Читать книгу Yasemins Kiosk - Eine bunte Tüte voller Lügen - Christiane Antons - Страница 19
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ОглавлениеIhr Telefon riss Nina unsanft aus dem Schlaf. Doch als sie mit einem Auge auf ihren Wecker schaute, wusste sie, dass sie keinen Grund hatte, sauer zu sein. Halb zehn war eine Uhrzeit, zu der man guten Gewissens Menschen anrufen durfte. Die Welt konnte ja nichts dafür, dass Nina ein ausgesprochener Morgenmuffel war.
Sie raffte sich auf, holte sich das Telefon, das auf ihrem Sofa lag, und legte sich damit wieder unter die noch warme Decke.
»Hallo?«
»Ich finde ja, dieses ›Hallo‹ ist eine Unart. Du hast doch einen Namen!«
»Guten Morgen, Hetta, ich dich auch«, antwortete sie. »Kleine Vorwarnung: Du hast mich geweckt und ich hatte noch keinen Kaffee. Mein Geduldsfaden ist also im Moment wie deiner stets ist: extrem kurz.«
»Dann sieh mal zu, dass du dir einen Kaffee besorgst. In zwei Stunden hast du einen Termin auf dem Friedhof in Schildesche.«
»Wer ist gestorben?«
»Niemand, den wir kennen. Aber deine treu sorgende Mutter hat dir eine Stelle für deine Sozialstunden besorgt. Allerdings nur, wenn du dich Carl gegenüber etwas weniger bescheuert verhältst als mir.«
»Und Carl ist?«
»Der Friedhofsgärtner. Stell dir vor: Arbeit im Freien, bei der dir kaum Menschen über den Weg laufen – zumindest keine lebenden. Ist doch genau das Richtige für dich!«
Nina dachte einen Moment nach. Auch wenn sie es nur ungern zugab, hatte ihre Mutter recht. Die Vorstellung, in einem Pflegeheim oder Kindergarten auszuhelfen, gefiel ihr schon allein wegen der vielen Regeln, Vorgesetzten und Kollegen nicht. Sie hatte ein Problem mit Autoritäten. Aber ein bisschen gärtnern bei frischer Luft, das könnte ihr in der Tat gefallen.
»Okay. Wo muss ich hin?«
»Carl erwartet dich um zwölf Uhr vor der Friedhofskapelle. Benimm dich.«
Nina verdrehte die Augen und rang sich ein »Danke, Hetta« ab. Sie hörte, wie sich ihre Mutter eine Zigarette anzündete und einen tiefen Zug nahm.
»Gern geschehen«, entgegnete sie, ganz ohne Sarkasmus in der Stimme. Ihre Mutter war stets für eine Überraschung gut.
Exakt fünf vor zwölf zeigte die Uhr an, als Nina ihr Auto auf dem Parkplatz des Friedhofs abstellte. Ob sie dies als Zeichen für etwas werten sollte? Sie schmunzelte. Höchstens als Zeichen dafür, dass sie sich zügig und ohne Umwege zur Kapelle bewegen sollte, denn ein zu spätes Kommen würde sicherlich keinen guten Eindruck erwecken.
Sie spazierte über den alten Teil des Schildescher Friedhofs und sah bereits von Weitem einen Mann im Eingangsbereich der weiß getünchten Kapelle stehen. Es nieselte. Nina beschleunigte ihren Schritt, um schneller das Vordach der Kapelle zu erreichen.
»Mahlzeit, ich bin Nina Gruber. Sie haben mit meiner Mutter telefoniert, vielen Dank, dass ich mich vorstellen darf.« Sie streckte dem Mann die Hand hin.
Er war fast zwei Köpfe größer als sie und hatte einen kräftigen Händedruck. Wegen der Kappe, die er trug, lag sein Gesicht zur Hälfte im Schatten. »Mahlzeit. Kein Problem. Hab gehört, du hast einem prügelnden Familienvater die Fresse poliert? Glückwunsch.«
Nina schaute für einen Moment auf ihre Schuhspitzen und nickte. »Klingt so, als hätte Hetta Sie über das Wesentliche bereits informiert.«
Carl lachte leise. »Sagen wir, sie ist eine Frau der klaren Worte. Aber das weißt du als ihre Tochter ja bestimmt besser als jeder andere. Und offiziell weiß ich sowieso von nichts. Lass uns uns mal duzen, sonst fühle ich mich so alt.«
Nina nickte erneut.
»Willste eine kleine Runde über den Friedhof drehen oder biste aus Zucker?«
Nun lachte sie. »Meine Jacke ist wasserfest.«
Er deutete auf die Kapelle hinter ihnen. »Die wurde 1930 gebaut und steht seit 2002 unter Denkmalschutz.«
Nina betrachtete das schlichte Kreuz auf der Hauptgiebelfläche. »Ich finde die Kapelle sehr schön. Auch wenn es sich komisch anfühlt, das zu sagen.«
»Weil dort Tote aufgebahrt werden? Der Tod gehört nun mal zum Leben, auch wenn das den meisten Menschen nicht passt. Ich bin schon immer gerne über Friedhöfe spaziert. Da isses so angenehm …«
»… ruhig«, komplettierte Nina den Satz.
Er nickte. Sie ließen die Kapelle hinter sich liegen und spazierten los. »Auf dieser Seite findest du übrigens auch noch ein paar sehr schöne alte Familiengräber.«
Nach einer Weile gelangten sie an eine Hauptstraße, die den alten vom neuen Part des Friedhofs trennte. Während sie an der Fußgängerampel warteten, blickte sie Carl von der Seite an und fragte sich, wie alt er wohl war. Mitte fünfzig vielleicht? Seine Hände waren kräftig und offensichtlich Arbeit gewohnt.
»Ich bin gerne an der frischen Luft«, sagte er plötzlich recht laut, als ob er Ninas Betrachtung unterbrechen wollte. Sie überquerten die Straße und betraten den jüngeren Friedhofsteil.
»Ich auch«, sagte sie schnell.
»Da«, Ninas Blick folgte seinem Fingerzeig, »ist die Grabstätte des Konvents der Breslauer Ursulinen. In den Fünfzigerjahren wurde das Ursulinenkloster in Schildesche gebaut.«
»Interessant. Wie lange bist du hier schon als Gärtner tätig?«, erkundigte sich Nina.
Er zuckte mit den Schultern. »Seit zwölf Jahren.«
»Und was hast du vorher …«
Er unterbrach ihre Frage. »So, da vorne ist dann unser Mitarbeiterhäuschen. Bis wir das erreichen, kannste dir überlegen, ob du deine Sozialstunden hier ableisten willst.«
»Da muss ich nicht lange überlegen. Ich habe morgen einen Termin mit der Bewährungshilfe und würde das mit denen besprechen«, entgegnete Nina.
Er nickte. »Wenn das klargeht, erwarte ich dich nächste Woche hier. Und dann heißt’s für dich FFZ.«
»FFZ?«
»Erfährste dann.« Er führte zum Abschied seine Hand zu seiner Kappe und deutete zur Eingangspforte am Ende des Weges. »Du findest selbst raus, nicht?«
Sie mochte Carl.