Читать книгу Yasemins Kiosk - Eine bunte Tüte voller Lügen - Christiane Antons - Страница 9
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ОглавлениеNina schüttelte noch immer den Kopf, während sie das Treppenhaus hinunterlief. Das hatten sich die Freundinnen fein ausgedacht. Vor dem Haus winkte sie Yasemins Cousin Berkan zu, der die Tagesschicht in dem Kiosk übernommen hatte, und stieg in ihren alten Golf.
Manchmal zweifelte sie, ob das eine wirklich so gute Idee gewesen war, dass sie nun alle drei unter einem Dach lebten. Sie würden die Balance finden müssen, sich nicht gegenseitig zu viel in ihre Leben einmischen zu wollen. Doch für Yasemin war das damals die klügste Lösung gewesen. Kurz nachdem sie schwanger geworden war, war eine Wohnung in dem Mehrparteienhaus frei geworden und Doro hatte Yasemin angeboten, dort einzuziehen. Die hatte nicht lange gezögert. So musste sie, um in ihrem Kiosk zu arbeiten, nur eine Treppe hinuntersteigen und mit Doro und Nina waren zwei Babysitter für Ela zur Hand. Yasemins Mutter, die in zweiter Ehe mit einem Polen verheiratet war, freute sich zwar außerordentlich über ihre Enkelin. Doch sie wohnte weit weg, genoss in ihrem Haus in Sopot ihren Ruhestand.
Nina nahm die linke Hand vom Lenkrad und tastete in ihrer Jackentasche nach dem Briefumschlag. Wenn sie länger darüber nachdachte, war es schon gut so, wie es war. Ihre Freundinnen und sie bildeten ein Team und konnten sich aufeinander verlassen. Yasemin und Doro hatten ihr in den vergangenen Monaten viel Zuspruch geschenkt, während sie ihr Berufungsverfahren hatte durchstehen müssen. Ihrer Mutter Hetta hatte sie noch gar nichts von ihrem Erfolg erzählt, den sie errungen hatte.
Links tauchte der Obersee auf und Nina bog in die Straße, die in die gegenüberliegende Siedlung führte, um wenig später vor dem Haus, in dem sich Hettas Wohnung befand, zu parken. Sie realisierte, dass sie von ihrer Mutter zwei Wochen lang nichts gehört hatte, und hoffte, dass alles in Ordnung war.
»Wer da?«, schallte Hettas kratzige Stimme gewohnt uncharmant durch die Gegensprechanlage.
»Ich bin’s, Nina.«
»Oh, die verlorene Tochter!«
Der Türöffner summte und Nina trat in den kühlen Flur. Ihre Mutter wartete in der zweiten Etage an der Wohnungstür auf sie und sah erstaunlich frisch aus.
»Hallo, Hetta, gut siehst du aus.« Sie umarmte ihre Mutter flüchtig, bevor sie die Wohnung betrat und sich kritisch umschaute. Nicht sonderlich aufgeräumt, doch es herrschte auch kein Chaos.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte ihre Mutter und ging in die Küche, ohne die Antwort abzuwarten. »Kuchen habe ich nicht da, du hast deinen Besuch ja nicht angekündigt.«
Nina hörte das Geräusch eines Feuerzeugs. Das Rauchen würde ihre Mutter wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage nicht aufgeben.
»Ach, Mist, jetzt weiß ich, was ich vergessen habe.« Nina grinste ihre Mutter an, als die ihr im Wohnzimmer eine Tasse reichte und sich zu ihr setzte. »Ich wollte beim Bäcker halten und uns ein paar Teilchen mitbringen.«
»Soso.« Hetta aschte in die Zimmerpflanze rechts von ihr.
»Von wem habe ich eigentlich meine guten Manieren? Von dir ja offensichtlich nicht.«
»Was denn? Das ersetzt den Dünger! Guck doch, wie prächtig die Pflanze wächst«, entgegnete Hetta ungerührt. »Aber du bist doch nicht hier, um über meine Manieren zu reden. Was verschafft mir die Ehre?«
»Muss ich einen Grund haben, um meine Mutter zu besuchen?«
»In der Regel hast du den. Meistens kontrollierst du, ob ich meine Pillen nehme und bei Verstand bin.«
»Und?« Nina schaute Hetta von der Seite an. »Bist du?« Ihre Mutter war bipolar und hatte sich in der Vergangenheit häufiger geweigert, regelmäßig ihre Medikamente einzunehmen. Seit ihrem letzten stationären Aufenthalt lief es jedoch erstaunlich gut.
»Ja, ich habe mir gedacht, das ist das kleinere Übel. Die Alternative wäre gewesen, dass du mir ständig vorwurfsvoll in den Ohren hängst und ich im schlechtesten Fall wieder in die Klapse komme.«
Die beiden lächelten sich für einen Augenblick an und Nina spürte eine Entspanntheit zwischen ihnen, die sie seit ihrer Kindheit nicht gefühlt hatte. Seit sie vor knapp zwei Jahren aus Wuppertal in ihre Heimatstadt Bielefeld zurückgekehrt war, hatte sich das Verhältnis zu ihrer Mutter gebessert.
Sie griff in ihre Jackentasche und zog den Brief des Landgerichts heraus. »Ich bin hergekommen, um dir das hier zu zeigen und Freude zu teilen.« Nina reichte Hetta das Schreiben.
Die nahm es in ihre nikotingelben Finger. »Das«, sagte sie, nachdem sie den Inhalt gelesen hatte, »ist in der Tat erfreulich.«
Dafür, dass ihre Mutter durch und durch Ostwestfälin war, war das eine nahezu euphorische Reaktion.
»Was planst du jetzt? Gehst du zurück zu den Bullen nach Wuppertal?«, fragte Hetta.
Nina schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Die Sozialstunden, die mit meiner Bewährungsstrafe verbunden sind«, sie tippte mit ihrem Finger auf das Schreiben, »werde ich hier ableisten. Ob ich wieder in den Polizeidienst zurückkehren kann, weiß ich erst nach meinem Disziplinarverfahren. Angeblich stehen die Chancen gut, meint meine Anwältin.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß aber nicht, ob ich überhaupt wieder als Polizistin arbeiten will.«
»Du könntest dann ja erst mal ein Sabbatjahr einreichen.«
»Du meinst, so ganz in echt?« Die beiden lachten.
Nach ihrer Freistellung damals hatte Nina allen erzählt, sie habe ein Sabbatjahr eingereicht. Die Wahrheit, dass man sie vom Dienst suspendiert hatte, weil sie bei einem Einsatz in Wuppertal einem prügelnden Familienvater an den Kragen gegangen war, hatte sie erst nach und nach preisgegeben. In erster Instanz war sie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ihre Anwältin war jedoch in Berufung gegangen. Das Ergebnis lag nun schriftlich zwischen Hettas überquellendem Aschenbecher und ihrer Kaffeetasse: In zweiter Instanz war sie zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe sowie Sozialstunden verurteilt worden.
»Hast du schon eine Idee, wo du die Sozialstunden ableisten willst?«, fragte Hetta und zündete sich eine weitere Zigarette an.
»Nein, darum will ich mich nächste Woche kümmern.« Nina steckte den Brief wieder ein.
»Ich habe da vielleicht eine gute Idee«, entgegnete Hetta nachdenklich. »Aber ich mach mich erst mal schlau und melde mich dann bei dir.«
»Na, du machst es ja spannend.«
Ihre Mutter schaute in Ninas leere Tasse. »Noch einen Kaffee?«
»Nein, danke. Ich muss wieder los. Es war«, Nina erhob sich vom Sofa und zögerte für einen Moment, »richtig nett bei dir.«
Hetta nickte. »Beim nächsten Besuch könntest du dich allerdings mal nützlich machen und mit deiner alten Mutter um den Obersee spazieren. Im Herbst ist es da besonders schön, wenn die Bäume ringsherum bunt sind.«
Nina schaute sie überrascht an. »Ja, da hätte ich wohl Lust drauf. Tschüss, Hetta.«
Ihr Handy piepte, als sie die Wohnungstür hinter sich zuzog. Langsam ging sie das Treppenhaus hinunter und las dabei Tims Antwort auf ihre Nachricht.
Wow. Endlich mal wieder ein Lebenszeichen. Morgen Abendessen? Griechisch? Italienisch? Japanisch?
Noch immer schlug ihr Herz höher, wenn sie eine Nachricht von ihm erhielt. Doch auch wenn sie Tims Nähe wirklich genoss, brauchte sie zwischendurch Abstand, sonst zog sich ihr Brustkorb bedrohlich eng zusammen. Ihrer Mutter hatte sie von Tim noch nichts erzählt. Hetta hatte ein Talent dafür, ihre Beziehungen madig zu reden. Und das Traurige war, dass sie in der Vergangenheit immer recht behalten hatte.
Gerne griechisch, schrieb Nina zurück.
Nur Sekunden später piepte es erneut.
Okay. Ich hole dich um 18:30 Uhr ab. Freu mich.
Sie zögerte. Dann fing sie an, eine Antwort zu tippen, löschte sie wieder, tippte erneut, löschte. Schließlich ließ sie ihr Handy seufzend in die Tasche gleiten.