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4.3.2 Standpunkte von Bildungsexpert*innen
ОглавлениеNeben des öffentlichkeitwirksamen medialen Diskurses um die kompetenzorientierte Reifeprüfung setzte auch eine eher verhalten geführte Bildungsdiskussion ein, die sich mit der Grundsatzfrage nach dem Zweck von Bildung und der damit verbundenen Ausrichtung des österreichischen Schulsystems beschäftigte. Es formierten sich zwei Positionen, die die Pole der kritischen Auseinandersetzung repräsentierten. Auf der einen Seite versammelten sich die dem Humboldt’schen Bildungsideal verpflichtet fühlenden Proponenten aus Philosophie, Pädagogik und Psychologie. Sie fürchteten um den Fortbestand eines an den Idealen der Aufklärung und der deutschen Klassik orientierten neohumanistischen Bildungszieles der Schule. Ihnen gegenüber formierten sich jene Proponent*innen der Wissenschaftler*innen, die die kompetenzorientierte Reifeprüfung als Kristallisationspunkt der Erneuerung von Bildung beurteilten. Die Gegensatzpaare hießen demnach in symbolisch aufgeladener begrifflicher Zuspitzung: „Humboldt“ versus „Homo oeconomicus“. Die Gruppe der neohumanistisch orientierten Kritiker der Bildungsreform sah und sieht Standardisierung von Bildung und Messung der Erreichung bzw. Nichterreichung vorgegebener Standards ein Instrument der „Ökonomisierung des Wissens“.471 Das gilt auch für die kompetenzorientierte Matura. Zu ihren Exponenten zählt der Philosophie-Professor Konrad Paul Liessmann.472 Liessmann sieht mit den österreichischen Bildungsreformen seit 2008 den Exitus der humanistischen Bildung für eingetreten und stellt diesen Befund in einen größeren Kontext schulischer und universitärer Entwicklungsprozesse. Als Sukkus seiner jahrelangen Auseinandersetzungen mit Bildungsreformen hat er den Standpunkt entwickelt, Kompetenzorientierung sei die Antithese zu Humboldts humanistischer Bildungstheorie, gleichsam eine „Theorie der Unbildung“. Zwar räumt Liessmann ein, dass Bildung im Humboldt’schen Sinn, nämlich die Entfaltung des Menschen als Ganzem (mit Körper, Seele und Geist) im schulischen Kontext nie umgesetzt worden sei und folgt darin einer Kritik Theodor W. Adornos an der Wirkungslosigkeit des humanistischen Gymnasiums in Deutschland. Adorno habe ihm bereits in den 1960er Jahren vorgeworfen, den humanistischen Bildungskanon bloß doziert, nicht aber internalisiert zu haben. Das Resultat sei Halbbildung gewesen. Und Adorno habe gewarnt: „Das Halbverstandene und Halberfahrene ist nicht die Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind“.473 Liessmann schließt daran an und meint, dass ab dem 1960er Jahren die österreichischen Schüler*innen nach einem „Konzept der Halbbildung“ unterrichtet worden seien, das durch ein „Sammelsurium von Reizen, Zugängen, Anregungen und Aufhängern“474 beeinflusst gewesen sei. Aber statt Mängel zu bereinigen, sei die Bildungspolitik daran gegangen, sich von der vermeintlich überkommenen Bildungsidee abzuwenden und an deren Stelle „Kompetenzen“ zu setzen. Zwar begrüßt Liessmann prinzipiell das Bestreben, die Entwicklung von Fähigkeiten zu fördern. Da dieses Ziel jedoch von ökonomischen Überlegungen geleitet sei, deren programmatisches Ziel es wäre, bewusst Geist aus dem Schulunterricht zu elidieren, sei aus dem Unterrichtsziel „Bildung“ nach der Stufe der „Halbbildung“ nun „Unbildung“ erwachsen. Liessmann legt Wert darauf festzuhalten, dass sein „Unbildungs-Begriff“ nicht mit Dummheit verwechselt werden darf. „Unbildung ist deshalb kein intellektuelles Defizit, kein Mangel an Informiertheit, kein Defekt an einer kognitiven Kompetenz […], sondern der Verzicht darauf, überhaupt verstehen zu wollen. […]. Das Wissen der Wissensgesellschaft definiert sich vorab aus seiner Distanz zur traditionellen Sphäre der Bildung. […]. Das, was sich im Wissen der Wissensgesellschaft realisiert, ist selbstbewusst gewordene Bildungslosigkeit.“475 Und Liessmann findet es zynisch, dass sich just jene Gesellschaft, die sich programmatisch von Wissen abzuwenden anschicke, gern als „Wissensgesellschaft“ sehe. Es gebe eine Umdeutung des Wissensbegriffs. „Eine Gesellschaft, die sich selbst durch das ‚Wissen‘ definiert, könnte als eine Sozietät gedacht werden, in der Vernunft und Einsicht, Abwägen und Vorsicht, langfristiges Denken und kluge Überlegung, wissenschaftliche Neugierde und kritische Selbstreflexion, das Sammeln von Argumenten und Überprüfen von Hypothesen endlich die Oberhand über Irrationalität und Ideologie, Aberglaube und Einbildung, Gier und Geistlosigkeit gewonnen haben“.476 Doch die derzeit geformte „Wissensgesellschaft“ strebe weder nach Selbsterkenntnis oder „geistige(r) Durchdringung der Welt“477 noch begebe sie sich auf die Suche nach Wahrheit, sondern sie scheine mit der Interpretation von Daten ihr Auslangen zu finden, sofern das Ergebnis so rasch als möglich praktisch nutzbar ist. Daher meine ihr Wissensbegriff eigentlich „Information“, deren Beschaffung und Deutung automatisiert zu erlernen sei. Liessmann bewertet dieses Phänomen als „praktischen pädagogischen Nihilismus“,478 Der Lernvorgang stehe im Vordergrund und sei weitgehend von Inhalten abgekoppelt. Er folge der industriellen Produktionslogik, der „[…] tendenziell mechanisierte(n) und automatisierte(n) Herstellung von identischen Produkten unter identischen Bedingungen mit identischen Mitteln“.479 Sichtbarer Ausdruck eines an maschinellen Parametern orientierten Bildungsprozesses seien Standardisierungen, Teamwork (Produktionsbrigaden in Fabriken) und Leistungspunkte (die ECTS-Anrechnungspunkte). Da diese Vorhaben wissenschaftliche Reputation benötigten, um anerkannt zu werden, würden sich die Proponenten gerne auf naturwissenschaftliche Verfahren berufen, was sich als klug erwiesen hat, denn naturwissenschaftliche Methoden hätten eine Nähe zu ökonomischen Abläufen. Liessmann vermutet daher, dass Wissenschaft und Schulunterricht in letzter Konsequenz bewusst zu Dienstleistern gewandelt werden sollen, was zu einer „[…] Unterwerfung des Wissens unter die Parameter der kapitalistischen Ökonomie, die nur dort dem Wissen gegenüber freundlich agieren wird, wo dieses unmittelbar verwertet werden kann“. Damit würde das „Wissen selbst entmündigt“.480 Die Maturareform wird von Liessmann als ein Baustein der Änderung der Bildungsvorgänge gesehen.481
Der Argumentation Liessmanns folgt die Standesvertretung der AHS-Lehrer*innen in Österreich. Eckehard Quin sieht das Ziel der Bildungsreformen in der Heranbildung eines „Homo oeconomicus“.482 Der Mensch würden einer Maschine gleich konditioniert. Jedes „Modell der Wirtschaftswissenschaften und der Spieltheorie“483 sei konstruktivistisch und kenne keine herauszufindende Wahrheit, sondern auf ökonomische Funktionsweisen vom Mensch-Sein. An die Erwartung, dass diese Gefahren den Verantwortlichen bewusst sind, knüpft Quin einen gewissen Optimismus, eine Art humanistischer Zugang würde Denken zu erhalten helfen.484 Ökonomische Motive vermutet auch der Sozialwissenschaftler Philipp Ikrath als Motor der Bildungsreform, denn der Auslöser sei die PISA-Studie gewesen, eine Bildungsuntersuchung im Auftrag der OECD, das Stimulieren von Wirtschaftswachstum in den Artikel 1 ihrer Satzungen schreibt. Ikrath glaubt, es gehe um eine Transformation von „Bildung“ zu „Ausbildung“ und damit um die Formung von „engstirnigen Technokraten“.485 „Die ‚kontemplativen‘ Gegenstände können sich nur mehr dort behaupten, wo ihnen die Naturwissenschaften, die inzwischen an der Spitze der Nahrungskette stehen, eine Nutzenbescheinigung ausstellen“.486 Kurios findet er den Umstand, dass soziale Disparitäten beim Zugang zu Bildung dafür missbraucht würden, „[…] individuelle Eigenwilligkeiten, also das typisch Störrische der Jugendphase, zugunsten von stromlinienförmigen, normierten und standardisierten Beliebigkeiten auszulöschen. Der Mangel an protestierenden Revoluzzern und unkonventionellen Querköpfen […]“487 sei die gewünschte Folge. Auch Liessmann nimmt an, dass hinter der Reform den Wunsch einer Interessengruppe steht, mittels einer gezielt gesteuerten Kampagne gegen humanistische Bildungsideale das archetypisch gewordene Humanitätsideal (Freiheit und Demokratie) zu zerstören. An die Spitze dieser Bewegung habe sich ein kleiner Kreis selbsternannter Bildungsexperten gesetzt, der rege Aktivitäten entfalte, das Ohr der Massenmedien habe und Einfluss auf die Politik ausübe. Das Mantra, die Schule sei veraltet und vernichte Talente, würde denen nutzen, die eine „[…] zunehmende Identifizierung von Lernen und Leben“ wünschten. Das dürfe aber nicht das ausschließliche Ziel von Schule sein. Liessmann wünscht sich Schulen als Orte, „[…] die es erlauben, jenseits der Dringlichkeiten des Tages Kenntnisse zu erwerben und Geheimnisse der Welt zu erforschen.“488 Sie müssten Kreativität fördern und Originalität zulassen. Auch aus der Schulpädagogik wurden Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Reform angemeldet. Bernd Hackl geht von der Annahme aus, dass Schule Änderungen nötig habe, das Paradigma der Kompetenzorientierung erscheine ihm dafür ungeeignet.489 Stattdessen müsse das Bildungssystem motivierender und fördernder werden und sich an den Bedürfnissen der Jugendlichen orientieren. Eine moderne Schule solle mit den Ressourcen haushalten, Jugendliche als eigenständige Persönlichkeiten wahrnehmen und danach trachten, dass sie gern besucht würde.490 Es sei jedoch zu befürchten, dass man Test-Druck aufbaue und damit „[…] effiziente Ineffektivität: Alle lernen immer schneller ein größeres Pensum zu erledigen, aber dieses Pensum wird immer mehr zur sinnentleerten ‚to-do-list‘, deren Abarbeitung kein wirkliches Erschließen der Welt mehr verbürgt.“491 Und ein testungsgeprägtes System fördere Konkurrenzverhalten, denn an die Stelle von Solidarität trete „[…] kompetitive Gleichschaltung: Jeder ist für sich ganz alleine verantwortlich, aber um zu bestehen, muss er sich so opportunistisch wie möglich anpassen.“492 Der herausfordernden Mühe erkenntnisgenerierenden Lernens würden sich junge Menschen nur dann unterziehen, wenn es gelingt, eine motivierende Spannung aufzubauen und zu erhalten. Die Unterrichtsreform hat aber keinen der pädagogischen Parameter Muße, Solidarität und Freud im Fokus, sondern die Ergebnisse. Und auch Hackl spricht ein Verdikt aus: „Was als allgemeine Hebung des gesellschaftlichen Bildungsniveaus propagiert wird, erweist sich bei genauerer Analyse nämlich als maßgeschneidertes Instrumentarium ökonomischer Bedarfsdeckung […] für die Casinogesellschaft“.493 Dass eine kompetenzorientierte Matura die Studierfähigkeit der Maturant*innen verbessern wird,494 glaubt Herbert Weiss (Standesvertretung der AHS-Lehrer*innen) nicht, denn ein einheitlich hohes Leistungsniveau könne nur dann erreicht werden, wenn es „[…] den passenden Einheitsunterricht gäbe“.495 Außerdem konvergierten die Postulate inhaltlicher Individualisierung des Unterrichts und Standardisierung der Prüfungsformate nicht. Dieser Widerspruch bedinge in der Praxis eine Reduzierung der Anforderungen bei den Prüfungsaufgaben, ein Qualitätsverlust, der sich auf das gesamte Bildungssystem auswirke. „Wenn die Zentralmatura den gefürchteten Niveauverlust bringen sollte, werden weitere Zugangsbeschränkungen und Aufnahmeverfahren wohl unvermeidlich sein.“496 Schließlich wird Sorge im Umgang mit den Lehrpersonal artikuliert. Den Aspekt der Motivation thematisiert Quin, wenn er der OECD vorwirft, Schule mittels „Soft Governance“ manipulieren zu wollen. Tests und Ergebnis-Vergleiche erzeugten Druck, denn schlechte Ergebnisse würden den Leistungen der Lehrpersonen zugeschrieben. „Das gemahnt an die altbekannte Methode des öffentlichen Prangers: Fehlverhalten gegenüber dem durch PISA aufgestellten Kodex in Form schlechter Testergebnisse wird medial bloßgestellt.“497 Um Brüskierung zu entgehen, würden Lehrende mit „teaching to the test“ reagieren. Außerdem führe die Teilung des Fächerkanons in standardisierte und nicht standardisierte zur Umschichtung von Ressourcen zu Standardfächern, aber auch zum Versuch einzelner Personen, das System zu umgehen.498 Bildungswissenschaftler Stefan Thomas Hopmann schließlich bezweifelt, dass irgendwelche Ideale an der Wiege der Reform gestanden hätten. Er unterstellt der Politik die Intention, das Bildungssystem disziplinieren und auf diese Weise Effizienz erzwingen zu wollen.499 Man habe ein Verständnis von Schule als einem Refugium für „Minderleister“, was es durch ein Bündel von Maßnahmen zu beseitigen gelte. „Vom Pflichtkindergarten bis zur Bildungspflicht ist die Logik immer die gleiche. Unterstellt wird, dass die Beteiligten – Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler, Eltern – weniger leisten, als man von ihnen füglich erwarten darf.“500 Die Einführung der kompetenzorientierten Reifeprüfung sieht Hopmann als Teil des Versuchs, das Schulsystem unter Kontrolle zu bringen. Er vermutet jedoch, dass das Gegenteil erreicht werden wird. Wolle man mehr Motivation und Schubkraft auslösen, dann sollten die Schulen ausreichend Autonomie bekommen, um ihre Qualität zu verbessern.
Die Bildungspolitik betont, mit dem Format der kompetenzorientierten Reifeprüfung ein Modell gefunden zu haben, welches das Bildungssystem sanft modifizieren würde. Die kompetenzorientierte Reifeprüfung garantiere Objektivität, Transparenz und Vergleichbarkeit und sei damit aussagekräftiger als die bisherige Matura. Sie ermögliche eine auf Dauer angelegte Sicherung von Kompetenzen, steigere die Qualität schulischer Arbeit und erlaube einen europaweiten Vergleich der Leistungen. Sowohl schulautonome Schwerpunkte als auch individuelle Bedürfnisse der Schüler*innen fänden Berücksichtigung und es werde dem Interesse der Bildungspolitik entsprochen, die Erreichung von Bildungszielen zu messen. Die Entscheidung, Kompetenzüberprüfungen an das Ende der Schullaufbahn zu setzen, wird mit der Gewährleistung ungestört ablaufenden Unterrichts begründet. Es gehe nicht um Interventionen in Arbeitsprozesse, sondern um die Sicherung der Qualität des Bildungssystems.501
Vor dem Hintergrund massiver Kritik an schulischer Qualitätsentwicklung via Governance, vor allem durch die Milieus der „pädagogischen Professionellen“, weist Martin Heinrich darauf hin, dass die Reform zu scheitern droht, wenn es nicht gelingt, das Prinzip der Kompetenzorientierung mit der Idee von Allgemeinbildung zu verknüpfen. Die Krise der Bildung werde kaum durch formale Garantien schulischer Leistungen bewältigbar sein, sondern mittels Akzeptanz durch die Lehrenden. Der Schulterschluss von Organisation und Profession bedarf des Nachweises der Relevanz der Veränderung, ausreichender Unterstützung für den Unterricht und eines respektvollen Umgangs miteinander. 502