Читать книгу Erste Hilfe für die Künstlerseele - Christina Barandun - Страница 9

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Einleitung: Warum ertragen, wenn ich gestalten kann?


Talentierte junge Künstlerinnen und Künstler1, die frisch von den Hochschulen ihr erstes Engagement im Theater antreten, bekommen meist einen regelrechten Kulturschock. Im Tagesbetrieb eines Theaters angekommen, ist die heilige Aura und der hehre Anspruch gemeinschaftlicher künstlerischer Kreationen rasch dahin, spätestens wenn kurz vor der Premiere komplette Szenen umgestellt werden, wenn die Älteren im Ensemble die eigene Machtposition subtil oder auch weniger subtil ausspielen, wenn gute neue Ideen nicht gehört oder im Keim erstickt werden, sich die ersten Ermüdungserscheinungen nach monatelangen durchgetakteten Probe- und Aufführungsterminen ohne Pause einstellen, man sich nur noch von Fast Food ernährt, wenn erste Versagensängste aufkommen, die ersten Blackouts eintreten und man nicht mehr weiß, wann man das letzte Mal die beste Freundin kontaktiert hat.

Der Betrieb »saugt einen langsam auf«, wobei man nicht, wie gehofft, auf der Wolke der kreativen Glückseligkeit lebt, sondern in der permanenten Überforderung irgendwie »überlebt«.

Die aktuelle Situation für Künstler an Theaterbetrieben kann nicht dramatisch genug geschildert werden. Das Argument »Augen auf bei der Berufswahl« hat sicherlich seine Berechtigung, wenn es um die künstlerspezifischen Anforderungen geht wie der Umgang mit Lampenfieber oder die abendlichen Arbeitszeiten, die einem regulären Familienleben eher im Wege stehen. Dennoch darf dieses Argument nicht als Freibrief für alle Missstände herhalten, wie schlecht belüftete, enge Proberäume, ungünstiges Führungsverhalten oder unnötige Zusatzarbeiten, weil die interne Kommunikation nicht funktioniert und kurzfristige Änderungen nicht bei allen angekommen sind.

Eine Flucht in die Selbstständigkeit ist keine Lösung, denn zum einen ändert das nichts am Theatersystem, das sich vor allem von innen her wandeln muss, zum anderen kennt auch in der freien Szene die Selbstausbeutung kaum Grenzen.

Wir als Gesellschaft, die Kunst erleben wollen, sollten nicht zulassen, dass sich Kunstschaffende für uns und um der Kunst willen ausbeuten und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Der volkswirtschaftliche Schaden wäre enorm. Sowohl die Theaterbetriebe als Arbeitgeber als auch die Künstlerinnen und Künstler selbst sollten deshalb zu einem gesunden Selbstverständnis gelangen, dass auch sie Arbeitsbedingungen und -strukturen benötigen, in denen sie ihre ganze künstlerische Kraft entfalten und nachhaltig entwickeln können.

Glücklicherweise nehmen sich in den Theaterbetrieben die Verantwortlichen nach und nach dieser Zustände an. Wir stehen am Anfang eines vorsichtigen Umdenkens und Handelns, insbesondere weil mittlerweile auch die gesetzlichen Bestimmungen z. B. im Arbeitsschutzgesetz zur Gesunderhaltung der Arbeitnehmer verstärkt wurden; eine große Herausforderung für Theaterbetriebe, denn letztlich ist alles im Theater diametral entgegengesetzt zu einer im Gesundheitsschutz gewünschten »Work-Life-Balance«. Diese Tatsache war bislang auch der gerne angebrachte Grund, dass nichts geändert werden könne: »Im Theater geht das nicht. Da ist alles anders.« – Nun. Sicherlich. Es ist anders, was allerdings guten Entwicklungen und neuen Veränderungen nicht im Wege stehen muss. Wo, wenn nicht an dem Ort, an dem in jeder Spielzeit unzählige Neuproduktionen erschaffen werden, sollten konstruktive Veränderungen möglich sein? In der Oper arbeiten bis zu zweihundert Menschen auf und hinter der Bühne zusammen, um in nur acht Wochen eine koordinative, kreative Höchstleistung zu vollbringen. Gerade in einem Umfeld, das komplexe Arbeitsstrukturen gewohnt ist, sollte es doch machbar sein, die Gesamtstruktur des Betriebes kreativ zu optimieren.

Betrachtet man die aktuelle Arbeits- und Organisationsentwicklung in der Wirtschaft, die sich seit einigen Jahren intensiv mit gesunden, motivierenden Arbeitsformen befasst, ließen sich sicherlich einige Ansätze auf das Theater übertragen. Nichtsdestotrotz müssen für den Kulturbetrieb mit der hohen Fluktuation künstlerischer Mitarbeiter spezifische Lösungen entwickelt werden.

Erste kleine Schritte zu einem Theater der Zukunft

Wenn das Theater die zunehmende Entmenschlichung der Gesellschaft kritisiert und auch eine gesellschaftliche Aufgabe erfüllen will, dann sollte es ein lebendiges Beispiel für diese Vision sein.

Die derzeitigen Strukturen im Theater lassen nicht zu, dass diese Vision umgesetzt wird. Es ist ein Prozess, der von allen Seiten und von oben und unten Offenheit und Kreativität voraussetzt, Qualitäten, die das Theater im Kern auszeichnen (sollte). Mit neuen Organisationsstrukturen wird bereits weltweit experimentiert, Stichworte dazu sind selbstorganisierende Unternehmen und Agilität.2 Unsere gemeinsamen langfristigen Ziele im Theater sollten sein: die Rahmenbedingungen zu verbessern, die Selbstkompetenz der Einzelnen zu erhöhen sowie die Kommunikations- und Konfliktfähigkeiten zu erweitern, um nach und nach einen Rahmen zu schaffen, in dem Kreativität ihre volle Kraft entfalten kann und eine Arbeitsstruktur für das Theater entwickelt wird, die der Kunst dient – das Theater als Kunstschmiede, in dem sich das Was auch im Wie spiegelt:

Theater als künstlerisch-betriebliches Gesamtkunstwerk.

Um was es mir geht

Dieses Buch soll Impulse bieten, was wir als Einzelne im Theaterbetrieb dazu beitragen können, um verkrustete Strukturen aufzubrechen und in kreativitätsfördernde Arbeitsbedingungen zu verwandeln. Sicherlich lässt sich ein so komplexes System wie das Theater nur durch kleine aktive Schritte ändern. Umso wertvoller, wenn wir diese Herausforderung annehmen. Denn je mehr von uns diesen Weg gehen, desto größer wird die Wirkkraft. Und jeder Weg beginnt – wie wahr – mit dem ersten Schritt.

In diesem Buch gebe ich Ihnen Hintergrundwissen, Anregungen und praktische Tipps, wie Sie in Ihrem künstlerischen Alltag für sich sorgen und in Ihrem Rahmen Ihren Arbeitsplatz optimieren und möglicherweise eine neue Haltung zu Ihrer Arbeit finden können. Es geht darum, der künstlerischen Gestaltungskraft in uns einen geschützten Raum zu geben; einen Raum, in dem wir von unseren Ängsten, Eitelkeiten, Unsicherheiten, unserer Konfliktscheu oder Streitlust und sonstigen Schwierigkeiten im Umgang mit anderen lassen können und unserem inneren kreativen Potenzial wieder freie Bahn schenken können.

Im ersten Kapitel gehe ich auf den »Arbeitsplatz Theater« ein und beschreibe, wo wertvolle Potenziale liegen, um ihn für den Künstler kreativ und gesund zu gestalten. Um diese Potenziale zu entfalten, bedarf es der Selbstwirksamkeit, die im zweiten Kapitel beschrieben wird; dem Wissen darum, dass wir selbst viel mehr in der Hand haben, als wir oft meinen. Und um diese Selbstwirksamkeit zu unterstützen, folgen in den nächsten vier Kapiteln neben Hintergrundinformationen praktische Hinweise, Anregungen und Übungen, wie sich der anspruchsvolle, kommunikationsreiche Alltag entspannter, gesünder und letztlich effektiver gestalten lässt. Ich zeige, welches kreative (Gehirn-) Potenzial wir noch ausschöpfen können, um gekonnt mit Stress umzugehen, beschreibe Techniken zur Stressbewältigung und erläutere, wie Kommunikation gelingen kann und wie Sie Konflikten und Auseinandersetzungen begegnen sollten.

Im abschließenden Kapitel möchte ich nochmals die Idee des Genies hinterfragen und zu der Haltung eines ganzheitlichen Kunsthandwerks motivieren. Eine Haltung, die ebenso kreativ, umfassend, bewegend, berührend, spirituell und politisch sein kann, allerdings kein sich schnell verbrennendes Künstlerfeuer verlangt, sondern durch kontinuierliche, gesunde Arbeit an sich selbst geprägt ist und die das Geschenk der eigenen künstlerischen Kreativität wertschätzt.

Neben konkreten praktischen Übungen in den Kapiteln 4, 5 und 6 sind am Ende jedes Kapitels Anregungen und Hinweise aufgelistet, die sich auf die Themen und Inhalte des vorangegangen Textabschnitts beziehen. Bereits an dieser Stelle bitte ich Sie, bloß nicht alle Übungen und Anregungen auf einmal umsetzen zu wollen. Das geht nicht und demotiviert nur!

Daher ist mein erster Tipp: Lassen Sie sich von Ihren Interessen leiten. Suchen Sie sich zunächst nur eine Übung aus dem Buch heraus und schauen Sie, was sich verändert. Erfahrungsgemäß ergibt sich aus dem ersten Schritt ein logischer zweiter. Da alles miteinander zusammenhängt, wird eine positive Veränderung an einer Stelle sich automatisch auch auf alles andere auswirken.


Wege zur Zufriedenheit

Eine abschließende Anmerkung: Vordergründig beziehe ich mich auf die »ausführenden Künstler« und deren »Kunst«, auch in den Beispielen, da einige inhaltliche Themen etwas anders gelagert sind als in den ebenso wichtigen technischen und Verwaltungsbereichen. Doch für mich steht fest: Alle Mitarbeiter eines Kulturbetriebes sind Kunstschaffende. Alle gehören einer großen besonderen Gemeinschaft an, die Kunst kreiert und ermöglicht, und alle verdienen gleichermaßen Wertschätzung und Anerkennung. Ich bin mir sicher, dass auch die nicht explizit angesprochenen Bereiche die Tipps in diesem Buch aufgreifen und umsetzen können.

Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Freude bei Ihrer persönlichen Entdeckungsreise!

1Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)

2»Agilität ist die Fähigkeit von Teams und Organisationen, in einem unsicheren, sich verändernden und dynamischen Umfeld flexibel, anpassungsfähig und schnell zu agieren. Dazu greift Agilität auf verschiedene Methoden zurück, die es Menschen einfacher machen, sich so zu verhalten.« Aus: Svenja Hofert: Agiler führen: Einfache Maßnahmen für bessere Teamarbeit, mehr Leistung und höhere Kreativität, Wiesbaden: Springer Gabler, 2016; Kindle-Version, Kindle-Positionen 687–689. Des Weiteren sei auf das spannende Buch von Frederic Laloux: Reinventing organizations (München: Verlag Franz Vahlen, 2015) hingewiesen, das sich mit neuen Organisationsformen befasst.

Erste Hilfe für die Künstlerseele

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