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3.2.2 Graduierung der Orientierungskompetenzen
ОглавлениеDie Orientierungskompetenz weist auf den tieferen Zweck historischen Denkens hin. Sie beschreibt Fähigkeiten, Fertigkeiten und Bereitschaften, mentale Vorgänge lebensweltlich wirksam zu machen. Das manifestiert sich in der Identität des Individuums, die sich dessen Gegenwärtig-Sein verdeutlicht. Kann sich der Mensch in ein Kontinuum einordnen und den eigenen Standort bestimmen, den anderer reflektieren und kritisch nachdenken, was sein Tun in Gegenwart und Zukunft bewirkt, dann verfügt er über Orientierungskompetenz.391 Körber meint, in diesem Fall gelinge es, Erkenntnisse nutzbar zu machen und den Schritt vom „[…] case-knowledge zu operablem Wissen“392 zu tun. In der Logik des Kompetenz-Strukturmodells ist „Orientierung“ zwar das finale Produkt mentaler Prozesse historischen Denkens, das bedeutet aber nicht, dass diese Kompetenz „höherwertiger“ ist, zumal Orientierung bei jeder Anwendung jeder Art von Kompetenz auf jeder Stufe der Entwicklung erfolgt. Der Graduierungsparameter ist daher, „[…] in welcher Art und mit welchem Reflexionsgrad derartige Bezüge hergestellt werden“.393 Orientierungskompetenz verlangt nicht die permanente Revision eigener Geschichtsbilder, aber eine reflektierend-kritische Haltung samt der Bereitschaft, bei plausiblen neuen Einsichten, Änderungen vorzunehmen. Auch eine begründete Nicht-Änderung ist Ausdruck hoher Kompetenz.394 Es werden vier Teilkompetenzen unterschieden:
Re-Organisation des Geschichtsbewusstseins:
Dabei handelt es sich um die „Kompetenz zum Umbau des Geschichtsbewusstseins“.395 Sie kann sowohl Folge der Bearbeitung historischer Fragen (methodengeleitete Erkenntnis) als auch einer Metareflexion (z. B. Diskussion) sein. Beide Vorgänge können zu Ergänzungen, Erweiterungen und Differenzierungen des Geschichtsbewusstseins führen. Ihre Anwendung, dürfte eine Zunahme der Fähigkeit des selbstständigen Umgangs mit historischen Fragestellungen und zur Analyse lebensweltlicher Erfahrungen bewirken. Entscheidend für den Grad der Kompetenzentwicklung ist die Bereitschaft zu Veränderung und die Beherrschung von Mechanismen der Umstrukturierung eigener Geschichtsvorstellungen.396
Das „Nullniveau“ beschreibt die völlige Unfähigkeit und die fehlende Bereitschaft, das Geschichtsbewusstsein zu revidieren. Das kommt de facto nicht vor, denn bei jedem Denkvorgang über Vergangenes oder Geschichte gibt es automatisch Abläufe des Ineinandergreifens von Denkprozessen mit eigenen Erfahrungen. So entstehen „subjektive Geschichten“,397 die bereits über dem „Null-Niveau“ angesiedelt sind. Auf „basalem Niveau“ besitzt man die Erkenntnis, dass historisches Denken Auswirkungen hat, wobei Denkprozesse weitgehend folgenlos bleiben. Gesellschaftlich anerkannte (Denk-)Verfahren werden nicht in Anspruch genommen, die mentalen Prozesse verlaufen unsystematisch und spontan, situativ, vielfach zufällig. Aber es ist die grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft erkennbar, Erkenntnisse aus historischem Denken mit dem eigenen Repertoire an Prinzipien, Kategorien, Konzepten und Verfahrens-Scripts in Beziehung zu setzen, also Geschichtsbewusstsein zu verändern. Auf „intermediärem Niveau“ suchen Denkende aktiv nach anerkannten Verfahren und sind bereit, sich diese anzueignen, sie zu erschließen und nicht-konventionelle Vorstellungen durch konventionelle zu ersetzen, sowie darüber zu kommunizieren. Eine Revision des Geschichtsbewusstseins erfolgt nach konventionellem Muster (z. B. durch Lesen von Fachliteratur, Nutzung von Expertenwissen, anerkannten Institutionen etc.). Auf diesem Niveau sind Menschen in der Lage, historische Fragen zu beantworten, sich in der Vergangenheit zurecht zu finden und Orientierung für Gegenwart und Zukunft zu lukrieren. „Elaboriertes Niveau“ weist die Fähigkeit nach, auf der Basis bestehender Erkenntnisse, Geschichtsbewusstsein selbstständig um neue Dimensionen zu erweitern, die eingeübten Formen des Lernens zu überschreiten und so in einen Bewusstseinszustand zu geraten, in dem gesellschaftliche Konventionen das Denken nicht mehr dominieren. Deren Überschreiten hat um der Erkenntnis willen zu geschehen. Zudem bedarf es der Bereitschaft, sein Geschichtsbewusstsein auch auf die Gefahr hin zu verändern, dass das Ergebnis der Forschungen keine Anerkennung findet. Körber weist darauf hin, dass dieser Grad der Fähigkeit Geschichtsbilder zu re-organisieren hauptsächlich in der Geschichtswissenschaft und bei geschichtskulturellen Be- und Verarbeitungsformen historischer Fragen vorgefunden wird. Elaboriert ist der Umgang mit einem historischen Thema auch dann, wenn daraus Fragestellungen erwachsen, aus denen „[…]eigenständige, neue, die gesellschaftliche Diskussion erweiternde Konzepte und Kategorien entstehen und für das eigene (wie das gesellschaftliche) Handeln Bedeutung erlangen können […]“.398 Das betrifft auch den Umgang mit Geschichtspolitik, Erinnerungskultur, Vergangenheitspolitik etc.399
Revision des Welt- und Fremdverstehens:
Die Teilkompetenz „Welt- und Fremdverstehen“ beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft, konkrete Vorstellungen über Vergangenheit, Zusammenhänge in der Vergangenheit und zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überprüfen und die daraus erwachsenen Geschichtsbilder eventuell zu revidieren. Dazu ist es nötig zu erkennen, welche Operationen zu eigenen Urteilen geführt haben und wie die Beziehung zwischen altem und revidiertem Geschichtsbild aussieht. Auch in diesem Fall bestimmt nicht eine vermeintliche Qualität des Geschichtsbildes das Niveau, sondern die Bereitschaft, die Revisionsnotwendigkeit von Vorstellungen aufgrund neuer Erkenntnisse als Haltung sich zu eigen zu machen. Das gelingt, wenn der Denkende um die Historizität der bis dahin dominanten Geschichtsauffassung weiß. Die Konfrontation mit eigenen Werten und Normen, persönlichen Vorstellungen über Vergangenheit und Gegenwart, eigenen Handlungsweisen und mit dem Verständnis für deren Geworden-Sein im Zuge der Sozialisation ist die Voraussetzung dafür, eine Haltung prinzipieller Revisionsbereitschaft für Geschichtsauffassungen aufzubauen.400 So könne man „[…]zu einem eigenen Verhältnis zwischen Anerkennung des Vergangenen und sicherem gegenwärtigen Urteilsvermögen gelangen“.401
Auf „Nullniveau“ findet keine Veränderung des Urteils über Welt und Menschen durch neue Erkenntnisse, keine Differenzierung und somit kein (historisches) Denken statt. Auf „basalem Niveau“ gibt es kleinere Änderungen, etwa durch additive Erweiterung des Wissens, verbunden mit raschen Urteilen.402 Es entsteht zwar ein „[…] Spannungsverhältnis von alten und neuen Informationen […]“,403 aber es gibt keine Auseinandersetzung damit. „Intermediäres Niveau“ ist erreicht, sobald konventionelle Instrumente der Urteilsfindung genutzt und die Ergebnisse von Denkvorgängen dazu verwendet werden, plausible Deutungen zu formulieren. Auf diesem Niveau haben Denkende die Fähigkeit, sich Denkmuster anzueignen, zu verstehen, kritisch zu prüfen und mit deren Hilfe Urteile zu bilden. Auf „elaboriertem Niveau“ gelingt es, die konventionellen Instrumente und Muster zu reflektieren und zu differenzieren und über sie hinauszugehen, also „[…] eigenständige differenzierte Deutungen in das eigene Geschichtsverständnis […]“ einzubauen. Es ist nicht der Inhalt oder der Umfang des Wissens entscheidend, „[…], sondern die Art und Weise, zu einem neuen Weltbild zu gelangen.“,404 also das selbstständige Entwickeln von plausiblen Deutungen.405
Revision und Reflexion historischer Identität:
Die Anwendung dieser mentalen Operation ist ein Akt der Identitätsbildung, der wirkmächtig wird, sobald es, laut Paul Ricoer,406 gelingt, einen narrativen Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Identitätskonstruktionen herzustellen. Konkret bedeutet das die Reflexion des eigenen Standpunktes bei Vorgängen der Re-Konstruktion und die kritische Würdigung der vorhandenen Angebote im Falle von De-Konstruktion. Beide Wege können zu einer partiellen Revision eigener Identität führen.407
Auf „Nullniveau“ sieht man sich nicht zeitlich verortet, es fehlt jeglicher Bezug zur genuin historischen Kategorie Zeit, sodass die Konfrontation mit Geschichte folgenlos bleibt. „Basales Niveau“ ist erreicht, wenn man spontan, unsystematisch, partiell reagiert, sobald man mit einer historischen Narration in Beziehung tritt. Es gibt keine Anwendung von Konventionen, eine eventuelle Zuordnung zu einer „Wir-Gruppe“ wird als gegeben angenommen. Auf „intermediärem Niveau“ wird die Zuordnung zur „Wir-Gruppe“ zwar weiterhin als feststehend empfunden, ein Wechsel aufgrund historischer Narrationen kommt jedoch in Betracht, sofern diese alternative, aber fest gefügte Modelle anbieten. Diese Niveaustufe beschreibt die Fähigkeit, eine Gruppe zu tauschen, nicht aber beide miteinander zu etwas Neuem zu verknüpfen. Auf „Elaboriertem Niveau“ vermag man konventionelle Formen auf Sinnhaftigkeit und Plausibilität hin zu überprüfen, Differenzen und Widersprüche zu erkennen und zu benennen und gegebenenfalls neue Formen der Identitätskonstruktion zu bilden.408
Historische Reflexions- und Handlungskompetenz:
Da der Umgang mit Geschichte nichts Passives sein soll, meint die Teilkompetenz die Möglichkeiten der Reflexion des gegenwärtigen Handelns, dessen Ausrichtung auf die Zukunft und gegebenenfalls die Revision des Handlungs-Repertoires bzw. der Dispositionen. Das betrifft das Zugreifen-Können auf historische Handlungsvorbilder und die Begründung des eigenen Tuns mit Hilfe historischer Deutungs- und (oder) Sinnmuster. Wesentlich ist das Bewusst-Werden von Bedingungen, Intentionen und Strategien und die Einsicht, dass Handlungsdispositionen (und das Handlungsrepertoire) veränderbar sind.409
Im Fall des „Nullniveaus“ gibt es weder eine Handlungsdisposition noch ein Handlungsrepertoire. Auf „basalem Niveau“ wird zwar agiert, man sucht aber bloß nach Rechtfertigungen für sein Tun. „Intermediäres Niveau“ ist erreicht, wenn das Individuum die „[…] Eignung von Geschichte als handlungsleitendem Erfahrungsraum mit Hilfe gesellschaftlich anerkannter Argumente […]“410 wahrnimmt und mit gesellschaftlich üblichen Methoden („Fachwissen“) nach Vorbildern Ausschau hält. „Elaboriertes Niveau“ weiß um gesellschaftliche Begründungen für historische Fundierung des Handelns. Denkende Individuen vermögen es, die Argumente hinsichtlich ihrer Konsistenz, ihrer Plausibilität und ihres Interessenausrichtung kritisch zu überprüfen. Schreiber unterstreicht, dass die Graduierung der Orientierungskompetenz das Überschreiten der Wissensdimension über Vergangenes durch historisches Denken und ihre Identitäts- und Handlungsrelevanz für das Individuum deutlich macht.411