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4.4.2 Die autoritativen Vorgaben

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In Österreich hat jede Lehrperson die Freiheit der Wahl der Unterrichtsmethoden, um den Bildungsertrag sicherzustellen.510 Die Bildungsziele sind Produkte eines gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses, werden in den Lehrplänen festgelegt und verpflichtend vorgegeben. Daher gilt es, die legistischen Bedingungen und deren Bedeutung für den kompetenzorientierten Geschichtsunterricht zu erörtern. Jede Lehrperson, die vor die Aufgabe gestellt ist, eine Reifeprüfung abzuhalten, hat in der inhaltlichen Vorbereitung und der Durchführung der Prüfung drei autoritative Ebenen – das „dreifache(s) Konformitätspostulat“511 – zu berücksichtigen, nämlich die gesetzlichen Bestimmungen, die daraus erwachsenen Verordnungen und die Empfehlungen für die Unterrichtspraxis. In Österreich ist die gesetzliche Grundlage des Unterrichts im öffentlichen Schulwesen das Schulunterrichtsgesetz (SchUG) aus 1962, ein Rahmengesetz, das u. a. das „abschließende Prüfungswesen“ regelt. Mit der Novelle vom 19. Juli 2010 wurde es geändert, um die Reifeprüfung in einigen Fächern zu zentralisieren, eine verpflichtende abschließende Arbeit mit semi-wissenschaftlichem Charakter zu implementieren und kompetenzorientierte Prüfungsverfahren für alle Teile der Maturitätsprüfung zu ermöglichen. Der §37 regelt Prüfungsgebiete, Aufgabenstellungen und den Prüfungsvorgang in allgemein gehaltenen Bestimmungen. Das didaktische Prinzip der Kompetenzorientierung wird darin nur andeutungsweise erkennbar, wenn es in Abs. 3 heißt: „Die Prüfung ist so zu gestalten, dass der Prüfungskandidat bei der Lösung der Aufgaben seine Kenntnisse des Prüfungsgebietes, seine Einsicht in die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Stoffgebieten sowie seine Eigenständigkeit im Denken und in der Anwendung des Lehrstoffs nachweisen kann.“512 Die Novelle eröffnete der Bildungspolitik jedoch die Möglichkeit, auf Verordnungswege „[…] die näheren Bestimmungen über die Prüfungsgebiete, die Aufgabenstellungen und die Durchführung der Prüfungen festzulegen“.513 Und so erfolgte mit der Reifeprüfungsverordnung (RPVO) vom 30. Mai 2012 eine Definition dessen, was das österreichische Bildungsministerium unter kompetenzorientierten mündlichen Prüfungen verstanden wissen will, formuliert im §29/1. „Im Rahmen der mündlichen Teilprüfung ist jeder Prüfungskandidatin und jedem Prüfungskandidaten im gewählten Themenbereich eine kompetenzorientierte Aufgabenstellung, welche in voneinander unabhängige Aufgaben mit Anforderungen in den Bereichen der reproduktions- und Transferleistungen sowie der Reflexion und Problemlösung gegliedert sein kann, schriftlich vorzulegen“.514 Es ist festzuhalten, dass das Ministerium seiner Kompetenzdefinition die deutschen EPA-Kriterien515 zu Grunde legt. Auch in Österreich wird die Kompetenzmessung im Rahmen der Reifeprüfung durch AFB gestaltet. Es fällt auf, dass die Formulierung des §29/1 der RPVO keine inhaltliche Gewichtung verlangt. Man kann die Verordnung so lesen, dass zwei gleichrangige strukturelle Gliederungselemente (Reproduktion und Transfer sowie Reflexion und Problemlösen) gewünscht sind, oder auch drei (Reproduktion, Transfer, Reflexion und Problemlösen). Klar ist, dass die Aufgabenstellung gemäß den (zwei oder drei) AFB gestaltet werden muss. Die Konfiguration ist dem*der Autor*in der Aufgabenstellung überlassen. Eine Strukturierung nach TA ist zwar gewünscht, aber nicht vorgegeben („… gegliedert sein kann“516). Schließlich ist eine Gewichtung der Anforderungen, wie sie die EPA vorsieht, oder ein Hinweis auf zu erreichende Niveaustufen, wie Friedrich Öhl das aus seiner Empfehlung zum diagnostischen Umgang mit den AFB und den Operatoren angeregt hat,517 aus den offiziellen Vorgaben nicht ablesbar.

Ungeachtet des Fehlens von Aussagen zu Kompetenzniveaus, ist die Prüfungsleistung der Kandidat*innen zu beschreiben, zu gewichten und einschätzend zu beurteilen. Die Grundlage dafür bietet die 1974 erlassene Leistungsbeurteilungsverordnung (LBVO), die jedoch nicht als Instrument der Kompetenzmessung konzipiert worden war. Zwar ist in den Grundsätzen festgehalten, der „[…] Maßstab für die Beurteilung sind die Forderungen des Lehrplans“,518 sodass man prinzipiell aus dem Bildungsplan Hinweise auf Kompetenzen und Kompetenzgrade ableiten kann.519 Prüfende sind vor der Herausforderung gestanden, ein persönliches System zu entwickeln, das die Überführung manifest gewordener Kompetenzen in die Beurteilungsstufen der LBVO erlaubt.520 Eine Orientierungshilfe bietet die Arbeitsgruppe der Geschichtsdidaktiker*innen (Künftig: AG). Sie weist dem Aspekt der Eigenständigkeit der Schüler*innen-Leistung die Schlüsselrolle in der Urteilsfindung zu, er bilde das Relais zwischen der Leistungsdefinition der LBVO und den Zielen der Kompetenzorientierung.521 Leistungen sind demnach mit „Sehr gut (1)“ zu beurteilen, wenn der*die Schüler*in die Aufgaben: „[…] in weit über das Wesentliche hinausgehendem Ausmaß erfüllt und […] deutliche Eigenständigkeit bzw. die Fähigkeit zur selbständigen (sic!) Anwendung seines Wissens und Könnens auf für ihn neuartige Aufgaben zeigt“. Mit „Gut (2)“ sind Leistungen zu beurteilen, wenn der*die Schüler*in die Aufgaben in „[…] über das Wesentliche hinausgehendem Ausmaß erfüllt und […] merkliche Ansätze zur Eigenständigkeit […] zeigt“. Mit „Befriedigend (3)“ ist zu beurteilen, wenn der*die Schüler*in die Aufgaben „[…] in den wesentlichen Bereichen zur Gänze erfüllt; dabei werden Mängel in der Durchführung durch merkliche Ansätze zur Eigenständigkeit ausgeglichen“. Mit „Genügend (4)“ ist zu beurteilen, wenn der*die Schüler*in die Anforderungen der Aufgaben „[…] in den wesentlichen Bereichen überwiegend erfüllt“. Mit „Nicht genügend (5)“ ist zu beurteilen, wenn der*die Schüler*in „[…] nicht einmal alle Erfordernisse für die Beurteilung mit Genügend erfüllt.“522 Öhl kritisiert die fehlende Konsistenz von Anspruch und Recht, wenn er feststellt, dass die LBVO eine positive Prüfungsbeurteilung auch bei ausschließlich reproduktiver Leistung (Wiedergabe des im Unterricht vorgetragenen bzw. erarbeiteten inhaltszentrierten Lehrstoffs) erlaubt. Sie ermöglicht aber Aufgabenstellungen, die Argumente evozieren und somit das „[…] Herausarbeiten von Prämissen und Denkmustern für die Zuordnung einer besonderen Bedeutung“523 und deren Reflexion. Werden entsprechende Aufgaben konzipiert, schlägt Öhl die „[…] Plausibilität und Triftigkeit von Argumenten und Gegenargumenten und deren Reichweite und Folgerichtigkeit“524 als Bewertungskriterien vor. Damit werde nicht eine (oberflächliche) „Meinung“ beurteilt, sondern die „Fähigkeit, einen […] Standpunkt schlüssig und unter Heranziehung geeigneter Faktoren zu argumentieren und zu reflektieren“.525 Auf diese Weise könnte eine „historische Denkleistung“526 sichtbar gemacht, gestuft und bewertet werden.527 Staatlich verordnet ist eine Passung von Kompetenzmessung und Leistungsbeurteilung nicht. Für eine*n Prüfende*n ergibt sich aus den amtlichen Bestimmungen der Auftrag zur Konzeption kompetenzorientierter Aufgabenstellungen, deren Charakteristikum die Berücksichtigung der AFB ist. Aus den Antworten der Kandidat*innen ist eine Leistungseinschätzung zu gewinnen, die in die Beurteilungsstufen der LBVO übergeführt werden muss. Das Kompetenzmodell und die Stufung der Kompetenzen sind nicht explizit berücksichtigt.

Der Bereich der Lehrpläne war im Untersuchungszeitraum (2015) eine merkwürdige Situation charakterisiert. Im Lehrplan der Sekundarstufe II, in der im Unterricht auf die Matura vorbereitet wird, war Kompetenzorientierung nicht verankert, sieht man davon ab, dass in der „Bildungs- und Lehraufgabe“ von „politische(r) Handlungskompetenz“ die Rede gewesen ist. Einen Bezug auf ein fachdidaktisches Kompetenzmodell gibt es nicht.528 Demgegenüber heißt es im Lehrplan der Sekundarstufe I seit 2008,529 der Unterricht habe den Schülern zu ermöglichen, „[…] historische und politische Kompetenzen zu erwerben“.530 Er listet die Kompetenzbereiche nach FUER auf und beschreibt sie in prägnanter Weise. Die Lehrpersonen werden ausdrücklich dazu angehalten, „[…] die Kompetenzen zum Ausgangspunkt der Unterrichtsplanung und -gestaltung“ zu machen, „die historischen und politischen Kompetenzen […] anhand konkreter Themen zu entwickeln“ und die „zukünftige Lebenssituation“ der Schüler*innen in ihre Planungs- und Unterrichtarbeit mit einzubeziehen.531 Für eine in juristischen Kategorien denkende Lehrperson des Jahres 2015 bedeutete das, dass sie entweder den Auftrag des Lehrplans der Sekundarstufe I in Eigenverantwortung in die Sekundarstufe II transferierte oder in der Sekundarstufe II, unter Berufung auf den Grundsatz der Methodenfreiheit, das didaktische Prinzip der Kompetenzorientierung negieren konnte. Der Wille der Bildungspolitik, kompetenzorientierten Geschichtsunterricht zu etablieren, konnte umgangen werden. Es ist anzumerken, dass die Bildungspolitik diese Lücke inzwischen geschlossen hat. Mit dem Schuljahr 2016/17 trat ein explizit kompetenzorientierter Lehrplan für die Sekundarstufe I532 in Kraft und mit 2018/19 einer für die Sekundarstufe II533. Das bedeutet, dass frühestens 2022 nach kompetenzorientierten Lehrplänen unterrichtete Schüler*innen die Reifeprüfung ablegen.534 Der neue Lehrplan für die Sekundarstufe II rekurriert auf die Kompetenzmodelle von FUER (historische Bildung) und von Krammer et all. (politische Bildung). „Ziel ist es, in allen Schulstufen historisches Denken bzw. politisches Denken und Handeln zu vermitteln, um das angestrebte reflektierte und (selbst)reflexive Geschichts- und Politikbewusstsein zu erreichen“.535 Die historisch-politische Bewusstseinsbildung soll sich an Werten orientieren und mit Hilfe „[…] einer differenzierten Betrachtungsweise […]“536 und der Fähigkeit, „[…] Sachverhalte und Probleme in ihrer Vielschichtigkeit […]“537 zu erkennen, ausgeformt werden. Zu konkretisieren sind die Ziele anhand historischer und politischer Konzepte und Kategorien. Eine weitere Innovation besteht darin, dass sich die Pläne der Sekundarstufen I und II als Einheit verstehen. Die in der Sekundarstufe I „[…] grundgelegten historischen und politischen Kompetenzen werden in der Sekundarstufe II auf ein höheres Niveau weiterentwickelt“.538 Die Auswahl der Themen obliegt der Lehrperson mit der Auflage, sie „[…] bezogen auf die zu erwerbenden Kompetenzen sorgfältig und begründet auszuwählen“.539 Es ist darauf zu achten, dass die Schüler*innen „[…] durchgängig und ausgewogen mit verschiedenen Anforderungsbereichen (Reproduktion, Transfer und Reflexion) konfrontiert […]“540 werden. Die „anzubahnenden“ und „abzusichernden“ Kompetenzen sind verbindlich vorgegeben und Operationen zu deren Einübung werden aufgelistet. Es heißt ausdrücklich, dass „[…] alle angeführten Kompetenzen in ausreichendem und ausgewogenem Maße im Unterricht berücksichtigt werden und im Mittelpunkt des Unterrichts stehen“.541 Von der Lehrperson verlangt dieser Anspruch ein hohes Maß an fachwissenschaftlicher Kenntnis und tiefe Einsichten in die fachdidaktischen Ziele der beiden Kompetenz-Strukturmodelle. Für den Untersuchungszeitraum sind Lehrpläne und Bildungsziele jedoch widersprüchlich gewesen und haben in der Unterrichtspraxis Irritationen ausgelöst. Nicht wenige Lehrer*innen fühlten sich in einem Dilemma zwischen dem Anspruch, eine kompetenzorientierte Reifeprüfung vorzubereiten und der Erfüllung des rechtskräftigen Lehrplans aus 1985, der anderen Paradigmen verpflichtet gewesen ist. Erklärbar ist das merkwürdige Vorgehen der Bildungspolitik durch die mit der PISA-Dynamik verbundenen Eile zur Einleitung organisatorischer und strukturelle Veränderungen im Schulsystem.542 Jedenfalls wurde ein konsequenter, sachlogischer und schrittweiser Umbau des Schulunterrichts auf dem Altar jener Teilreformen geopfert, die die Bildungspolitik als prioritär festgelegt hat.

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