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Die Philharmoniker unter dem austrofaschistischen Regime
ОглавлениеNach Krauss’ Abgang wollte sich die erhoffte Stabilität nicht sofort einstellen. 1935 berief die Bundestheaterverwaltung Felix Weingartner als Direktor zurück. Dieser erhob sofort den Anspruch, wieder zum einzigen Dirigenten der Abonnementkonzerte bestellt zu werden. Das Orchester, das sich inzwischen für das System von Gastdirigenten ohne ständigen Leiter entschieden hatte, ließ sich bis zu einem gewissen Punkt erweichen und überließ Weingartner die Hälfte der Konzerte. Das hatte jedoch zur Folge, dass die anderen Dirigenten Furtwängler und Walter nicht gewillt waren, weniger Konzerte als Weingartner zu dirigieren. Letzterer spielte sich mehr und mehr als Alleinherrscher auf und beschwerte sich, dass die Philharmoniker ihn durch ihre Sonderkonzerte in seiner Arbeit behinderten. Wieder übernahm Hugo Burghauser die Aufgabe, Weingartner loszuwerden: Indem er darauf hinwies, dass Weingartner als philharmonischer Dirigent nur 1867 Schilling einbrachte, im Vergleich zu 7200 bei Furtwängler und 6300 bei Walter, fand er ein gewichtiges Argument. 1936 gab Weingartner die Leitung der Oper und der philharmonischen Konzerte ab. An der Oper folgte ihm Erwin Kerber nach, der bis dahin Geschäftsführer der Salzburger Festspiele gewesen war und daher die Philharmoniker gut kannte, die er jeden Sommer zu engagieren pflegte.
Mitte der 30er Jahre verließen zahlreiche Musiker das Orchester, die noch der Ära Mahler entstammten: Der Stimmführer der Sekundgeigen, Friedrich Engelbrech, 1898 eingetreten, ging 1935 in Pension. 1936 folgten ihm zehn Kollegen, darunter Konzertmeister Julius Stwertka, 1937 weitere sechs, darunter nicht die schlechtesten: Soloflötist Willi Sonnenberg, Solooboist und Ehrenvorstand Alexander Wunderer und sein Kollege, zweiter Oboist Armin Tyroler, Gewerkschaftsführer und Obmann des Staatsopernorchesters, der zur Organisation der Südamerikatournee 1923 nicht wenig beigetragen hatte.
Für einige kam der Abschied zu früh: Der Klarinettist Viktor Schmidl, Sohn des ehemaligen Soloklarinettisten Alois Schmidl, ging mit 37 Jahren frühzeitig in Pension, zum einen wegen einer Hornhautentzündung, die zu seiner allmählichen Erblindung führte, zum anderen weil er, der Auskunft seines Sohnes Peter zufolge, als Sozialdemokrat die politische Atmosphäre im Orchester in diesen vom Austrofaschismus geprägten Jahren nicht mehr ertrug. Schmidl war fortan als Lehrer in einer bescheidenen Vorstadtschule tätig und ließ in einem ergreifenden Brief vom 23. Dezember 1941 um die Erlaubnis bitten, seine Pension als Philharmoniker mit dem Lehrergehalt aufzubessern: Er starb sechs Tage, nachdem der Brief abgeschickt worden war.
Das Ende einer Epoche markierte auch eine Veränderung bei der sozialen beziehungsweise religiösen Herkunft der Orchestermitglieder. Mit (dem bekannten Datenmaterial zufolge) etwa 12 jüdischen Philharmonikern bei einer Gesamtzahl von 110 im Jahr 1935, also 10,9%, war ihr Anteil noch nie so gering seit dem Erlass von 1867, der der jüdischen Bevölkerung volle Bürgerrechte garantierte. 1922 lag er noch bei 14,9%, 1903 bei 18,5%, 1884 bei 17%, 1869 bei 14%. Daraus sollte man keine voreiligen Schlüsse ziehen. Der Versuchung, die Geschichte im Nachhinein vor dem Hintergrund des Holocaust umzuschreiben, sollte später der Wiener Geiger Felix Galimir nachgeben. Im Dokumentarfilm Les Musiciens du Quatuor von Georges Zeisel56 berichtet er über die Umstände seines amerikanischen Exils und erklärt, dass er vom Orchester der Wiener Staatsoper engagiert werden sollte, aber Felix Weingartner ihn davon abbrachte, indem er ihm zu verstehen gab, jetzt sei nicht der richtige Moment. Der von Ausschmückungen nicht freie Bericht ist wenig glaubwürdig: Es gibt keinen Hinweis auf ein Probespiel in jenen Jahren, das Galimir gewonnen hätte, und man kann sich nur schwer einen Operndirektor vorstellen, der dem Gewinner eines Probespiels davon abrät, die ihm angebotene Tuttigeigerstelle anzunehmen. Nichtsdestoweniger sagt die Geschichte viel über das damalige Klima aus.
Nach Krauss’ Abschied wurde die Politik der Engagements von ausgezeichneten Instrumentalisten und der Förderung von jüngeren Musikern fortgesetzt. 1935 konnten sich die Geiger über zwei bedeutende Neuzugänge freuen: Carl Johannis, ein Schüler von Mairecker, der bis 1973 an der Seite von Otto Strasser die Sekundgeigengruppe führen sollte, und Jaroslaw Suchy, Schüler von Stwertka, ein außerordentliche Virtuose. Auch das folgende Jahr 1936 brachte dem Orchester mehrere exzellente Musiker: Der Geiger Franz Samohyl sollte später als Professor an der Wiener Musikakademie unzählige Philharmoniker ausbilden, Rudolf Streng wies eine ganz und gar untypische Musikerkarriere auf, indem er nach 24 Jahren als Tuttigeiger zum Solobratschisten aufstieg, Otto Rühm sollte nach dem Krieg Solobassist und Professor werden. Karl Öhlberger wurde Nachfolger seines Lehrers Karl Strobl an der Akademie und war 54 Jahre lang der maßgebliche Professor für Fagott in Wien, sodass er schließlich sämtliche Kollegen an seinem Pult und deren Nachfolger ausbilden sollte. Auch der Oboist Hans Hadamowsky wurde Professor an der Akademie und Lehrer zahlreicher Philharmoniker. Als Hubert Jelinek als zweiter Harfenist engagiert wurde, traf er auf seinen Bruder Franz jun. Damit war die Harfe fest in den Händen der Brüder Jelinek. Die beiden waren die Söhne des ehemaligen Solobratschisten Franz Jelinek. Ein weiteres Brüderpaar im Orchester waren die Boskovskys: Der Klarinettist Alfred stieß 1936 zu seinem Bruder Willi, mit dem er nach dem Krieg das berühmte Wiener Oktett gründen sollte.
Krauss’ von Mahler übernommene Methode, Musiker von anderen Orchestern abzuwerben, wurde auch von seinen Nachfolgern fortgesetzt. So holten sich die Philharmoniker innerhalb von drei Jahren vier Musiker von den Symphonikern: die Geiger Anton Kamper und Karl-Maria Titze, den Bratschisten Erich Weis und den Cellisten Franz Kvarda, mit anderen Worten das gesamte Wiener Konzerthausquartett, das berühmteste Kammermusikensemble der damaligen Zeit, womit die alte Orchestertradition der Kammermusikensembles aus den eigenen Reihen wieder auflebte. Bei den Symphonikern hatte sich Krauss seinerzeit den Solocellisten Richard Krotschak geholt, zu dem nun sein Kollege Kvarda stieß.
Selten ist es zu so vielen Wechseln von Symphonikern zu Philharmonikern gekommen. Auch der neue Konzertmeister war ein ehemaliges Mitglied des konkurrierenden Orchesters. Wolfgang Schneiderhan wurde 1937 engagiert, um Julius Stwertka nachzufolgen, der ein Jahr vorher in Pension gegangen war. Mit seinen 22 Jahren war Wolfgang Schneiderhan bereits seit vier Jahren Konzertmeister bei den Symphonikern gewesen, als er von den Philharmonikern in die Spitzenfunktion berufen wurde. Nun sorgte er, der als begabtester Geiger seiner Generation in Wien galt, an der Seite Odnoposoffs für die Verjüngung des ersten Pults, wahrscheinlich nicht ohne eine gewisse neidvolle Distanz zu dem drei Jahre Älteren, der bereits über die Aura eines internationalen Konzertgeigers verfügte, die Schneiderhan noch fehlte. Zwar schon Konzertmeister in der Staatsoper, wurde Schneiderhan nicht automatisch Mitglied der Philharmoniker, da er darauf bestand, es unter dem Titel Konzertmeister zu werden. Die Statuten sahen aber nur drei und nicht vier Konzertmeisterstellen vor.
Dieses Orchester mit deutlich verjüngter Alterspyramide erlebte, wie am 12. März 1938 die deutschen Truppen in Österreich einmarschierten: Österreich wurde an das nationalsozialistische Deutsche Reich angeschlossen.