Читать книгу Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter - Christian Klicpera - Страница 47
3.7 Ursachen
ОглавлениеFamiliäre Belastungen
Bereits in früheren Berichten wurde betont, dass in den Familien von Kindern und Jugendlichen mit einer Zwangsstörung oft auffällig stark auf Sauberkeit geachtet wird und dass sich zwanghaftes Verhalten häufig auch bei anderen Familienmitgliedern findet (Adams, 1973). Untersuchungen der letzten Jahre konnten dies bestätigen. Die Häufigkeit der Beeinträchtigung ist bei Vätern deutlich größer als bei Müttern. Dies betrifft sowohl eine Zwangsstörung im engeren Sinn, deren Häufigkeit bei Eltern von Kindern mit Zwangsstörungen insgesamt auf etwa ein Sechstel geschätzt wird, als auch eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung (Lenane et al., 1990). Neben der Zwangsstörung sind bei den Eltern auch andere psychische Störungen, etwa Depressionen, häufig festzustellen (Rapoport, Elkins, Langer et al., 1981).
Es wurde darauf hingewiesen, dass die Ähnlichkeit der Symptome von Eltern und Kindern selten so groß ist, dass eine direkte Nachahmung einzelner Kennzeichen angenommen werden kann. Die Möglichkeit einer Prägung eines allgemeineren Verhaltensstils in der Erziehung durch die Eltern wird hingegen nicht ausgeschlossen (Henin & Kendall, 1997). So wird darauf hingewiesen, dass die Familien oft isoliert sind und wenig Kontakte nach außen aufweisen und dass nicht nur besonderer Wert auf Sauberkeit gelegt wird, sondern dass die Eltern auch hohe Erwartungen an die Leistungen der Kinder haben und die Erziehung durch relativ viel Strenge und Rigidität gekennzeichnet ist.
Genetische Belastung
Trotz früher Hinweise auf die Bedeutung genetischer Faktoren liegen bisher keine größeren Adoptions- oder Zwillingsuntersuchungen vor. Erste kleinere Familienuntersuchungen, die die Häufigkeit von Zwangsstörungen bei Verwandten ersten Grades verglichen, zeigten allerdings eine deutlich höhere Belastung als in Familien anderer psychiatrischer PatientInnen (10 % vs. 1,9 %) (Pauls, Alsobrook, Goodman et al., 1995). Im DSM-5 wird bestätigt, dass Personen mit einer Zwangsstörung (im Vergleich zu Personen ohne Zwangsstörung) zweimal so häufig einen Verwandten/eine Verwandte ersten Grades mit einer Zwangsstörung haben. Sollte die Zwangsstörung im Kindesalter begonnen haben, ist der Anteil der Verwandten ersten Grades mit einer Zwangsstörung zehnmal so hoch (Falkai & Wittchen, 2015). Rapoport und Swedo (2002) legten erste Ergebnisse vor, die auf eine höhere Konkordanz unter ein- als unter zweieiigen Zwillingen hinwiesen. Sie berichteten auch, dass die genetischen Risiken die Zwangsstörung mit den Tic-Störungen zu verbinden scheinen. Neuere Untersuchungen gehen von einer Konkordanzrate von 0,57 bei monozygoten und von 0,22 bei dizygoten Zwillingen aus (Falkai & Wittchen, 2015). Ein Überblick über die involvierten Gene geben Pauls und seine Mitarbeiter (2014).
Psychologische Mechanismen
Zur Erklärung der Zwangsstörung haben die verschiedenen Schulen der Klinischen Psychologie jeweils unterschiedliche Mechanismen betont. In der verhaltenstheoretischen bzw. behavioristischen Tradition werden die Zwangssymptome als gelernte Reaktion zur Verhinderung von Angst verstanden. Diese Erklärung gilt als zu kurz gegriffen, sie erwies sich jedoch als bedeutsam für die Entwicklung therapeutischer Maßnahmen. Die größte Bedeutung für die Erklärung psychologischer Mechanismen bei der Entstehung der Zwangsstörung wird heute den kognitionspsychologischen Ansätzen zugesprochen.
Der kognitionspsychologische Ansatz betont einerseits das magische Denken sowie bestimmte kognitive Verzerrungen, die überall eine Bedrohung sehen, welche nur durch Zwangshandlungen aufgehalten werden kann. Andererseits wird nach Abweichungen im Denken gesucht, die das wiederholte Ausführen von Kontrollhandlungen und anderer Teilhandlungen im Rahmen einer Handlungssequenz erklären können. Als Mechanismen, die zur Ausbildung dieses Denkstils beitragen, werden drei Prozesse diskutiert:
– Verzerrungen in der Begriffsbildung,
– Schwierigkeiten beim Treffen von Entscheidungen und
– Unzulänglichkeiten in den Gedächtnisfunktionen.
Die Hinweise auf allgemeinere Beeinträchtigungen dieser kognitiven Prozesse sind bisher jedoch nicht sehr eindeutig. Die meiste Evidenz liegt für gewisse Beeinträchtigungen der Gedächtnisfunktionen vor, wodurch etwa bereits vollzogene Handlungen weniger behalten werden oder der Zugriff auf die Gedächtnisrepräsentationen dieser Handlungen weniger leicht fällt.
Neurobiologische Mechanismen
Mehrere Befunde deuten darauf hin, dass für die Entstehung der Zwangsstörung auch neurobiologische Mechanismen verantwortlich sein dürften. Hier sind einmal die Ergebnisse pharmakologischer Studien zu erwähnen, die für eine Regulationsstörung in Neurotransmittersystemen sprechen. Im Besonderen weisen sie auf die Bedeutung des Serotonins als zentralnervöse Übertragungssubstanz für die Zwangsstörung hin, da diese Störung durch Medikamente, die die Wiederaufnahme des Serotonins in die Nervenendigungen hemmen, gebessert werden kann, während sie umgekehrt durch Substanzen, die eine ähnliche Wirkung wie Serotonin haben, verschlechtert wird.
Andererseits gibt es Hinweise, dass eine Dysfunktion der Stirnhirnregionen sowie der Basalganglien an der Entstehung der Zwangsstörung beteiligt ist. Diese Hinweise kommen aus Untersuchungen über die Stoffwechselaktivität in verschiedenen Hirnregionen (PET), die einen erhöhten Glucose-Metabolismus im orbitalen Stirnhirn und im Nucleus caudatus bei PatientInnen mit Zwangsstörungen, die in der Kindheit begonnen haben, beobachtet haben (Swedo, Shapiro, Grady et al., 1989). Zudem gibt es auch Anzeichen, dass sich PatientInnen v. a. bei Aufgaben schwertun, die den Funktionen des Frontalhirns entsprechen (wie etwa „Money’s Road Map“; Otto, 1992). Weiters wurde gezeigt, dass Zwangssymptome bei PatientInnen mit Sydenhams Chorea, einer neurologischen Störung, die mit unwillkürlichen plötzlichen Bewegungen der Arme und Beine verbunden ist und vermutlich auf einer Störung der Basalganglien beruht, deutlich häufiger auftreten als in einer Kontrollgruppe (Swedo, Rapoport, Cheslow et al., 1989). Symptome einer Zwangsstörung treten bei zwei Dritteln bis drei Vierteln aller PatientInnen mit Sydenhams Chorea auf, wobei diese Symptome meist einige Wochen vor dem Auftreten der Chorea beginnen und ihr Schweregrad parallel zur motorischen Symptomatik verläuft. Es wird vermutet, dass es sich um eine Autoimmunreaktion auf die Basalganglien handelt (dafür spricht eine erfolgreiche Behandlung mit Immunglobulinen; Rapoport & Swedo, 2002).
Neurologische Auffälligkeiten
Beim Großteil der Kinder und Jugendlichen zeigen sich bei der neurologischen Untersuchung vermehrt sogenannte „soft signs“, also Zeichen, die nicht eindeutig auf eine neurologische Schädigung hindeuten, wie z. B. Mitbewegungen beim Gang auf den Zehenspitzen, leicht choreiforme Bewegungen, aber auch ein geringes linksseitiges Halbseitensyndrom. Darüber hinaus gibt es auch neuropsychologische Auffälligkeiten, etwa schlechte visuomotorische Fähigkeiten oder eine abnorme Sprechmelodie. Solche Auffälligkeiten standen mit einer schlechteren Prognose im Zusammenhang (Rapoport & Swedo, 2002).