Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 4
Kapitel 3
Оглавление"Wie soll es jetzt weiter gehen?", fragte Tenju die Anführerin der Liga. Ysana blieb stehen und betrachtete sich den zerstörten Stadtkern von Nuhåven, als würde dort die Antwort liegen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich zu ihrem Nachrichtenoffizier umdrehte. Sie schaut ihn nachdenklich an, schwieg aber weiterhin. Dann wanderte ihr Blick zu dem kleinen Haufen, der hinter dem Telepathen stand.
"Kannst du noch mehr von unseren Leuten finden?", war ihre Gegenfrage.
Tenju schloss die Augen und ließ den Kopf sinken. Seine Atmung wurde langsamer und regelmäßig. Dann drehte er sich langsam im Kreis, als hätte er etwas verloren, das er jetzt suchen würde. Schließlich öffneten sich seine Augen wieder und er schaute zu Ysana herüber.
"Es gibt noch einige schwache Hirnströme von anderen Mutanten. Ich kann sie aber nicht genau lokalisieren, um uns dort hinzuführen."
"Kannst du ihnen sagen, wo wir uns befinden und das sie sich hierher begeben sollen?"
"Das kann ich. Ich glaube allerdings, dass sie es nicht schaffen werden. So schwach, wie ihre Gehirnströme sind, denke ich, dass sie im Sterben liegen."
Erneut schaute Ysana auf die kleine Gruppe von neun jugendlichen Männern und Frauen. Sie waren über dreißig Mutanten gewesen, als sie das Kloster verlassen und den Krieg begonnen hatten. In der Stadt selbst schlossen sich ihnen dann noch einige wenige Mutanten an, von denen zuvor niemand etwas gewusst hatte. Jetzt waren sie nur noch eine Hand voll. Müde, enttäuscht und traurig winkte sie den Überlebenden, näher zu kommen. Jeder von ihnen war verdreckt, hatte Hunger, einige waren verletzt, andere einfach nur am Ende ihrer Kräfte oder alles zusammen.
"Es gibt in den Dædlænds eine alte Industrieanlage, in der sich eine große Anzahl von Mutanten versteckt hält. Wir werden dort hingehen, unsere Liga wieder aufstocken und dann weiter auf Ͼapitis vorrücken. Auf dem Weg dorthin gibt es noch einige weitere Städte, in denen die Sturmredner ihre Internierungslager eingerichtet haben. Wir werden auch diese Mutanten befreien. Zu Hunderten werden wir auf die Hauptstadt zuwandern und sie uns zum Ausgangspunkt unserer großen Renaissance machen, die Welt zu verändern. Keiner, der sich uns in den Weg stellt, wird überleben. Das sind wir unseren Brüdern und Schwestern schuldig."
Ysana hatte sich während der kurzen Ansprache immer weiter in die Rede hineingesteigert. Ihre Augen glühten förmlich vor Begeisterung über das Gesagte. Als sie jetzt das noch nicht einmal vollständige dreckige Dutzend ansah, war jedoch keine Begeisterung über ihre Vision zu verspüren oder zu sehen.
"Wir werden jetzt erst einmal alles daran setzen, uns mit dem Nötigsten zu versorgen. Bevor wir losziehen brauchen wir Nahrungsmittel, Wasser oder andere Getränke, Medikamente und Verbandsmaterial, sowie Waffen. Durchsucht jeden Winkel, der nicht zerstört ist und bringt alles, was ihr finden könnt, sofern es von Nutzen für unser Vorhaben ist. Dann sollten wir uns ausruhen, um schließlich morgen in der Früh in die Dædlænds zu gehen. Und wenn ihr noch andere Mutanten oder Ligisten findet, bringt sie her. Wir brauchen jeden einzelnen."
Ein weiteres Mal blickte Ysana in die Gesichter der wenigen. Erneut konnte sie nur geringfügig Begeisterung für ihre Worte darin finden. Doch dieses Mal begriffen die Mutanten, dass der Inhalt ihrer Rede für sie alle von Bedeutung war. Einige machten sich sofort auf den Weg, die geforderten Dinge zu suchen. Andere mussten sich erst noch ein wenig ausruhen, um nicht umgehend ins Koma zu fallen. Immerhin hatten sie Zeit bis zum nächsten Morgen. Ysana schaute ihnen mitfühlend hinterher. Mitfühlend? Sie erschrak für einen kurzen Moment über diese Emotion. Hatte dieser erste Kampf sie bereits so weit gebracht wieder aufzugeben? Unter gar keinen Umständen. Wenn nicht ich den Krieg gegen diesen Homo Inferius anführe, wer konnte dann die überlegenen Mutanten in ihre vorbestimmte Zukunft leiten, dachte Ysana. Sie schüttelte heftig den Kopf, um diesen wieder freizubekommen, während sie der letzten Mutantin nachschaute, die sich auf die Suche begab.
Nach einigen Stunden kamen mit der hereinbrechenden Nacht auch die Ligisten zurück. Schnell wurde es kalt und vor allem dunkel, da weder die fehlende Kuppel sie vor der Außentemperatur schützten, noch die Lampen der Stadt diese erhellen konnte. Die Mutanten brachten alles, was sie aufgezählt hatte und noch einiges mehr mit. Ysana betrachte die Ausbeute zufrieden. Damit sollten sie es durch das verseuchte Land schaffen und die Anlage erreichen. Sie gab den Befehl sich hinzulegen und zu schlafen und überwachte dessen Ausführung. Erst nachdem alle in ihren Schlafsäcken und Decken, die sie bei ihrer Suche erbeutet hatten, verschwunden waren, tat sie es ihnen gleich. Instinktiv und ohne sich dessen bewusst zu sein, ließ sie eine Energiekuppel entstehen, die sich über der Gruppe ausbreitete und diese schützte.
Der nächste Tag kam schneller, als es ihnen lieb war. Kaum einer von den Mutanten hatte gut schlafen können, trotzdem sie bis auf den Nullpunkt erschöpft waren. Ysana wachte so ziemlich als eine der letzten auf. Sie betrachtete sich verwundert die Schutzhalbkugel, die über ihnen stand, bis sie schließlich begriff, dass sie diese wohl erschaffen haben musste. Dann wurde ihr klar, sie musste sich nicht unbedingt auf all ihre Fähigkeiten konzentrieren, um diese einzusetzen. Einige von ihnen schienen wie ein selbstständiger Mechanismus zu funktionieren. Eine Routine oder auch Automatismus. Ysana lächelte über ihre neugewonnene Erkenntnis. Gemeinsam suchten sie alle ihre Habseligkeiten zusammen und bereiteten sich auf den Aufbruch vor.
Als die Gruppe die äußere Grenze der Biosphäre erreichte, konnten sie in einigen hundert Metern Entfernung die Renegaten erkennen, die sich offensichtlich auch darauf vorbereiteten ihrerseits den Ort der Verwüstung zu verlassen. Ysana schickte ihre Truppe zurück in die Stadt, um sich von dort so weit wie möglich von den Widerstandskämpfern zu entfernen, bevor sie dann endgültig Nuhåven durch einen anderen Ausgang verließ.
"Und wo geht es jetzt lang?", fragte eine junge Frau, die neben der Anführerin ging. Ysana schloss kurz die Augen, orientierte sich und zeigte dann mit dem ausgestreckten Arm in eine Richtung.
"Da lang", kommentierte sie ihr Handzeichen.
"Und wieso bist du dir da so sicher?", wollte die Frau doch etwas verunsichert wissen.
"Ich habe ein eidetisches Gedächtnis. Die Akte, die ich gelesen habe, ist hier oben in meinem Kopf gespeichert. Ihr lag eine Karte bei. Da ich weiß, wo Nuhåven und Akeḿ liegen, kann ich auch bestimmen, wo die Anlage liegt", erklärte sie ruhig, obwohl sie die Frau in einer ersten Regung von Wut, wegen der Infragestellung ihrer Kompetenz, am liebsten in Stücke gerissen hätte. Doch sie waren einfach zu wenige, um noch jemanden zu verlieren. Deswegen nahm sie sich zusammen. Ohne ein weiteres Wort von einem ihrer Mitstreiter begab sich die Gruppe in die angegebene Richtung. Obwohl sie einst ihrer Führerin bedingungslos gefolgt waren, war dieser Enthusiasmus der Ernüchterung zum Opfer gefallen. Das Ziel war Ungewissheit, nicht Zuversicht. Ysana wusste das und machte bereits Pläne, wie sie den neun Leute Hoffnung geben sollte. Dies würde nicht einfach werden. Sie musste realistisch bleiben. Wenn sie übertrieb, würden dies nur das Gegenteil zur Folge haben.
"Wie lange werden wir wohl unterwegs sein?", fragte jetzt eine andere Mutantin Ysana. Die schaute in das weite, vor ihnen liegende Land.
"Ich kann es nicht sagen. Ich kann auch nicht sagen, welche Gefahren uns hier draußen eventuell erwarten. Euch Hoffnungen zu machen, die ich nicht erfüllen kann, wäre unklug. Ich kann Dinge mit meinem Geist bewegen. Elektrische Energie entstehen lassen und diese leiten. Ich kann sogar Moleküle verändern und beeinflussen. Aber in die Zukunft kann ich nicht sehen. Tut mir leid."
"Das ist schon in Ordnung", schaltete sich ein männlicher Jugendlicher hinter ihr in das Gespräch ein. "Ehrlichkeit ist die größte Hoffnung, die wir jetzt gebrauchen können."
"Ich habe euch bislang immer die Wahrheit gesagt auch, wenn es nicht immer zu dem Ergebnis geführt hat, das ich mir erhofft habe. Wir hätten eigentlich diese Stadt übernehmen sollen, um sie zu unserer Basis zu machen. Ich konnte nicht ahnen, dass jemand, aus welchem Grund auch immer, die Biosphäre sprengen würde."
"Wie du schon eben sagtest. Du kannst nicht in die Zukunft sehen. Und selbst wenn du das könntest, es wäre nur immer eine von vielen möglichen Zukünften."
Ysana hatte gar nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben war oder dass sich alle um sie herum geschart hatten. Ihr Blick kehrte aus der unendlichen Ferne zurück und betrachtete nun jeden einzelnen der Gruppe. Mit einem Mal wurde ihr deutlich, auf was sie sich da eingelassen hatte. Zum Glück waren die Ligisten um sie herum zu erschöpft, um all zu hohe Erwartungen an die Anführerin zu stellen. Wenn sie es schaffen würde, die Gruppe zur alten Industrieanlage zu führen, in der hoffentlich die genannten Mutanten noch lebten vorzufinden, würde ihr das Auftrieb geben und die meisten ihrer aufkommenden Selbstzweifel wieder vernichten.
"Wir sollten weiter gehen", sagte Ysana und machte den nächsten Schritt. "Wie schon gesagt, ich kann nicht sagen, wie weit die Anlage entfernt ist. Das stand nicht in der Akte."
"Wir werden sie mit Sicherheit schneller erreichen, als du glaubst", meinte ein weiterer jugendlicher Mann aufmunternd.
"Du solltest keine falschen Hoffnungen wecken", erinnerte die Mutantin, die Ysana als erstes gefragt hatte, ihn. "Wir werden sehen, wann wir ankommen. Ich habe mal gehört, wie jemand sagte, der Weg ist das Ziel. Klingt für mich nach einem Plan."
"Ich bin wirklich gespannt, was uns dort erwartet", ergänzte der junge Mann, der zuvor noch für die Ehrlichkeit plädiert hatte.