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Der Fall Odnoposoff

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Krauss’ spektakulärste Entscheidung betraf die Konzertmeister. 1934 wies die Konzertmeistergruppe mit Arnold Rosé, 71, Julius Stwertka, 62 und Franz Mairecker, 54, ein Durchschnittsalter von 62 Jahren auf. Krauss ist das Engagement des hervorragenden 19-jährigen Geigers Ricardo Odnoposoff zu verdanken. Der in Buenos Aires geborene Sohn russischer, nach Argentinien ausgewanderter Eltern hatte bei Carl Flesch in Berlin studiert. Obwohl in Berlin, wurde er nach der Wiener Schule unterrichtet, da Flesch ein Schüler von Jakob Grün war. Um am ersten internationalen Violinwettbewerb in Wien teilzunehmen, kam der 18-Jährige im Juni 1932 in die österreichische Hauptstadt. Er gewann den Wettbewerb haushoch und erregte die Aufmerksamkeit von Clemens Krauss, der ihn Ende 1933 engagierte. Über das genaue Datum seines Eintritts und seine Stellung im Orchester herrschte lange Zeit Unklarheit. In der Mitgliederliste der Philharmoniker wird sein Eintritt mit 1. September 1935 vermerkt, in der von Wilhelm Beetz erstellten Personalliste der Oper mit 1. Januar 1934. Man kann also davon ausgehen, dass er anderthalb Jahre warten musste, bis er bei den Philharmonikern aufgenommen wurde. Angesichts seines eher ungewöhnlichen Engagements ohne Probespiel und der Tatsache, dass in den Statuten nicht vier, sondern drei Konzertmeister vorgesehen waren, wäre das durchaus plausibel. Das einzige Mal, als es im Orchester vier Konzertmeister gab, zwischen 1921 und 1925, hatte das nur für die Staatsoper und nicht für die Philharmoniker gegolten. Um die Sache noch komplizierter zu machen, führt das Amtliche Jahrbuch der Bundestheater Odnoposoff, mit dem Vornamen Richard und nicht Ricardo, ab der Saison 1933/34 als Konzertmeister an, aber erwähnt ihn in der Saison 1934/35 nur noch an erster Stelle der Tuttigeiger, mit dem Eintrittsjahr 1934 in Klammern. Clemens Hellsberg spricht in seinem Nachruf von Odnoposoffs erstem Auftritt als Konzertmeister in der Oper bei einer Otello-Aufführung am 25. Dezember 1933! Als Wilhelm Furtwängler jedenfalls bei einem außerordentlichen Konzert der Philharmoniker am 10. Juni 1934 Ein Heldenleben von Richard Strauss dirigierte, vertraute er Odnoposoff das heikle Geigensolo an.

Dank neuer Quellen in den Beständen des Österreichischen Staatsarchivs können die bisher herrschenden Unklarheiten beseitigt werden. Clemens Krauss schrieb in einem Brief an die Theaterverwaltung am 25. Oktober 1933:

Die Direktion erlaubt sich zu melden, daß die Konzertmeisterfrage einer ausserordentlich dringlichen Lösung bedarf. Die Oper besitzt derzeit drei Konzertmeister. Hofrat Rosé, in dessen hohe künstlerische Qualitäten keine Zweifel gesetzt werden können, feiert seinen 70. Geburtstag, sodaß die Direktion auch schon in dieser Richtung gewisse Vorsorgen treffen muss. Regierungsrat Stwertka ist leider nicht mehr in der Lage, den überaus verantwortungsvollen Dienst eines Konzertmeisters zu versehen, sodass es, wie die Direktion zu ihrem Bedauern feststellen mußte, in den abgelaufenen Monaten zu Vorfällen gekommen ist, die sogar im breiten Publikum nicht unbemerkt geblieben sind. Der einzige Konzertmeister, auf den die Direktion noch immer voll und ganz rechnen kann, ist daher Regierungsrat Mairecker, dem aber füglich, selbst bei der noch immer ausserordentlichen Leistungsfähigkeit des Hofrates Rosé, nicht zugemutet werden kann, bei dem größten Teil der schwierigen Opern den Konzertmeister zu versehen. Die Direktion ist unbedingt gezwungen, gerade auf die Versehung dieses Dienstes, bei dem es sich ja auch um solistische Leistungen handelt, das größte Augenmerk zu richten.

Bei diesem Posten könnte eine mindergenügende Besetzung geradezu den Ruf des gesamten Orchesters gefährden. Das Bestreben der gefertigten Direktion muß es sein, im allgemeinen und ganz besonders für diesen Posten eine Persönlichkeit zur Verfügung zu haben, die über den Rahmen eines hervorragenden Orchesterspielers hinausgeht.

Die Direktion glaubt, in der Person des jungen argentinischen Geigers Richard Odnoposoff eine solche künstlerische Persönlichkeit zu kennen. Die Direktion wäre der Ansicht, dass Odnoposoff, der sich in Wien als Pädagoge niedergelassen hat, bereit wäre, einer solchen Berufung Folge zu leisten. Bevor mit Herrn Odnoposoff irgendwelche bindende Abmachungen getroffen werden, und bis zur endgültigen Regelung der etwaigen Pensionierung Prof. Stwertkas, bittet die Direktion um Bewilligung zum Abschluss eines Interimsvertrages mit Hrn. Odnoposoff bis zum Ende der Spielzeit. Während der Dauer dieses Interimsvertrages könnte die Direktion ihr endgültiges Urteil formulieren und dann die entsprechenden Anträge wegen Neubesetzung der Konzertmeisterstelle unterbreiten. Als Bezahlung während dieser Zeit stellt die Direktion einen Betrag vor, der dem Bezug eines Stimmführers entspricht.55

Im folgenden Jahr wurde der Vertrag mit Odnoposoff für die Saison 1934/35 verlängert. In einem Schreiben, das den Personalstand des Orchesters vom 1. September 1934 festhält, wurde die Anzahl der ersten Geigen mit »19+1« angegeben, was in einer Fußnote folgendermaßen erklärt wird: »Der zwanzigste erste Geiger ist Konzertmeister Odnoposoff, probeweise engagiert.« In der Folge kam es zu konfusen Missverständnissen: Die Theaterverwaltung schrieb am 1. März an die Direktion der Oper, warum der Vertrag mit Odnoposoff am 15. Februar gekündigt worden sei. Die Direktion der Oper antwortete, dass die Kündigung »auf den ausdrücklichen Wunsch der Theaterverwaltung« erfolgt sei, da der Finanzminister auf die zusätzlichen Kosten aufmerksam gemacht habe, die durch einen überzähligen Geiger entstanden seien. Aber laut Direktion sei die Situation der Primgeigengruppe ohnehin dabei sich zu ändern. Es bestehe nun die Möglichkeit, ein Probespiel zu organisieren, um den Konzertmeisterposten zu besetzen. Daher bäte sie darum, die Entscheidung, sich von Odnoposoff zu trennen, zurückzunehmen. Anscheinend spielte die Direktion hier auf die bevorstehende Pensionierung Stwertkas an.

Odnoposoff wurde seiner Funktionen nicht enthoben, und durch den überraschenden Tod des Geigers Heinrich Schwarz, der am 23. November 1935 mit 41 Jahren an einer Lungenentzündung starb, wurde bei den Primgeigen eine Stelle frei, wodurch Odnoposoff endlich angestellt werden konnte. Deshalb wurde er auf den Listen des Opernorchesters schon ab Ende 1933 angeführt, auf denen der Philharmoniker jedoch erst Ende 1935. Er führte aber immer noch nicht den Konzertmeistertitel: Erst am 2. Mai 1936 gab die Direktion der Oper der Theaterverwaltung bekannt, dass Julius Stwertka in den Ruhestand gegangen sei, und schlug als seinen Nachfolger Richard Odnoposoff vor, der seit 1935 als Primgeiger engagiert sei und den Dienst eines Konzertmeisters versehe.

Man kann sich leicht vorstellen, dass der 20 Jahre junge russisch-argentinische, in Berlin ausgebildete Geiger eine spektakuläre Neuerung in dieser Musikergemeinschaft verkörperte, deren Konzertmeister alle aus der Habsburgermonarchie stammten. Er wurde zum Star des Orchesters und spielte am 11. März 1936 unter Josef Krips nicht weniger als drei Konzerte am selben Abend: das 4. Violinkonzert von Mozart sowie die Konzerte von Dvořák und Brahms. Einige Monate zuvor, am 2. Dezember 1935, hatte sich Bruno Walter ans Klavier gesetzt, um ihn bei einem Kammerkonzert zu begleiten. Walter ist es auch, der ihm auf der Tournee der Philharmoniker in London im Juni 1937 die von Elisabeth Schumann gesungene Arie L’amerò, sarò constante aus Il Re pastore von Mozart anvertraut. Im selben Jahr 1937 gewann Odnoposoff den 2. Preis des Ysaÿe-Wettbewerbs in Brüssel hinter David Oistrach. Wenn man berücksichtigt, dass Oistrach sich monatelang auf den Wettbewerb vorbereiten konnte, während sich Odnoposoff bis zum letzten Augenblick seinen Verpflichtungen im Orchester widmen musste, war das eine bemerkenswerte Leistung.

Clemens Krauss hatte indes wie seine Vorgänger mit dem chronischen Problem der Solocellisten zu kämpfen. Mit 65 Jahren war Friedrich Buxbaum noch immer der charismatische Solocellist des Rosé-Quartetts, moralische Instanz der Cellogruppe und Erbe der Ära Mahler. Aber er repräsentierte nicht die Zukunft. Walter Kleinecke war erst 43 Jahre alt, aber nicht zu vergleichen mit Buxbaum. 1911 engagiert, hatte er sich erst in den 20er Jahren ans erste Pult vorgearbeitet, zunächst als dritter Solocellist bis zum Ausscheiden von Wilhelm Jeral. Da Jerals Stelle nicht nachbesetzt wurde, gab es im Orchester sieben Jahre lang nur zwei Solocellisten anstatt der vorgesehenen drei, von denen einer nicht mehr der Jüngste und der andere zwar ein guter Orchestermusiker war, aber als Solist wenig Charisma besaß.

In dieser Situation unterzeichneten die beiden Stimmführer Franz Klein und Otto Stiglitz am 15. September 1930 ein Dokument, in dem sie sich verpflichteten, dass bei jedem Konzert einer von ihnen als Verstärkung anwesend sein und im Bedarfsfall, sollten Buxbaum oder Kleinecke verhindert sein, den Solopart übernehmen musste. Da Krauss jedoch der Meinung war, das Orchester sei mit drei Solocellisten besser aufgestellt, wurde von der Staatsoperndirektion vorgeschlagen, den Vertrag des zuletzt engagierten Cellisten Herbert Magg aufzulösen, um nicht die statutenmäßige Zahl von 11 Cellisten zu überschreiten, dafür aber international eine Solocellistenstelle auszuschreiben. Gegen diese Lösung sprachen sich die Mitglieder der Cellogruppe aus, die einem Kollegen die Chance geben wollten, das heißt eine interne Lösung bevorzugten: Rudolf Mayr gewann das Probespiel, ohne jedoch jemals offiziell als Solocellist bestätigt zu werden.

In diesem Augenblick nutzte der Pragmatiker Clemens Krauss die Gelegenheit, um ohne Probespiel Richard Krotschak zu engagieren, den 30-jährigen Solocellisten der Wiener Symphoniker. Dort spielte auch sein Lehrer Paul Grümmer, der 1920 seinerseits kurzzeitig Solocellist bei den Wiener Philharmonikern gewesen war. Um Krotschak engagieren zu können, widmete Krauss die durch die Pensionierung Oscar Saubermanns freigewordene Tutticellistenstelle kurzerhand in eine Solostelle um. Krotschak war in Wien nicht nur ein geschätzter Orchestermusiker, sondern auch ein berühmter Solist. Durch sein Wirken an der Seite von Buxbaum und Kleinecke, ebenso wie durch Odnoposoffs Engagement an der Seite von Rosé, Stwertka und Mairecker wurden die ersten Streicherpulte verjüngt. Krotschak sollte es im Orchester nicht einfach haben, gilt aber heute noch als bedeutendes Orchestermitglied, als großer Lehrer und versierter Quartettspieler. Nach einer ganzen Reihe von Engagements gebürtiger Wiener trat mit Krotschak wieder ein geborener Böhme hinzu. Er stammte aus Iglau, der Stadt, in der Gustav Mahler seine Kindheit verbracht hatte.

Die Wiener Philharmoniker

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