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Die zweite massive Vergrößerung
Оглавление1922 begann Franz Schalk mit der zweiten großen Reform des Opernorchesters nach Mahler, indem er nicht weniger als 15 neue Stellen schuf, um einige Gruppen zu verstärken. Die Primgeiger wurde von 20 auf 23 aufgestockt, die Sekundgeiger von 17 auf 18, die Bratschisten von 12 auf 13, die Cellisten von 10 auf 12, die Kontrabassisten von 10 auf 11, die Flötisten von 5 auf 6, die Klarinettisten von 5 auf 7, die Fagottisten von 5 auf 6, die Hornisten von 10 auf 11, die Posaunisten von 6 auf 7. Schalk begründete diese Maßnahme mit der Verpflichtung für Aufführungen im Redoutensaal. Eine sechste Flötenstelle wurde letztendlich doch nicht geschaffen. Ein Dokument vom 22. Juni 1922 erwähnt zwar das Engagement von Franz Kontassek, aber sein Name taucht auf keiner Orchesterliste auf. Auch ein weiterer Versuch von 1923, Friedrich Schönfeld als dritten Soloflötisten zu engagieren, um die Zahl der Überdienste von 32 auf 9 zu reduzieren, scheiterte: Schönfeld trat nicht in das Orchester ein, und so blieben es 5 Flötisten.
In den 1920er Jahren tauchte zum ersten Mal die Bezeichnung »Stimmführer« auf, womit bei den Streichern der schon bei Mahler vorkommende Zwischenstatus zwischen Solist und Tuttispieler bezeichnet wurde. Nach einer aus dem Nachlass des Paukisten Arthur Schurig stammenden Liste setzte sich das Opernorchester abseits der Tuttispieler folgendermaßen zusammen: 4 Konzertmeister, 1 Ballettkonzertmeister, 3 Stimmführer der Primgeigen, 4 Stimmführer der Sekundgeigen, 3 Solobratschisten und 2 Stimmführer, 4 Solocellisten und 2 Stimmführer, 2 Solokontrabassisten und 2 Stimmführer. Die vierte Solocellistenstelle wurde wieder gestrichen, was kaum überraschend ist, wenn man bedenkt, wie mühsam es war, auf drei zu kommen. Bei den Klarinetten wurde ein neues System ausprobiert, das sich erst in den 1970er Jahren bei allen Bläsern durchsetzen sollte: Von der seit Mahler eingeführten Konstellation von zwei Solisten, einem Springer und zwei zweiten Spielern ging man auf drei Solisten und drei zweite Spieler über. Das gab dem jungen Viktor Schmidl, Sohn von Altsoloklarinettist Alois Schmidl, die Chance, Solist zu werden. So erreichte man 1922 die Zahl von 7 Klarinettisten: 3 erste, 1 Springer und 3 zweite. Franz Schalk führte für diese auf die Klarinetten beschränkte Veränderung künstlerische Gründe an, die mit der Weiterentwicklung des Repertoires zu tun hatten: »Hinsichtlich der Klarinetten herrschen schon seit langem große dienstliche Schwierigkeiten, die mit der Instrumentationsweise der modernen Komponisten zusammenhängen, durch die die Zahl der im Orchester verwendeten Klarinettisten gegenüber den anderen Holzbläsern erheblich gesteigert erscheint, während bei den Flötisten und Oboen selbst in ganz modernen Werken nie mehr als vier Herren zur Verwendung kommen.«43
Man denke nur an die Opern von Richard Strauss, die sich gerade zu Eckpfeilern des Opernrepertoires entwickelten: Elektra verlangt 1 hohe Klarinette in Es, 4 Klarinetten in B und in A, 2 Bassetthörner und eine Bassklarinette; Die Frau ohne Schatten 1 hohe Klarinette in Es, 2 Klarinetten in B, 1 Bassetthorn und 1 Bassklarinette.
Eine derartige Erweiterung des Orchesters stellte die Philharmoniker vor ein schwerwiegendes rechtliches Problem: Seit der Gründung des Vereins 1908 legten die Statuten die Zahl der Mitglieder auf 120 fest, nun aber wuchs das Opernorchester schlagartig auf 134 Musiker an. Zum ersten Mal in der Geschichte des Orchesters gab es mehr Mitglieder im Opernorchester als im Verein Wiener Philharmoniker. Bisher wurde man gleichzeitig Philharmoniker und Mitglied des Opernorchesters, nun mussten zum ersten Mal einige Neuengagierte warten, bis ein Platz in ihrer Instrumentengruppe frei wurde: Das waren die »Expektanten«, wie auch Musiker bezeichnet wurden, die im 19. Jahrhundert darauf warteten, zur Hofmusikkapelle zugelassen zu werden. Die einzige Ausnahme bislang bildete Ary van Leeuwen, der aufgrund seiner Differenzen mit dem Orchester zehn Jahre warten musste.
Ab 1922 betrug die Wartezeit in der Regel zwei bis fünf Jahre. Herbert Duesberg, Karl Maurer und Hans Kamesch warteten vier, Viktor Schmidl fünf Jahre. Als Hans Kamesch 1922 engagiert wurde, besetzte er im Opernorchester die soeben von Schalk geschaffene sechste Oboenstelle, aber das Statut der Philharmoniker von 1907 legte nur fünf Oboenstellen fest, die mit Anton Jandourek, Alexander und Richard Wunderer, Johann Strasky sowie Armin Tyroler besetzt waren. So konnte Kamesch nicht offiziell Philharmoniker werden. Er wurde es erst, als Johann Strasky 1926 ausschied. Manchmal behalf man sich mit Zwischenlösungen: Fritz Sedlak wurde an der Oper als Primgeiger eingestellt, da aber die Primgeigergruppe bei den Philharmonikern komplett war, wurde er als Bratschist Vereinsmitglied. Das kann Verwirrung stiften, da er auf den Programmen als Bratschist angeführt war, doch immer nur Geige gespielt hat. In seinem Aufnahmegesuch an die Philharmoniker schrieb er: »Da zur Zeit keine Primstelle frei ist, bitte ich bis zum Freiwerden einer solchen um Erteilung der Bratschenstelle, welche am 1. Dezember durch das Ausscheiden des Herrn Prof. Jelinek frei wird.«44
Auch bei den Primgeigern setzte Schalk eine bahnbrechende Veränderung um: 1921 ernannte er Franz Mairecker, der von Mahler 1898 als Tuttigeiger engagiert worden war, zum Konzertmeister. Da Mahler 1901 eine dritte Konzertmeisterstelle eingerichtet hatte, war man nun bei vier Konzertmeistern angelangt, jedenfalls in der Oper, da Arnold Rosé, unumstrittener Opernkonzertmeister seit 40 Jahren, seit 1902 nicht mehr philharmonisch spielte. Arnold Rosé, Karl Prill, Julius Stwertka und Franz Mairecker waren Konzertmeister in der Oper, Prill, Stwertka und Mairecker bei den Philharmonikern. Ein Vorteil der Beförderung Maireckers war, dass man für ihn keine Stelle schaffen, sondern nur seine vorhandene Tuttistelle in eine Konzertmeisterposition umwidmen musste.
Außer dass die Konzertplanung durch die Möglichkeit, zwischen mehreren Konzertmeistern wählen zu können, erheblich erleichtert wurde, hatte diese Beförderung einen ähnlichen Grund wie 1881 beim Engagement Arnold Rosés: Damals sollte Rosé die Leistungsschwächen von Jakob Grün ausgleichen, diesmal war es Karl Prill, der nicht mehr den an einen philharmonischen Konzertmeister gestellten Anforderungen gewachsen war. So hatte Richard Strauss angesichts des »gänzlichen Niederbruchs« von Prill, der auf der Südamerikatournee unfähig war, das riskante Geigensolo in Der Bürger als Edelmann zu spielen, mit seinem gewohnten Pragmatismus dieses Solo kurzerhand einem brillanten Tuttisten, Heinrich Schwarz, anvertraut. Strauss setzte sich des Öfteren über die Rangordnung hinweg und holte sich junge Tuttispieler wie den Geiger Ludwig Wittels, um ihnen schwierige Solostellen zu überlassen. Überhaupt hatte der Komponist einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Engagementpolitik. So machte er Schalk auf der Südamerikatournee auf gewisse Unzulänglichkeiten des Orchesters aufmerksam: »Ich habe in den jetzigen Konzerten reichlich Gelegenheit, die Schwächen unseres Orchesters zu studieren. Es fehlt ein dritter 1. Trompeter. Es fehlt ein 1. Flötist. Es fehlen 3 bis 4 junge II. Geiger! 2–3 junge Bratschisten! Die hier blasenden Posaunen sind auch katastrophal! Hier wäre am besten zu pensionieren! Bitte, greifen Sie hier jetzt mit starker Hand ein: es ist höchste Zeit!«45
Die Vergrößerung des Klangkörpers durch Schalk kulminierte 1922 mit dem Engagement von mehreren jungen Musikern, die in die Geschichte des Orchesters eingehen sollten. So taucht zum ersten Mal der Name Otto Strassers auf, der mit 21 engagiert wurde und später im Komitee der Philharmoniker zuerst als Geschäftsführer, später als Vorstand, außerdem als Archivar und Memoirenschreiber einen höchst wichtigen Platz einnehmen sollte. Zur selben Zeit wurde sein junger Kollege Alfons Grünberg engagiert, der später die Sekundgeigen verließ, um Solobratschist zu werden, außerdem Max Weißgärber, wahrscheinlich ein Enkel Bruckners und Gründer eines Quartetts, Herbert Duesberg, der dem Orchester 40 Jahre treu bleiben sollte, und Fritz Sedlak, zukünftiger Konzertmeister, der nach dem Zweiten Weltkrieg eine Schlüsselposition besetzen sollte. Ein weiterer Neuengagierter, dessen Name eng mit der Geschichte der Philharmoniker verbunden ist, war der Kontrabassist Wilhelm Jerger. Er sollte in der NS-Zeit eine sehr umstrittene Rolle spielen.
Diesen Musikern gemeinsam war, dass die meisten in ihren Zwanzigern und bis auf Weißgärber geborene Wiener waren, Österreicher in Sinne der Grenzen nach 1918: keine Tschechen, Slowaken, Galizier oder Ungarn, sondern Deutschsprachige. Drei tschechische Musiker entschlossen sich 1918 aus Patriotismus, das Orchester zu verlassen, um nach Prag, in die unabhängige Tschechoslowakei, zu übersiedeln: der Geiger Karl Jeraj, der Cellist Julius Junek und der Kontrabassist Adolf Mišek. Auch mit Mahlers Internationalisierung, symbolisiert durch seinen Einsatz für niederländische Kandidaten, war es vorbei. So zählte das Orchester 1922 nur noch 8 böhmischstämmige (1903 waren es 15), von denen 4 Tschechen waren, sowie 5 österreichische Staatsbürger aus den ehemaligen Provinzen Mähren, Galizien und Bukowina, plus 10 Deutsche (1903 waren es 7). Die 20 jüdischen Musiker machten in einem Orchester von 134 Mitgliedern 14% aus. Nach den 18% von 1903 ist hier eine Rückkehr zum Wert von 1869 zu verzeichnen.
Im selben Jahr kehrte ein Musiker nach 19-jähriger Abwesenheit ins Orchester zurück: Fagottist Otto Schieder, der von Mahler 1898 als Solofagottist engagiert worden war, aber 1903 Hans Richter nach Manchester folgte. Richter hatte ihn gebeten, das deutsche Fagott an Stelle des französischen basson46 in das Hallé Orchestra einzuführen, wo er Chefdirigent war47. Von Manchester kehrte er 1922 nach Wien zurück und trat wieder bei den Philharmonikern ein, wo er erst 1945 ausscheiden sollte. Kurz zuvor konnte er noch erleben, dass sein in Manchester geborener Sohn Otto jun. in die Fagottgruppe eintrat.
Andere Musiker nahmen den umgekehrten Weg: Der 1918 engagierte Kontrabassist Alois Vondrak folgte 1926 dem Ruf in die Neue Welt und trat in das Boston Symphony Orchestra unter Serge Koussevitzky ein. 1940 kehrte er nach Wien und zu den Philharmonikern zurück. Ein für das Orchester wichtiger Neuengagierter des Jahres 1924 war Franz Slavicek. Er begann als Bratschist und wurde Stimmführer der Sekundgeigen. Da er eine gewisse Ähnlichkeit mit Franz Schubert aufwies, besetzte man mit ihm die Rolle des Komponisten in einem Hollywood-Film von 1928, eine Produktion von James Fitzpatrick im Rahmen der Famous Music Master Series48. Vor allem machte er sich als Archivar der Philharmoniker verdient, deren Notenbestände er katalogisierte und vollständig neu ordnete.
In einigen Fällen kam es bei den Neueinstellungen zu Komplikationen, besonders wenn es sich um Familienangehörige handelte. Der quasi-dynastische Übergang an einigen Pulten ging keineswegs immer ohne internen Widerstand über die Bühne, wie ein von der Sekundgeigengruppe unterzeichneter Brief vom 26. Februar 1924 bezeugt:
Wie wir hören, soll nun Hr Karl Klein unserer Gruppe (II. Geige) zugeteilt werden. Wir protestieren gegen dieses Engagement, welches in keiner Weise einen Gewinn für unser Ensemble darstellt. Die Brüder Klein bemühen sich seit 20 Jahren, dieses Mitglied ihrer Familie im Orchester unterzubringen, was ihnen aber bisher nicht gelang. Bei aller Sympathie, deren sich die Brüder Klein erfreuen, sieht sich die Gruppe dennoch veranlagt, gegen das Engagement des K. Klein energisch Stellung zu nehmen.
Am 27. Februar schrieb die Direktion an den Cellisten Franz Klein:
Lieber Hr Klein,
Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass alle Versuche, Ihrem Bruder noch eine Anstellung in unserem Orchester zu ermöglichen, fehlgeschlagen sind.49
Zur Zeit der Bewerbung des jüngsten Klein-Bruders waren die Geiger Johann und Josef schon 35 beziehungsweise 26 Jahre bei den Philharmonikern. Karl war 47 Jahre alt, was der Verjüngungspolitik widersprach, die Franz Schalk mit Zustimmung der Musiker betrieb. Dennoch konnte die Intervention der Sekundgeiger das Engagement Karl Kleins auf Dauer nicht verhindern, denn einige Monate später saß er unter ihnen. Denn ein Geiger, der ein Novum in der Orchestergeschichte gewesen wäre, hatte seine Bewerbung nach kurzer Zeit zurückgezogen. Der am 7. Mai 1901 in Konstantinopel geborene Mehmed Seiffeddin wäre der erste Türke bei den Philharmonikern geworden. Bei einem Probespiel 1922 hatte er die Zustimmung des Konzertmeisters Rosé gewonnen, war aber am Veto Schalks gescheitert, der ihm Alfons Grünberg vorzog. 1924 wurde Seiffeddin schließlich doch engagiert, aufgrund eines Empfehlungsschreibens von Arnold Rosé, der sein Lehrer an der Musikakademie gewesen war: »Herr M. S. aus Konstantinopel hat in den Jahren 1918–19 meine Ausbildungsklasse an der Akademie für Musik in Wien besucht und durch seine hübsche Begabung und andauernden Fleiß meine vollste Zufriedenheit errungen. Er ist ein vorzüglicher Geiger geworden.«50
Einige Monate später erreichte Schalk jedoch ein Brief aus Ankara vom 15. September 1924: Seiffeddin erklärte darin, es sei ihm unmöglich, sich von seinem Militärdienst zu befreien, er dürfe anderthalb Jahre lang die Türkei nicht verlassen. Die Staatsoperndirektion antwortete, so lange könne sie nicht warten, und beendete daher das Vertragsverhältnis. Der Posten war wieder vakant – die Chance für Karl Klein.
Es ist auffallend, wie viele Orchestermusiker nicht nur an der Wiener Musikakademie (die 1909 das Konservatorium abgelöst hatte), sondern auch direkt von Philharmonikern ausgebildet wurden. 1922 waren 5 von 6 Oboisten Schüler von Richard Baumgärtel. Bei den Hornisten waren Karl Stiegler, Christian Nowak sen. und Karl Romagnoli Schüler von Josef Schantl, Christian Nowak jun. von Emil Wipperich, Hans und Franz Koller von Karl Stiegler.
Bei den Streichern ist die Weitergabe von Können und Wissen innerhalb eines engen Zirkels besonders auffallend: Das Orchester zählte 2 Schüler von Josef Hellmesberger sen., 7 von Josef jun. und 11 von Jakob Grün. Die Schüler ihrer Nachfolger an der Musikakademie traten ebenfalls ins Orchester ein. So haben 3 Philharmoniker 1922 bei Arnold Rosé studiert und 6 bei Julius Stwertka. Wenn man dazu 2 Schüler von Julius Egghard und 2 von Hugo von Steiner sowie die Tatsache berücksichtigt, dass 11 dieser Instrumentalisten ihren Unterricht in der Vorbildungsklasse von Josef Maxintsak begonnen haben, kommt man zu dem Ergebnis, dass von 53 Geigern und Bratschisten, die dem Orchester 1922 angehörten, 38 bei einem oder mehreren Philharmonikern studiert haben. Daneben gab es einige, die im Konservatorium oder in der Akademie die Klasse eines Professors besucht hatten, der nicht Orchestermitglied war: zum Beispiel die Schüler von Carl Heissler (Arnold Rosé, Max Weißgärber, Erwin Dengler und Johann Schwegler) oder die von Otakar Ševčík, einem tschechischen Geiger, dem die Akademie eine Meisterklasse eingerichtet hatte, die er von 1909 bis 1919 leitete, bevor er nach Prag, in den unabhängigen tschechoslowakischen Staat zurückkehrte. Seine Schüler waren Herbert Duesberg, Hermann Obermeyer und Ludwig Wittels sowie der Bratschist Ernst Morawec.