Читать книгу Geschichtsmatura - Christian Pichler - Страница 38
5.2 Ausgewählte Beispiele empirischer Kompetenzmessversuche
ОглавлениеBorries hat bereits 1973 erste Versuche unternommen, auf der Basis der Erkenntnislogik die Tauglichkeit von Aufgabenstellungen zur Überprüfung von Methodenkompetenz zu untersuchen.582 Da die Fachdidaktik der 1970er Jahre wissensorientierte Testverfahren dominiert haben, ist diesen Befunden wenig Beachtung geschenkt worden. Daher hat Borries, den damaligen Trends folgend, 1974 mit quantitativen Verfahren (Multiple-Choice-Tests) Fähigkeiten historischen Denkens zu erkunden versucht. Der Befund ist negativ ausgefallen und hat gezeigt, dass Aufschlüsse über Kompetenzen mit geschlossenen Verfahren nicht zu gewinnen sind. Demgegenüber brachten triangulative Vorgehensweisen (geschlossene Fragen in Kombination mit offenen Formaten und Nach-Interviews), Portfolioanalysen, Untersuchungen von Essays, Referaten, Rezensionen, Projektberichten und die Beobachtung von Rollen- oder Planspielen (auch Theateraufführungen) sowie die langfristige analytische Begleitung individueller und gruppenspezifischer Arbeiten oder geschichtskultureller Aktivitäten Ergebnisse, die Fähigkeiten sichtbar gemacht hatten. Ihre Durchführung war aufwändig.583 Borries hat aus seinen frühen Forschungen drei Schlussfolgerungen gezogen: (1) Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen dem Risiko, Lernziele in Aufgabenstellungen vorwegzunehmen und der Gefahr, die Aufgaben zu wenig präzise zu formulieren, will man das direkte Hinführen zum Lernziel vermeiden. (2) Es ist nicht möglich, Multiperspektivität, Multikausalität und Multidimensionalität durch Wissensfragen aufzuhellen. (3) Quantitative Verfahren könnten nur zur Feststellung basaler Fähigkeiten herangezogen werden. Komplexere Vorgänge sind ausschließlich mit qualitativen Methoden erforschbar. Folglich erweisen sich Kurzessays als probate Methode, um Kompetenzen sichtbar zu machen und sie valide, reliabel, objektiv und testökonomisch zu messen. Aber auch bei Essays ist nicht auszuschließen, dass persönliche Denkleistungen durch gelernte Konventionen substituiert werden, was ein potenzielles Graduierungsergebnis verfälschen würde. Dieses Risiko kann durch eine gut überlegte und sorgfältig gestaltete Aufgabenstellung minimiert werden, sodass eine Performanz entsteht, die Rückschlüsse auf die Kompetenzen erlaubt.584
Eine frühe Studie dieser Art stammt von Johannes Meyer-Hamme (2002).585 Sein Interesse ist es gewesen, an 840 Schülern*innen und Lehramts-Studierenden Geschichtsbewusstsein zu untersuchen.586 Das Forschungsdesign hat bei allen Probanden*innen aus Fragebögen bestanden (geschlossene Fragen und teilweise offene Fragen). Die Aufgabenstellungen hat der Studienautor so konstruiert, dass herauszufinden gewesen ist, ob es die Proband*innen vermögen, mittels Erkenntnissen aus dem Unterricht (und der abseits davon stattfindenden Bewusstseinsentwicklung) eigene Geschichtsbilder zu relativieren oder ob sie, trotz Unterrichts, dem Mainstream (politisch, religiös, historisch, gesellschaftlich) folgen. Seine Aufgaben versteht Meyer-Hamme als Konstruktionen zum Zweck des Sichtbar-Machens der mentalen Oberflächenstruktur bei der Reorganisation von Geschichtsbildern. Wie Borries, geht auch er von der Annahme aus, dass Kompetenzen nicht in aller Vielschichtigkeit messbar sind, weil sie in die mentale Tiefenstruktur reichen, die von Testaufgaben nicht erschließbar ist. Grundlegende Ausprägungen sollten jedoch einigermaßen valide beobachtbar sein. Daher definiert Meyer-Hamme fünf Kompetenzstufen587 und testet sie an seiner Zielgruppe. Er lässt die Probanden*innen zu einem bestimmten Thema (z. B. „Die Christianisierung der Germanen durch Bonifatius“) mittels eines Schulbuchvergleichs (drei Auszüge) rekonstruierend (Gemeinsamkeiten oder Widersprüchen, Absichten, Perspektiven, Methoden) und dekonstruierend (Beschreibung des Empfindens bei der Lektüre der Texte, Empathie, Sinnbildung) arbeiten. Die Produkte nennt er „Kurzessays“.588 Der Studienautor hält die Methode für geeignet, um historisches Denken aufzuschlüsseln, zu graduieren und um Kompetenzmodelle zu testen. Kritisch sieht Meyer-Hamme rückblickend das Setting. Es habe sich herausgestellt, dass die Fragebogentechnik die Probanden*innen dazu animiert, eher vorhandene Konventionen zu aktivieren als reflektierend zu arbeiten. Daher rät er Forschenden dazu, das Testverfahren weiter zu entwickeln und die Reflexion eher über historische Beispiele mittels offener Fragestellungen zu überprüfen.589
In einer weiteren Studie (2009) widmet sich Meyer-Hamme der Identitätsreflexion, den Einflüssen von Perspektivität auf den Umgang mit Geschichte (Orientierungskompetenzen) und der Wirkung von Unterricht.590 Um Verbalisierungen subjektiver und relevanter Deutungen durch Schüler*innen zu evozieren, hat der Forscher acht 18jährige Schüler*innen eines kulturell heterogenen Geschichte-Leistungskurses zweimal mittels narrativer Interviews befragt. Die Performanzen sind nach der Dokumentarischen Methode591 ausgewertet worden. In den Interviews thematisiert Meyer-Hamme Inhalte von Unterrichtsstunden, die die Schüler*innen erlebt haben, um herauszufinden, was für deren Orientierung wichtig war (Konstruktion von Identitäten) und welche Rolle dabei der Unterricht gespielt hat. Er kommt zum Schluss, dass Identitäten und die daraus resultierenden Perspektiven Sinnbildungen massiv beeinflussen. Es gelingt, einzelne Fähigkeiten und Fertigkeiten des FUER-Modells (Reflexion des Selbstverstehens) zu rekonstruieren. Standardisierbar sind die narrativen Produkte aber nur bedingt. Meyer-Hamme glaubt, dass ein mittleres Niveau (intermediär) definiert werden kann, allerdings nur auf der Grundlage von Performance-Standards.
In der Kategorie Ergebnisforschung haben Schönemann, Thünemann und Zülsdorf-Kersting anhand des Zentralabiturs im Fach Geschichte in Nordrhein-Westfalen (2008) Schüler*innen-Leistungen auf historische Kompetenzen untersucht.592 Der Studie liegen Performanzen (Abiturarbeiten) zu Grunde, die Messgrößen sind die EPA-Kriterien. Die Forscher haben mittels einer Stichprobe herauszufinden versucht, welche Leistungen Schüler*innen am Ende der Sekundarstufe II zu erbringen vermögen und worin eine mögliche Verbindung mit historischen Kompetenzen besteht. Aus den Ergebnissen haben sie Empfehlungen für die Unterrichtsarbeit und für die zentrale Aufgabenentwicklung abgeleitet.593 Die Untersuchung beginnt mit einer Analyse der autoritativen Vorgaben, die den Geschichtsunterricht in Nordrhein-Westfalen zu unterwerfen bedingen (Lehrplan, der EPA-Kriterien, Vorgaben für die Unterrichtspraxis), ehe 238 Klausurarbeiten aus 40 Gymnasien und 25 Gesamtschulen nach qualitativen Verfahren analysiert werden. Die Wissenschaftler nehmen an, dass Abiturklausuren nicht auf Eigeninitiative von Schüler*innen zustande kommen und die Aufgabenstellungen somit steuernd wirken. Daher gehen sie davon aus, dass Schüler*innen in der Bearbeitung der Aufträge primär den Erwartungen der Korrektoren zu entsprechen versuchen, was bedeutet, dass durch das Zentralabitur weniger allgemeine (Denk-)Leistungen als strategische Fähigkeiten (Streben nach Erwartungs-Entsprechung) herauszufinden sind. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es bei einzelnen Kategorien (deklaratives Fachwissen, Sach- und Werturteile) gelingt, Hinweise auf abgestufte Leistungen zu finden, die Frage nach dem Grad des Verfügens über historische Kompetenzen jedoch nicht beantwortet werden kann, weil Aufgaben und Erwartungshorizonte kaum eigenständige Denkprozesse anleiten, sondern die Anwendung von Sachwissen einfordern.594 „Es geht weniger um das Niveau der historischen Erzählung, sondern vor allem um die inhaltliche Vollständigkeit der Darstellung.“595
Resümee: Erste Befunde zum Forschungsgegenstand Kompetenzmessung lassen kein homogenes Bild entstehen. Das Ergebnis hängt von Bedingungen und Zielen ab. Borries testet triangulativ Produkte der Unterrichtsarbeit, um Aufschlüsse über das Verfügen Methodenkompetenz zu gewinnen, was unter großem Aufwand gelingt. Meyer-Hamme zieht, ebenfalls auf der Basis von Unterricht, Stichproben zur Orientierungskompetenz und kommt zum Schluss, dass sich gewisse Fähigkeiten sich in ihrer Oberflächenstruktur sichtbar machen, beschreiben und mit Einschränkungen graduieren lassen. Demgegenüber erkennen Schönemann et all., dass die Abiturprüfung Kompetenzen nur bedingt evident werden lässt und deren Stufung nicht ermöglicht. Das bedeutet, dass in der Kompetenzforschung ein hohes Maß an Offenheit bei der Auswahl der Methode(n) angesagt ist, abhängig vom Untersuchungsgegenstand und vom Forschungsinteresse. Dieser Überzeugung folgen Doren Prinz und Holger Thünemann, wenn sie der Geschichtsdidaktik den Einsatz von Mixed-Methods empfehlen, um damit den Horizont für Zugänge zu Forschungsfragen zu weiten.596