Читать книгу Renaissance 2.0 - Christian Jesch - Страница 5
Kapitel 4
ОглавлениеNachdem Misuk den anderen unmissverständlich deutlich gemacht hatte, dass sie die Gruppe begleiten würde, hatte sie diese einige Stunden lang angeführt. Besser gesagt, sie lief kommentarlos vor ihnen her.
"Eins muss man diesem Mädchen lassen", flüsterte Jikav Tandra zu. "Sie ist sehr selbstsicher."
"Meintest du nicht vielleicht eher, dass sie von sich eingenommen ist. Ich finde ihr Verhalten ziemlich überheblich. Manipulativ."
"Als wüsste sie etwas, das wir nicht wissen", ergänzte Thevog missbilligend.
"Sie tut nur so, als wüsste sie mehr. Das meinte ich mit manipulativ. Ich habe bei meinen Verhören diese Technik oft eingesetzt", sagte Tandra.
"Und sie funktionieren überaus häufig", ergänzte Jikav.
"Haltet ihr mich für so blöd, dass ich darauf hereingefallen wäre?", protestierte jetzt Thevog. "Ich habe doch gar nicht behauptete, dass sie mehr weiß."
"Und wir haben nicht gesagt, dass du gutgläubig wärst", wendete Tandra seine Kritik ab.
"Das klang aber so", brummte Thevog beleidigt.
Misuk bekam von dem ganzen Gespräch nichts mit. Zumindest reagierte sie nicht auf die offensichtliche Kritik an ihrer Person. Unverdrossen führte sie die Gruppe weiter an. Wenn Akeḿ nicht die nächst möglichste Station gewesen wäre, die ein Überlebender von Nuhåven aus automatisch angesteuert hätte, wären Tandra oder Jikav wahrscheinlich erstaunt gewesen, das dieses junge Mädchen die Richtung kannte, in die sie wollten. So ließen sich die beiden jedoch nicht beeindrucken.
"Wir sollten langsam nach einer Unterkunft für die Nacht suchen", schlug Jikav vor. "Es wird in ein paar Stunden dunkel und hier draußen wird es dann auch sehr kalt."
"Ich sehe mir die Gegend mal auf meinem Comtab an. Gentis hat mir kurz vor der Abreise noch den aktuellen Zugang zu den Daten freigeschaltet."
"Was für Daten?", wurde Jikav neugierig.
"Navigationsdaten, Sicherheitszonen, Gefahrenbereiche und so weiter", kommentierte Tandra tonlos. Dann schaute sie weiter auf den kleinen Kommunikator und seinen Bildschirm, der jetzt eine Art Landkarte der Umgebung anzeigte. Die Renegatin drehte sich etwas, um den Kompass auf dem Display nach Norden auszurichten. Von Zeit zu Zeit schaute sie auf und verglich die Landkarte mit der Realität. Dann, nach einigen Minuten, steckte sie das Gerät wieder ein und zeigte mit der Hand in eine Richtung, direkt auf Misuk, die bereits etwas mehr als hundert Meter weiter war. Tandra stockte. Nach einigen Sekunden der Ratlosigkeit drehte sie sich zu Jikav um.
"Was ist?", wollte der wissen.
"Warum geht dieses Mädchen genau in die Richtung, die ich gerade für uns ausgemacht habe?" Jikav schaute die schlanke, junge Frau an, verstand aber kein Wort.
"Wie meinst du das?"
"Ich habe mich gerade auf dem Comtab orientiert und ein kleines Dorf in unserer Nähe ausgewählt und sehe dann, wie dieses Mädchen genau auf dieses Dorf zuhält."
"Vielleicht kennt sie sich in dieser Gegend aus und hat mitbekommen, wie wir nach einer Unterkunft gesucht haben."
"Das halte ich für unwahrscheinlich", mischte sich Thevog in das Gespräch ein. "Sie war bereits abgebogen, da hattet ihr noch nicht einmal davon gesprochen, nach etwas für die Nacht zu suchen." Es entstand ein Schweigen. "Ich beobachte sie ununterbrochen, seit sie die Führung übernommen hat", erklärte der Junge sich.
"Offensichtlich weiß sie, dass wir zu dem Dorf wollen. Sie macht noch nicht einmal die geringsten Anstalten, auf uns zu warten", bemerkte Jikav, der dem Mädchen hinterherschaute.
"Was würde wohl passieren, wenn wir jetzt nicht dort lang gehen?", fragte Tandra rhetorisch.
"Wahrscheinlich gar nichts, da wir in diese Richtung müssen, wollen wir heute Nacht nicht irgendwo in den Dædlænds erfrieren."
"Ich bin gespannt, ob sie in dem Dorf auch noch an dem Ort sein wird, zu dem wir gehen werden", murmelte Thevog.
"Da gebe ich dir recht. Ich glaube nicht, dass sie am Rande auf uns warten wird. Jedenfalls habe ich das so im Gefühl", stimmte Jikav dem Jungen zu.
"Das wäre dann wirklich gruselig", ergänzte Tandra noch, bevor sie sich erneut auf den Weg machten.
Misuk war immer noch in Sichtweite, wenn auch mittlerweile einige hundert Meter vor ihnen als kleiner Punkt. Offensichtlich hatte sie keine Angst allein durch diese gefährliche Einöde zu wandern. Die drei beobachteten, wie Misuk nach fast zwei Stunden das Dorf betrat und verschwand. Tandra löste ihre Umarmung um Jikavs Hüfte, während der seinen Arm ebenfalls von der ihren nahm und über ihren Po gleiten ließ. Mit einem fragenden Blick schaute sie den Renegaten an. Dessen Augen ruhten in den ihren. Ebenso fragend.
"Sucht euch irgendein Haus aus", unterbrach Thevog die Stille. "Ich wette, sie ist bereits dort."
"Ich habe keine Ahnung warum aber ich glaube, Thevog hat recht."
"Schaurig oder was sagst du?", antwortet Jikav.
Es dauerte noch einige Minuten, bis die Gruppe ebenfalls den Rand des Dorfes erreichten. Sie blieben auf der Zufahrtsstraße stehen und schauten sich um. Offensichtlich lebte hier schon seit langem kein Mensch mehr, obwohl die Häuser alles andere als verfallen waren. Sie bestanden allesamt aus Backsteinen und hatten nicht mehr als ein weiteres Stockwerk über dem Erdgeschoss. Außerdem schien keines von ihnen mehr als zweihundert Quadratmeter Grundfläche zu haben. Einige hatten hölzerne Vorbauten, überdachte Stellplätze oder Veranden. Im Großen und Ganzen sah alles sehr friedlich aus.
"Wir sollten uns ein Haus nicht all zu weit vom Rand entfernt suchen", unterbrach Tandra die Stille. "Vielleicht ein oder zwei Querstraßen weiter. Nicht mehr."
"Das denke ich auch", bestätigte Jikav ihren Vorschlag. "Dann können wir uns schnell wieder in die Dædlænds zurückziehen, sollte etwas aus dem Zentrum kommen oder auch anders herum."
"Das meinte ich", erwiderte Tandra. "Lass uns mal in dieser Straße nachsehen."
"Oder ruft doch einfach nach Misuk", schlug Thevog vor. "Die weiß doch jetzt schon, welches Haus ihr euch aussucht."
"Hör auf solche Schauergeschichten zu erzählen", forderte Jikav den Jungen auf. "Das kannst du doch gar nicht wissen. Keine Ahnung, wo sich das Mädchen aufhält. Aber wenn sie etwas von uns will, muss sie zu uns kommen. Wir werden uns mit Sicherheit nicht nach ihr richten."
"Kommt her", rief Tandra, die bereits einige Meter weiter gegangen war. "Ich denke, das hier ist ideal. Es steht etwas freier als die anderen und man kann sein Umfeld gut überschauen."
Jikav fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, rötlich braunen Haare, holte einmal tief Luft, die er dann mit einem leichten Zusammensacken seines Oberkörpers wieder ausstieß. Er klopfte dem Jungen auf die Schulter und lächelte ihn aufmunternd an. Doch das konnte Thevog nicht überzeugen. Etwas enttäuscht darüber, dass Jikav ihn nicht ernst nahm, trottete er hinter dem Renegaten in Richtung Tandra und dem von ihr ausgewähltem Haus. Dort stieg seine Laune jedoch schlagartig wieder an, als sich die Tür öffnete und das gruselige Mädchen im Türrahmen stand.
"Wurde aber auch Zeit", war alles, was sie sagte, bevor sie sich erneut zurückzog. Jikav und Tandra blieben wie angewurzelt stehen. Mit entgleisten Gesichtszügen starrten sie sich gegenseitig an.
"Hab ich es euch nicht gesagt?", fragte Thevog provozierend und trat ein. Immer noch vollkommen verwirrt folgten die beiden Renegaten ihm.
"Woher wusstest du, welches Haus wir auswählen würden?", polterte Jikav los, als sie Misuk im ehemaligen Wohnzimmer wiederfanden.
"Legt euch schlafen. Es wird eine kurze Nacht", war alles, das Misuk sagte, bevor sie sich in ihrem Schlafsack einrollte und eindeutig zu verstehen gab, dass sie keine weiteren Fragen mehr beantworten würde. Jikav wollte gerade auf sie losstürmen, da griff Tandra nach seiner Hand, um ihn zurückzuhalten. Der junge Renegat drehte sich zu ihr. Der Blick von Tandra war auf den Boden gerichtet, während sie mit einem Lächeln um ihre sinnlichen Lippen leicht den Kopf schüttelte, was ihre roten Haare wie einen Wasserfall erscheinen ließ. Jikavs Wutgefühle wandelten sich umgehen in Zuneigung um. Ein Lächeln machte sich bei ihm breit und er nahm die Renegatin liebevoll in den Arm.
"Lass sie", flüsterte Tandra in sein Ohr. "Sie will uns nur ärgern."
"Aber, wie macht sie das nur?"
"Keine Ahnung. Aber ist das denn so wichtig?"
"Vielleicht nicht. Also gut. Dann gehen wir jetzt besser schlafen."
"Wusstest du eigentlich, dass es rechte und linke Schlafsäcke gibt? Die lassen sich zu einem Doppelschlafsack zusammen zippen", verkündete die junge Renegatin mit einem leicht süffisanten Grinsen während sie zwei dieser Schlafgelegenheiten emporhielt.
"Aufstehen, Leute", verkündete Misuk plötzlich, nachdem alle den Alarm ihres Comtab vernommen hatten. "Es wird Zeit."
"Warte. Was soll das?" Jikav schaute aus dem Fenster in die tief schwarze Nacht.
"Sie kommen", war Misuks einzige und auch letzte Antwort. In aller Ruhe und doch irgendwie in Eile packte sie ihre Sachen zusammen, rollte den Schlafsack auf und verstaute alles in den dafür vorgesehenen Taschen.
"Wer kommt?", fragte Thevog gleichgültig, der sich mittlerweile damit abgefunden hatte, das dieses Mädchen anscheinend alles wusste.
"Niemand kommt", beruhigte Jikav den Jungen.
"Ich denke schon, dass jemand kommt", erwiderte der überraschenderweise. "Was meinst du, Tandra?"
"Ich weiß nicht", ertönte die leise Stimme von Tandra neben ihm.
"Das ist doch nicht dein Ernst?", fragte Jikav sie in einem liebevollen Ton.
"Ich bin unschlüssig, was ich davon halten soll. Auch, wenn ich es für unwahrscheinlich halte. Was, wenn sie recht hat?", erwiderte die Renegatin schlaftrunken. Jikav betrachtete sie nachdenklich. Obwohl er dem Mädchen nicht glaubte, dachte er darüber nach, was wäre, sollte Misuk eine Art sechsten Sinn haben, der sie Dinge spüren ließ?
Das Mädchen hatte mittlerweile ihre Sachen gepackt und war auf dem Weg, den Raum zu verlassen. Alle schauten ihr hinterher. Dann, als sie den Flur zur Haustür entlang ging, blickte jeder jeden an und wartete auf eine Reaktion der anderen.
"Noch zwölf Minuten", erklang es von der Haustür, die kurz darauf ins Schloss fiel.
"Also gut. Spielen wir das Spiel mit", sagte Jikav und fing ebenfalls an seine Sachen zu packen. Die anderen taten es ihm gleich. Jeder war mit seinen eigenen Gedanken über das Mädchen und die Situation beschäftigt. Nach zirka drei Minuten hatte alle das Haus verlassen und entfernten sich von ihm.
"Wir postieren uns da drüben an der Ecke und beobachten, was passiert", entschied Tandra, während sie mit der Hand auf eine gegenüberliegende Querstraße zeigte. Jikav nickte zustimmend. Thevog folgte ihnen.
Es dauerte nur kurze Zeit, da hörten die drei eine Art Summen, das stetig lauter wurde. Dann sahen sie eine Prozession mit Fackeln die Straßen entlang kommen, in der das Haus stand, das sie zuvor bewohnt hatten. Das stetige Summen verstummte. Die Fackeln wurden sorgsam abgestellt. Die Gestalten betraten einer nach dem anderen das Haus. Wenige Minuten später ertönte ein bestialischer Schrei, der fast nach Verzweiflung klang. Die Gestalten verließen in aller Eile das Haus wieder und fingen hektisch an die Umgebung zu durchsuchen.
"Ich glaube, es wird Zeit von hier zu verschwinden", bemerkte Tandra tonlos. Leise drehten sie sich um und schlichen die Querstraße etwa einen Kilometer entlang, bevor sie sich in Richtung der Dædlænds aufmachten. Dabei gingen sie zwischen den Häusern durch die Gärten, um die Straße zu vermeiden, auf der man sie hätte entdecken können. Keiner von ihnen wusste, wie viele dieser Gestalten noch in diesem Dorf hausten. Endlich erreichten sie den Rand der Ansiedlung, wo wenige Meter weiter auf einem Stein Misuk hockte und sie erwartete.
"Sag ich doch", war ihr einziger Kommentar. Dann stand sie auf und ging in das verseuchte Land.
"Morgen, direkt nach dem Aufstehen, werde ich mir die Göre schnappen und …", weiter kam er nicht, da Tandra ihm die Hand beruhigend auf den Arm legte.
"Wir werden schon noch herausfinden, was mit dem Kind los ist. Ich denke, es gibt dafür eine ganz plausible Erklärung. Eventuell tun wir ihr auch Unrecht mit unserem Misstrauen. Lass uns erst einmal weiter gehen. Es ist kurz vor Sonnenaufgang. Wir werden über Tag eine Rast machen und den verlorenen Schlaf nachholen."
"Wahrscheinlich hast du recht. Es wird wohl mehr bringen, wenn wir sie nicht provozieren. Außerdem, wer weiß schon, was sie noch alles kann. Die ist nicht nur unheimlich, die macht mir sogar ein wenig Angst."
"Ernsthaft jetzt?", fragte Tandra ungläubig und erheitert zugleich.
"Ich stimme da Jikav voll und ganz zu", schaltete sich Thevog in das Gespräch ein. "Besser nicht ärgern. Ich weiß nicht, was dann passiert."
"Ich bin mir sicher, ihr übertreibt. Ich habe da eine Theorie entwickelt. Was, wenn sie ein erwachsener Geist in einem kindlichen Körper ist?"
"Du meinst ein Experiment?", hakte Jikav nach.
"Nein. Einfach nur kleinwüchsig. Möglicherweise ist sie aus dieser Gegend. Kennt sich hier aus. Wusste von diesen komischen Gestalten und ihren Ritualen. Hat Erfahrungen, was das Überleben hier angeht. Wäre doch möglich. Und es würde ein wenig das erklären, was wir für so gespenstig an ihr halten."
Jikav schürzte die Lippen, während er über das Gesagte nachdachte. Überzeugt war er zwar nicht von dieser Ansicht, aber ganz von der Hand zu weisen war sie auch nicht. Der junge Renegat beschloss weiterhin Misuk unter Beobachtung zu halten und seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen. Tandra nahm seine Hand und zog ihn langsam fort. Misuk hatte schon wieder nicht auf sie gewartet und war jetzt bereits einen guten halben Kilometer vor ihnen. Thevog warte in kurzer Entfernung auf das Paar. Als er sah, wie die beiden sich ebenfalls auf den Weg machten, ging auch er weiter, in der festen Überzeugung, dass sie ihn bald einholen würden.