Читать книгу Yasemins Kiosk - Eine bunte Tüte voller Lügen - Christiane Antons - Страница 17

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Seit Nina in Doros Haus wohnte, gab es für sie zwei feste Termine in der Woche. Jeden Sonntagabend schaute sie gemeinsam mit Yasemin und Doro den Tatort im Fernsehen. Während ihre beiden Freundinnen stets hoch konzentriert das Geschehen verfolgten, übernahm sie zuverlässig die Rolle der Spielverderberin und ließ Kommentare fallen wie »Das ist so unrealistisch« oder »Ja, schon klar. Er war’s. Wie lahm«.

Je nachdem, was gerade zur Hand war, warf Yasemin dann Chipstüten, Kissen und neuerdings auch Babyspielzeug in ihre Richtung.

Jeden Mittwochabend lud Dorothee Yasemin und Nina zum Essen ein. Ihre Vermieterin war eine ausgezeichnete Köchin, die sie je nach Jahreszeit mit deftigem Braten, Rouladen, einer raffinierten Suppe oder auch mal einem Salat verwöhnte. Doch als Nina an diesem Abend Doros Wohnung betrat, roch es weder nach köstlichem Gebratenen noch war wie sonst der Tisch liebevoll gedeckt. Stattdessen war Doro damit beschäftigt, ihr Wohnzimmer in die Kommandozentrale von einst zu verwandeln. Rechts neben dem Schreibtisch hatte sie bereits Platz für die Magnetwand freigeräumt, die sie damals genutzt hatten, um ihre Ermittlungsergebnisse zusammenzutragen.

»Hilf mir mal gerade«, bat sie Nina und führte sie in ihren Abstellraum. Gemeinsam trugen sie die Magnetwand an den vorgesehenen Platz. »Sehr schön.« Doros Wangen waren von der Anstrengung des Tragens und vielleicht auch vor Vorfreude gerötet. »Jetzt schmiere ich uns schnell ein paar Brote, schneide uns Gürkchen auf und sobald Yasemin hochkommt, planen wir unser Vorgehen.«

Während Dorothee in die Küche verschwand, setzte sich Nina leise seufzend aufs Sofa. Sie hatte sich auf ein warmes Abendessen gefreut, doch daraus wurde wohl nichts. Bei ihr blieb die Küche meistens kalt, zum Kochen fehlten ihr Lust und Geduld. In der Regel schmierte sie sich ein Brot, aß einen Fertigsalat oder ein Müsli. Und sie kannte so ziemlich jeden Schnellimbiss der Stadt. Deshalb stellten Abendessen bei Doro und die gelegentlichen Restaurantbesuche mit Tim ihre kulinarischen Highlights dar.

Sie blickte nach rechts. Von Doros Mitbewohnerin Thekla, die neben dem Sofa im Terrarium hauste, konnte sie kein Mitleid erwarten. Die Vogelspinne verharrte starr in der linken Ecke ihres Domizils. Auf dem Wohnzimmertisch entdeckte Nina die Zeitschrift eines lokalen Lions Clubs und nahm sie in die Hand.

»Bist du eine Löwin?«, fragte Nina Dorothee, die aus der Küche zurückkehrte.

»Nein, Jungfrau«, antwortete die prompt und lachte los, als sie das Blatt in Ninas Händen sah. »Ach so, ja. Ich bin da Mitglied. Ich gestalte manchmal Flyer für Veranstaltungen und schreibe auch Pressemitteilungen. Dinge, für die man die eigenen vier Wände nicht verlassen muss. Der Lions Club unterstützt lokale Vereine und Initiativen.« Doro war auf Heimarbeit angewiesen, denn sie litt an Agoraphobie.

Nina blätterte durch das Magazin. Als sie auf der hinteren Seite bei einem Nachruf hängen blieb, entfuhr ihrer Vermieterin ein tiefes Seufzen und Nina blickte hoch. »Kanntest du den Mann?«

Doro nickte. »Ich habe mit Volker ein paar Semester zusammen studiert. Ein sehr intelligenter Typ. Zudem sehr attraktiv«, setzte sie hinterher und lächelte dabei. »Er war einige Jahre jünger als ich. Ich habe ja erst eine Ausbildung gemacht und später mit dem Studium begonnen. Wir haben ab und zu gemeinsam Referate gehalten und manches Mal ist unser Kaffee kalt geworden, wenn wir uns getroffen haben. Die Gespräche mit ihm waren so wunderbar anregend.« Für einen Moment blickte sie verträumt aus dem Fenster. »Er ist dann, nachdem er einige Jahre hier an der Uni gelehrt hat, wie gefühlt jeder dritte Ostwestfale nach Berlin gegangen. Ach, egal. Vergangene Zeiten.« Sie winkte ab. »Aber es hat mich traurig gemacht zu lesen, dass er tot ist. Das ist kein Alter, um zu sterben«, fügte sie leise hinzu.

»Nein, das ist es nicht«, stimmte Nina zu. Der Artikel verriet, dass Volker 1955 geboren worden war. Es war von einem plötzlichen Tod die Rede, Details wurden nicht genannt. Sie hatte die Zeitschrift gerade wieder auf den Tisch gelegt, als es an der Wohnungstür klopfte.

Nina deutete Dorothee an, dass sie öffnen würde. Yasemin gab ihr vor der Tür mit dem Zeigefinger vor dem Mund zu verstehen, dass die kleine Ela neben ihr in der Babyschale schlief und sie bloß keinen Mucks von sich geben sollte. Auf Zehenspitzen schlichen die beiden Frauen in Doros Schlafzimmer, zogen die Gardinen zu, stellten die Kleine in den kühlen Raum und begaben sich anschließend zurück ins Wohnzimmer.

»Yasemin, Liebes, wunderbar, da bist du ja. Ela schläft?«, begrüßte Dorothee sie.

Die junge Mutter nickte. »Ja, schauen wir mal, wie lange.«

»In Ordnung. Dann lasst uns schnell beginnen.« Doro stellte die geschmierten Brote und die sauren Gurken auf dem Wohnzimmertisch neben dem Stövchen ab. »Bedient euch«, forderte sie ihre Freundinnen auf, während sie an die Magnetwand trat und darauf Pascal notierte.

Liebevoll umkreiste sie den Namen. »Ich habe gestern Abend schon ein wenig recherchiert. Seit 2006 ist Pascal alleiniger Besitzer des Feinkostgeschäftes Neumann. Vorher hat er eine Ausbildung zum Koch gemacht, danach in einigen Küchen sein Können verfeinert und eine Zeit lang im Ausland gearbeitet. 2016 hat er zusammen mit Marcel Höhner das Cateringunternehmen Neumann gegründet. Bis zum vergangenen Jahr führten das beide zusammen, dann ist Höhner ausgestiegen. Seitdem ist Pascal auch alleiniger Besitzer des Cateringunternehmens.«

»Warum ist sein damaliger Partner ausgestiegen?«, hakte Nina nach.

Doro zeigte mit dem Finger nacheinander auf Yasemin und sie. »Das wäre eine erste Frage, die ihr Pascal bei eurem Antrittsbesuch stellen könnt.«

Ein kurzer Laut drang aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer und Yasemin sprang wie von Thekla gestochen vom Sofa auf.

»Du weißt doch, die Kleinen träumen manchmal nur, da muss man vielleicht nicht sofort …«

Doch so schnell wie Yasemin in den Flur gerannt war, hatte sie Doros Ratschlag gar nicht mehr gehört.

»Ela hatte ihre Augen noch zu, hat sie wohl wieder mal nur geträumt«, verkündete Yasemin erleichtert, als sie sich wenig später zurück aufs Sofa plumpsen ließ. »Wo waren wir?«

Nina und Doro lächelten sich an.

»Nina und du, ihr fahrt zu Pascal und führt ein erstes Gespräch. Erika hat ihm bereits angekündigt, dass ihr morgen Nachmittag vorbeikommt. Ich kümmere mich so lange um den Kiosk und gerne auch um Ela, falls du sie nicht mitnehmen möchtest.«

»Aber ich könnte ja auch im Kiosk und bei meiner Süßen bleiben und du könntest …«

»Du weißt, dass ich das Haus nicht verlasse.«

»Aber damals hast du es doch auch geschafft«, versuchte Yasemin es erneut.

»Das war eine Ausnahmesituation. Ich war mit Medikamenten vollgepumpt und ihr wart in Todesgefahr. Ich brauche noch etwas Zeit.«

»Es ist schon großartig, dass du mittlerweile problemlos deine Wohnung verlässt, Doro, und dich innerhalb des Hauses und im Kiosk frei bewegst, nicht wahr, Yasemin?« Nina warf der Angesprochenen einen vielsagenden Blick zu. »Du wünschst dir ja auch manchmal, dass du entspannter mit Ela umgehst, aber manche Dinge brauchen eben ihre Zeit.«

»Okay, okay.« Die junge Mutter hob entschuldigend die Arme. »Sorry, Doro, ich wollte nicht doof zu dir sein.«

Die winkte ab. »Ist schon gut, Liebes. Ich weiß, du meinst es nur gut und möchtest mich bestärken. Wer möchte noch eine Scheibe Brot?« Sie hielt den Teller einladend hoch.

Yasemin bediente sich und stieß sich, noch während sie kaute, vor den Kopf. »Das hab ich ja ganz vergessen, Nina: Wie war denn dein Essen mit Brüggendings?«

»Es war … nett.«

»Nett? Nett ist der kleine Bruder von scheiße. Jetzt sag mal wirklich, wie es lief«, forderte Yasemin sie auf und Dorothee lachte. »Yasemin, wenn Ela etwas älter ist, solltest du hier und da vielleicht über deine unverblümte Ausdrucksweise nachdenken.«

Nina rutschte auf ihrem Platz hin und her. »Er hat mich gefragt, ob ich Kinder haben möchte«, murmelte sie schließlich.

»Oho!«, reagierten ihre beiden Freundinnen wie aus einem Mund.

Ninas Wangen wurden heiß. »Ob ich mir prinzipiell so ganz allgemein vorstellen kann, irgendwann mal Kinder in die Welt zu setzen«, versuchte sie zu relativieren. »Und ich habe nicht wirklich darauf geantwortet«, fügte sie leise hinzu.

»Weil …?«, versuchte Yasemin weitere Informationen aus ihr herauszukitzeln.

»Weil mir die Frage die Kehle zugeschnürt hat.« Nina griff schnell nach der letzten Scheibe Brot mit Salami, obwohl sie keinen Hunger mehr hatte.

Ihre beiden Freundinnen schwiegen.

»Dann solltest du vielleicht in dich hineinhorchen, warum das so ist«, entgegnete Doro nach einer Weile.

Im Nebenzimmer gab Ela unmissverständlich zu verstehen, dass es mit der Nachtruhe fürs Erste vorbei war.

»Ich geh jetzt mit ihr runter. Zeit für eine Nachtmilch. Iyi geceler, bis morgen!« Yasemin verschwand im Flur und wenige Sekunden später hörten Doro und Nina die Wohnungstür ins Schloss fallen.

»Wie läuft’s denn mit deinen Übersetzungen?«, versuchte Nina rasch, das Thema zu wechseln.

Doch Dorothee ignorierte ihr klägliches Ablenkungsmanöver und goss nach. »Das Schöne daran, eine alte Frau zu sein, ist ja, dass man ungeniert Ratschläge verteilen kann, egal, ob der Adressat sie hören will oder nicht. Der Mensch ist ein Herdentier, liebe Nina. Tim Brüggenthies ist in meinen Augen ein toller Mann. Liebst du ihn?«

Nina starrte auf ihre Tasse und wusste die Antwort. Aber zu lieben und mutig genug zu sein, sich dem ganz hinzugeben, waren in ihren Augen zwei verschiedene Paar Schuhe.

Doro wartete nicht länger. »Ich denke, du tust gut daran, deine Altlasten abzuwerfen und dich in neue Gewässer zu wagen. Damit meine ich nicht, dass du Kinder in die Welt setzen sollst. Oder ein Haus bauen musst. Ich meine die Bereitschaft, sich auf eine ernsthafte Beziehung mit einem Menschen einzulassen. Sonst endest du womöglich als alte alleinstehende Frau, die in ihrer Wohnung hockt, eine Spinne oder schlimmer noch eine Katze als Haustier hat und von Tag zu Tag seltsamer wird.«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass du von Tag zu Tag …«

»Ich rede ja auch nicht von mir!« Doro schaute sie entrüstet an.

Nina wollte sich hastig entschuldigen, da zwinkerte ihr ihre Vermieterin schelmisch zu.

Erleichtert nahm Nina noch einen Schluck Tee und erhob sich dann. »Wie immer hast du recht, liebe Doro«, sagte sie zum Abschied. »Wir werden sehen. Aber fürs Erste«, sie zeigte auf die Magnetwand, »haben wir einen Fall zu lösen.«

Yasemins Kiosk - Eine bunte Tüte voller Lügen

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