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4.2 Intentionen, Ziele und Strukturen der kompetenzorientierten Reifeprüfung
ОглавлениеDie Gelegenheit dazu bot sich mit der Einführung von Bildungsstandards (2008) und des didaktischen Prinzips kompetenzorientierten Unterrichts (2008–2018).439 Es wurde zum bildungspolitischen Ziel, den jahrzehntelang dominanten inhaltszentrierten Unterricht von einem kompetenzorientierten abzulösen.440 Mit einem retardierenden Moment von mehreren Jahren folgte das österreichische Bildungssystem europaweiten Trends. Die Bildungspolitik akzeptierte allmählich, dass Erkenntnisse aus der schulischen Praxis, Ergebnisse empirischer Qualitätsuntersuchungen zur Wirkung von Unterricht (TIMSS, PIRLS, PISA u. a.), der Umbaus der tertiären Bildungs- und Ausbildungsgänge nach den strukturellen Vorgaben der „Bologna-Architektur“ (Erwartungen bezüglich der Studierfähigkeit der Maturant*innen) und der Versuch der fachdidaktischen Wissenschaften, angemessene Antworten auf die Herausforderungen sich ändernder Lehr- und Lernbedingungen zu entwickeln, schulrelevant waren. Letzteres war in Österreich auf wenig Beachtung gestoßen, weil die fachdidaktischen Wissenschaften auf universitärer Ebene ein Schattendasein gefristet hatten. Es gab bis ins beginnende 21. Jahrhundert kaum Fachdidaktik-Lehrstühle an österreichischen Universitäten, daher wenig anerkannte österreichische Forschungsergebnisse zu fachdidaktischen Fragen und kaum autochthone Beiträge zur Weiterentwicklung des historisch gewachsenen österreichischen Bildungssystems. Die Lehrerausbildung befand sich in den Händen der Fachwissenschaften, die didaktische Fragen nur am Rande interessierte. Wenn es erforderlich war, nahm man an deutschen Entwicklungen Maß. Die Fortbildung der Lehrer*innen lag zunächst in der Agenda staatlicher Pädagogischer Institute, deren Personal sich überwiegend aus dem Schulsystem rekrutierte und wurde 2008 den neu gegründeten Pädagogischen Hochschulen übertragen, deren berufsfeldbezogene didaktische Forschungsbemühungen erst allmählich in die Gänge kam.441 Fachdidaktische Impulse, so auch der wirkmächtige Anstoß zur Einführung des Prinzips der Kompetenzorientierung, erfolgten von außen, vor allem aus Deutschland. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass die fachdidaktischen Modelle grosso modo deutschen Forschungsbemühungen entstammen und in Ermangelung eigener Entwicklungsarbeit von Österreich übernommen wurden.442
Im Gegensatz zu den Modifikationen von 1974 und 1986 intendierte die Reifeprüfungsreform 2010 nicht bloß die Adaptierung des Prüfungsmodus als Reaktion auf pädagogisch-didaktische Veränderungen, die Bildungspolitik erwartete sich von der Reform einen Motivationsschub, um den kompetenzorientierten Unterricht ins Klassenzimmer zu transferieren.443 Es war Kalkül des Bildungsministeriums, dass die Neuausrichtung der Reifeprüfung einen richtungsweisenden Reformschritt darstellen sollte, dem sukzessive Bildungspläne und Organisationsstruktur der Sekundarstufe II an folgen würden. So sollte die Maturareform zum Motor der Implementierung der Kompetenzorientierung in den Unterrichtsalltag an den Allgemeinbildenden und den Berufsbildenden Höheren Schulen (AHS/BHS) werden. Ein systematischer und planmäßiger Umbau des Schulsystems war durch diese Vorgangsweise nicht gewährleistet. Sie zeugt eher vom mangelnden Vertrauen der Bildungsverantwortlichen in die Akzeptanz ihrer Bildungspläne durch Lehrer*innen und vom Unvermögen der Schulleitungen und der Schulaufsicht, für deren Umsetzung zu sorgen, ein Umstand, der den Zweck von Lehrplänen als Steuerungselement in Frage stellt.444 Abgesehen vom rechtlichen Aspekt der Attestierung von Studierfähigkeit, ist es Ziel der neuen Reifeprüfung, die im Unterricht über einen Zeitraum von 12 bis 13 Jahren aufgebauten domänenspezifischen Kompetenzen zu überprüfen, und zwar unabhängig davon, ob das Fach standardisiert ist oder nicht. Das erreichte Bildungsniveau soll reliabel gemessen werden, um eine österreichweite Vergleichbarkeit der erworbenen Kompetenzen zu verifizieren. Dazu wurde ein komplexes dreigliedriges Prüfungsmodell („Drei-Säulen-Modell“) entwickelt, das dem bildungspolitischen Wunsch nach Standardisierung in einigen als wesentlich empfundenen Fächern zu entsprechen trachtet und die Intention einiger Schulstandorte nach autonomen Schwerpunktbildungen respektiert.445 Das gemeinsame Fundament soll das Paradigma der Kompetenzorientierung bilden. Und so wurde das „Haus der Reifeprüfung“ auf folgenden Säulen errichtet:
Schriftliche Reifeprüfung: Sie ist kompetenzorientiert und teilweise standardisiert.446 Der standardisierte Teil umfasst die Unterrichtssprache (Deutsch, Slowenisch, Kroatisch, Ungarisch447), die lebenden Fremdsprachen, die klassischen Sprachen und Mathematik. Es steht der Aspekt der Vergleichbarkeit erreichter Standards im Fokus der Prüfung. Daher wird sie zentral organisiert.
Mündliche Reifeprüfung: Sie ist kompetenzorientiert, aber nicht standardisiert und betrifft alle zur Matura zugelassenen Fächer der Stundentafel, egal ob sie bundesweit reguliert oder schulartenspezifisch autonom gestaltetet sind. Die Schulen, ja sogar einzelne Klassen, erarbeiten auf der Basis der Lehrpläne und der festgesetzten Jahreswochenstundenzahl ihres Fachs Themenpools.448 Sie haben die Möglichkeit, standorttypische oder persönliche Schwerpunkte innerhalb des weit gesteckten Rahmens der Lehrpläne zu setzen.
Abschließende Arbeit: Die Vorwissenschaftliche Arbeit (AHS) bzw. Diplomarbeit (BHS) ist kompetenzorientiert, aber nicht standardisiert und bietet den Schüler*innen ein Format, um gemäß ihren individuellen Interessen forschend zu arbeiten und ein schriftliches Produkt herzustellen, das schreibprozessorientiert angefertigt wird und die Kenntnis (wissenschaftlicher) Arbeitsverfahren nachweist.
Summa summarum hat jede*r Kandidat*in sieben Prüfungsgebiete zu absolvieren. Obligatorisch sind die abschließende Arbeit und mindestens drei schriftliche, standardisierte Prüfungen (Unterrichtssprache, Mathematik, eine lebende Fremdsprache449). Es ist möglich, ein viertes schriftliches Fach zu wählen. In diesem Fall verringert sich die Zahl der mündlichen Prüfungsfächer von drei auf zwei.450 Mit dieser Regelung soll eine gewisse Bandbreite an allgemeiner Bildung sichtbar sowie die Möglichkeit eröffnet werden, eigenen thematischen Interessen zu folgen und allfälligen künftigen Zulassungserfordernissen zu Studien451 zu entsprechen. Die Beurteilung erfolgt gemäß den Vorgaben der LBVO.452 Das Fach „Geschichte, Sozialkunde und Politische Bildung“ ist ausschließlich mündlich maturabel.