Читать книгу Systemische Therapie - Christina Hunger-Schoppe - Страница 19
1.2.1 Reziprozität
ОглавлениеDer österreichische sowie US-amerikanische Kommunikationstheoretiker, Psychotherapeut und Philosoph Paul Watzlawick (1921–2007) veröffentlichte zusammen mit seinen Kollegen des Mental Research Instituts (MRI; Palo Alto, Kalifornien) die Idee, dass es zwar gestörte Beziehungen, jedoch keine gestörten Individuen gibt (Watzlawick et al. 2011). Ähnlich physikalischen Regelkreisläufen kann menschliche Kommunikation als Rückkoppelungskreislauf im Dienste der Stabilisierung des Gleichgewichts eines sozialen Systems verstanden werden. Vorlage zur Analogiebildung ist z. B. das Heizthermostat, welches für einen Ausgleich bei Diskrepanz zwischen einem Ist-Zustand (z. B. 18° Raumtemperatur) und einem Sollzustand (z. B. 22° Raumtemperatur) sorgt (Kypbernetik 1. Ordnung). Vielfach bekannt wurde die Beschreibung des schmollenden Mannes und der nörgelnden Ehefrau, die sich gegenseitig in ihrer Symptomatik hochspielen, je mehr der eine oder die andere das tut, was sie oder er tut, nämlich nörgeln und schmollen. So wird die scheinbare Reaktion (Wirkung) einer Interaktion zum Auslöser (Ursache) einer weiteren Interaktion innerhalb des sozialen Systems (Zirkularität) ( Abb. 1.1). Die Interpunktion und damit der Beginn der Beschreibung einer an sich reziproken, d. h. rückgekoppelten Interaktion muss dabei (un-)willkürlich gewählt werden und in jedem Fall ist die Setzung des Beginns der Erzählung auch anders möglich. Diese Grundgedanken sind in den fünf Axiomen menschlicher Kommunikation zusammengefasst ( Tab. 1.1). Die Frage danach, wer welche Schuld an der vermeintlichen Misere hat, löst sich auf, denn in reziproken Beziehungen hat niemand allein Schuld und niemandem gehört eine Störung allein (Borst 2017). Soziale Interaktionen brauchen immer mindestens zwei miteinander interagierende Elemente. In betroffenen sozialen Systemen konstruieren alle Systemmitglieder zusammen ein Störungsgeschehen und sind insofern gemeinschaftlich verantwortlich für seine Entstehung sowie Aufrechterhaltung und damit auch handlungsmächtig zur Veränderung.
Abb. 1.1: Menschliche Kommunikation als Regelkreislauf (nach Watzlawick et al. 2011)
Tab. 1.1: Fünf Axiome menschlicher Kommunikation (nach Watzlawick et al. 2011)
AxiomBeschreibung