Tandra war dabei sehr erstaunt, wie gut sich ihre Shéré in Elektronik auskannte.
"Das überrascht mich jetzt aber", entfuhr es Tandra.
"Ja, ja", antwortete ihr Onkel. "Sie war schon immer eine kleine Leseratte. Ich habe damals nur gedacht, lass sie ruhig. Aber, dass sie die Inhalte der Bücher auch versteht, davon war ich nie wirklich überzeugt, bis sie eines Tages den Monitor hier im Wohnzimmer reparierte. Das hat mich beeindruckt und eines Besseren belehrt. Zu schade, dass sie, solange sie nicht verheiratet ist, nicht an die Universität gehen kann."
"Dürfen nur verheiratete Frauen in die Fakultäten?", fragte Jikav verwirrt.
"Nicht ganz. Aber nur verheiratete erhalten alle Bürgerrechte und dürfen die Quolcosen verlassen."
"Aber du hältst dich doch auch nicht ständig dort auf", warf Tandra ein.
"Das hat sie meinem Bruder zu verdanken. Aber lassen Sie uns das Thema wechseln. Ich rede nicht gerne darüber."
"Wir haben heute mit einigen Ankillas über den Aufstieg Jachweys gesprochen. Wie es aussieht, hatte er dabei Hilfe, denn er wurde nicht gewählt, sondern stand plötzlich an der Spitze", berichtete Thevog.
"Ja, das stimmt", bestätigte der Onkel das Gesagt und verzog dabei die Miene, als wäre er mit diesem Themenwechsel nicht richtig einverstanden. "Man hat immer gemunkelt, er wäre von Außerhalb protegiert worden. Keiner konnte jedoch sagen, wer dahinter steckte. Einige behaupten, er wäre eine Strohpuppe der Proteqtoren. Andere vermuten eine gegnerische Partei von Mår-quell dahinter. Als ob die etwas ausmachen könnten."
"Und was glauben Sie?", erkundigte sich Tandra, während sie in das Nachbarzimmer ging und die Schachtel mit den Pillen holte, die man ihnen beim Betreten der Stadt gegeben hatte.
"Ich kann dazu nichts sagen. Da gibt es einfach zu viele Gerüchte. Mir hat sogar mal jemand erzählt, der Gottkaiser wäre von irgendeinem Templar an die Macht gebracht worden. Ein Orden", schnaufte der Siebzigjährige verächtlich. "Als ob es noch so etwas wie Religion geben würde oder wie das damals hieß."
"Ein Orden muss nicht zwingend etwas mit Gottesanbetung zu tun haben. In Nuhåven haben wir etwas sehr Ähnliches kennengelernt. Erinnerst du dich noch an die Sturmredner?", fragte sie Jikav, bevor ihr Blick dann unvermittelt von einer Sekunde zur anderen ins Leere glitt.
"Was ist?", fragten Jikav und Shilané gleichzeitig. Eine Träne lief Tandra die Wange herunter und blieb am Kiefer hängen. Dann folgte eine zweite und eine dritte. "Ist alles in Ordnung mit dir?", sprach Jikav sie erneut an. Tandra nickte, wobei sie ihre Lippen fest zusammenkniff und mühsam schluckte.
"Ich dachte nur gerade eben an Kaziir", brachte sie schließlich mit gebrochener Stimme hervor. Shilané schaute Jikav fragend an. Der schüttelte nur leicht den Kopf, um dann kurz zu nicken. Die junge Ankilla verstand. Jetzt war nicht die richtige Zeit, sie darüber aufzuklären.
"Willst du vielleicht allein sein?", fragte Jikav fürsorglich. Tandra verneinte und griff nach der Schachtel mit den Tabletten. Sie löste eine aus und steckte sie in den Mund. Sofort begann sie, wie es ihre Gewohnheit war, darauf herumzukauen und schrie kurz auf. Nach kurzer Zeit beförderte die Renegatin etwas mit ihrer Zunge an die Lippen, was sie dann mit den Fingern aufnahm. Verwundert betrachtete sie die kleine Metallkugel.
"Was ist das?", fragte der Onkel, der mit zusammengekniffenen Augen das Objekt über die Distanz betrachtete.
"War das in deiner Tablette?", wollte Jikav zur Bestätigung wissen. Tandra nickte heftig. Thevog streckte die Hand nach der Metallkugel aus und betrachtete sie interessiert. Sein Verstand arbeitete bereits auf Hochtouren und ging sämtlich Möglichkeiten durch, die eine Erklärung bieten könnten. War es ein zufälliges Objekt oder wurde es in der Tablette platziert? War es Teil der Medikation und sorgte für die korrekte Dosierung über den Tag? Oder handelte es sich gar um eine Art Minibombe, die unter bestimmten Voraussetzungen ausgelöst werden konnte? Möglicherweise war es jedoch… Thevog kam ein unbehaglicher Gedanke. Schließlich fragte er nach einem Gerät, mit dem man Frequenzen messen konnte. Natürlich hatte der Onkel nichts dergleichen im Haus.
"Gibt es hier eventuelle ein tragbares Radio?", wollte der Junge daraufhin wissen.
"Du meinst, so ein richtig altes Stück?", freute sich der Siebzigjährige. "Ja. Das habe ich. Stammt noch von meiner Großmutter. Es ist ziemlich alt, aber ich habe es immer in Erinnerung an sie behalten. Ich hole es." Als wäre er plötzlich wieder Siebzehn, sprang er auf und verschwand im Flur. Nach nicht einmal einer Minute war er zurück und hielt ein kleines Plastikgerät in der Hand, das er Shilané gab, die ihre Hand noch vor dem Jungen danach ausgestreckt hatte. Sie schaltete es ein und hielt es nah an das Objekt. Dann ging sie mit der Wählscheibe alle Frequenzen des Radios durch. Bei einer von ihnen entstand ein hoher Pfeifton.
"Das scheint mir ein Sender zu sein", fasste Thevog die Entdeckung zusammen. Alle hielten den Atem an.
"Wisst ihr, was das bedeutet?", fragte Shilané rhetorisch in den Raum. "Jeder hier in Deusakem wird überwacht. Kein Wunder, dass die wenigen Verbrechen innerhalb von Stunden aufgeklärt sind."
"Wir sollten morgen sofort zu einem Arzt gehen und nachsehen lassen, ob wir verwanzt sind oder ob wir, wie du Glück hatten."
"Kennen Sie einen Arzt, dem Sie vertrauen? Er muss unter Umständen eine kleine Operation durchführen und die Sender entfernen", sagte Tandra zu dem alten Mann.
"Ich bin Arzt", antwortete der stolz. "Vielleicht kann ich meinen Nachfolger in der Praxis fragen, ob ich sie für ein paar Stunden nutzen darf."
"Das wäre großartig", unterstützte Jikav den alten Mann in seinem Vorhaben. Auffordernd schaute er zu Tandra herüber, die ihre Stirn wiedereinmal in Falten gelegt hatte. Dies tat sie nur dann, wenn sie angestrengt über etwas nachdachte. Der junge Renegat wartete ab, ob Tandra von sich aus erklären würde, was sie beschäftigte. Als sich ihre Miene jedoch nach fast einer Minute immer noch nicht geklärt hatte, fragte er nach.
"Ich weiß nicht", antwortete seine Liebe unschlüssig. "Ich habe das Gefühl, dass einige Erinnerungen versuchen an die Oberfläche zu kommen. Als hätte ich das alles schon einmal erlebt. Das macht mich nervös."
"Als wir hier eingetroffen sind, hattest du bereits ein Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Auch, wenn du es gleich wieder verneint hast. Es ist doch möglich, dass du damit recht hattest. Ich muss dich jetzt mal etwas ganz anderes fragen. Wie läuft das eigentlich bei dir ab, wenn Doktor Ayki dich umprogrammiert? Was passiert mit den Erinnerungen deiner anderen Charakteren?"
"Soweit ich von ihm gesagt bekommen habe, werden diese unterbewusst von mir abgespeichert und beim Wiederaufruf desselben Charakters erneut aktiviert." Es entstand eine kurze Pause, dann sprach Tandra weiter. "Du meinst also, die Vergangenheit von Tandra, der Renegatin, bahnt sich langsam einen Weg an die Oberfläche?"
"Das denke ich. Allerdings verstehe ich nicht, warum das auf diese langsame und mit Unsicherheiten verbundene Art geschieht. Wäre es nicht sinnvoller, wenn du alle Daten auf einmal wieder in deinem Gedächtnis hättest, damit du voll einsatzfähig bist?"
"Du hast recht", beantwortete sie ihm seine Frage nachdenklich. "Wenn dem nicht so ist, dann muss es dafür einen Grund geben."
"Ich kann mir auch schon einen denken", mischte sich Thevog in das Gespräch ein. Alle sahen ihn erwartungsvoll an. "Ist eigentlich ganz einfach und logisch. Du sollst dich nicht daran erinnern."
Es entstand ein langes Schweigen, in dem kaum einer zu atmen wagte. Was der Junge da so ohne Vorwarnung zum Besten gegeben hatte, schien wirklich die einzige Erklärung zu sein, die es gab. Lediglich die Wahrscheinlichkeit, dass die häufige Umprogrammierung von ihrem Gehirn einen oder mehrere Schäden hinterlassen hatte, konnte noch als Begründung greifen. Eventuell konnte der Onkel von Shilané dies durch ein EEG überprüfen, obwohl Jikav aus dem Bauch heraus diese Möglichkeit ausschloss.
"Was für Erinnerungen hast du denn bislang erlebt?", wollte Misuk interessiert wissen. Dabei schaute sie die junge Renegatin gespannt an.
"Kann ich nicht sagen. Es waren kurze Sekunden, in denen etwas aufblitzte und gleich wieder verschwand. In einer dieser Sequenzen bin ich scheinbar gefallen und habe laut aufgeschrien. Denke ich jedenfalls. Vielleicht war es aber auch nicht ich, sondern jemand anderes. Ich habe wirklich keine Ahnung."
"Wenn du durch die Stadt gehst, kommt dir dann irgendetwas bekannt vor?", hakte das Mädchen nach.
"Bislang nicht. Die Häuser und Straßen erscheinen mir nicht unbekannt. Vielleicht habe ich sie aber auch mal in den staatlichen Nachrichten oder in anderen Medien gesehen", erklärte Tandra lakonisch. Misuk gab ein nicht näher zu definierendes Geräusch von sich und ließ sich wieder zurück in den Sessel fallen, wo sie für die nächste Zeit nachdenklich und stumm sitzen blieb.