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Mythos des leidenden Künstlers
ОглавлениеGerne möchte ich noch mit einem anderen Mythos aufräumen, der in der Kunstwelt herumgeistert und oft genug als schlagendes Argument angeführt wird, warum ein gewisser grenzüberschreitender Druck herrschen müsse: Um erfolgreich zu sein, müsse der Künstler leiden.
Jeder, der in irgendeiner Weise kreativ arbeitet, weiß genau, wie wenig kreativitätsfördernd beispielsweise Existenzangst ist oder die Sorge, die Miete nicht zahlen zu können. Wenn ein Künstler das verdrängen kann und dennoch kreativ ist, dann geht es um seine geistige Leistung, trotz widriger Lebensumstände erfolgreich zu sein. Es gibt allerdings unzählige andere, die an diesem Leiden zugrunde gegangen sind, die derart blockiert waren, dass sie keine Chance hatten und ihre innere Kreativität nie entfalten konnten. Allerdings finden jene nur wenig Beachtung in unserer Gesellschaft.3
Natürlich darf und soll ein Künstler gefordert werden, und solange es eine belebende Art der Herausforderung in einem geschützten Rahmen ist, werden sich gerade kreative Menschen mit großer Lust öffnen. Doch die Vorstellung, das Talent und die Begabung, die wir als Künstler geschenkt bekommen, könne sich nur entfalten, wenn wir uns in Melancholie, Verzweiflung und Düsternis wälzen und leiden, ist schlichtweg falsch und zerstört den Künstler als Kreativquelle eher, als dass es ihn gezielt zur Reife bringt. An diesen Erlebnissen reift er nur, wenn er viel psychische Widerstandskraft aufbringt.
Wenn sich ein Dirigent oder eine Regisseurin über eine Sängerin oder einen Schauspieler aufregt, die/der sich vermeintlich zu wenig einbringt, und über Beleidigungen auf verachtende Weise Druck aufbaut, dann zeugt das nicht von Können, sondern schlicht von schlechtem Führungsstil und mangelnder Menschenkenntnis. Die neuere Motivations- und Kreativitätsforschung belegt, wie wenig Ängste und Depressionen förderlich sind. Für kreatives Arbeiten braucht es bei aller Nähe zum grenzüberschreitenden, flexiblen Denken keinen Geist, der von Ängsten oder Anspannung so gelähmt ist, dass er nichts mehr ordnend und strukturierend zustande bringt. Ebenso wenig benötigt es einen Geist, der träge und müde ist.
Zweifellos gibt es den einen oder anderen Chorsänger oder auch Orchestermusiker, der nicht zum Gelingen des Werkes beiträgt. Doch hier liegt eher ein strukturelles Problem zugrunde. Oftmals fühlen sich Chorsänger und auch Orchestermusiker, die als Solisten ausgebildet wurden, unterfordert und wenig wertgeschätzt. Wenn die Leistung abnimmt, nützen Druck und Beleidigungen auf künstlerischer Ebene wenig. Mit dem Mangel an Motivation umzugehen, ist eine klassische Führungsaufgabe, die zwischenmenschliche Fähigkeiten und grundlegendes Wissen in Organisationspsychologie voraussetzt – Fähigkeiten, die bislang in Theaterbetrieben im künstlerischen Bereich noch zu wenig ausgebildet werden.
Und ja: Augen auf bei der Berufswahl! Ein Künstlerleben ist ein Leben zwischen den Extremen. Umso mehr erfordert es Techniken der Absicherung; wie ein Bergkletterer, der Seile und Haken mitnimmt, um sein Leben und seine Gesundheit zu schützen. Genau hier sollten wir genauer hinschauen und neue Wege suchen, wenn wir die künstlerische Schaffenskraft in der Gesellschaft erhalten, ja uns Kunst überhaupt leisten wollen. Warum soll es nicht möglich sein, die künstlerischen Rahmenbedingungen derart auszubalancieren, dass die psychische Stabilität unserer Künstlerinnen und Künstler erhalten bleibt und dabei ihre flexible Brillanz nicht verloren geht?
Leiden ist kein Garant für Erfolg, und wenn der erhoffte Erfolg ausbleibt, bleibt dem Künstler wenigstens die Gesundheit.