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10 Nick – 20. Dezember 1863

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N icky, wach auf! Die Beerdigung fängt an.«

Ein Schütteln an der Schulter holte mich aus dem Schlaf. Ich schlug die Lider auf und blickte in Charlottes mitleidiges Gesicht. Meine Kopfschmerzen waren verschwunden, und das erste Mal seit Tagen fühlte ich mich stark genug, das Lager zu verlassen. Heute musste ich Ma beichten, was geschehen war, sonst würde ich ihr nicht mehr in die Augen sehen können. Mein Magen verkrampfte sich. Würde sie schreien? Weinen? Mich mit dem Gürtel verprügeln? Mich von der Ranch jagen? All das hätte ich verdient.

So oder so. Morgen würde ich mich auf die Suche nach Freddy Johnson machen und Vater rächen.

Ich lächelte meine Schwester schief an. »Ich zieh mir besser was über.«

»Solltest du. Nicht, dass du dir auch noch eine Lungenentzündung einfängst. Ich würd’ gern mal wieder was anderes machen als an deinem Bett sitzen und Verbände wechseln.«

»Danke«, rief ich Charlotte hinterher, während sie bereits die Leiter hinunterkletterte.

Ich legte mir mein Gewand zurecht und entdeckte, dass sie für mich Wasser in der Waschschüssel gelassen hatte. Mein Blick fiel auf die Spiegelscherbe an der Wand und ich erstarrte. Langsam hob ich die Hand und fuhr über meine Haare, oder besser gesagt: die Überreste davon. Ein Schatten schwarzer Stoppel, durch den meine Kopfhaut zu sehen war. Ich erinnerte mich bruchstückhaft daran, wie Charlotte meinen Kopf geschoren hatte, und an meine verkohlten Locken neben mir auf der Matratze. Es fühlte sich richtig an, dass die Zerstörung in meinem Inneren auch äußerlich sichtbar war. Mein linker Arm war bis zum Hals mit muffigen Leinentüchern umwickelt, genauso mein Brustkorb. Bestimmt hatte Charlotte mich verbunden. Selbst wenn der Doktor in der Stadt nicht so weit entfernt gewesen wäre, hätten wir uns die Behandlungskosten nicht leisten können. Meine Verbrennungen unter den Verbänden spürte ich an manchen Stellen kaum, doch die Wundränder bissen höllisch. Die gerechte Strafe für meinen Fehler. Ich befreite mich notdürftig vom klebrigen Schweiß, zog meine Kleidung über und schaffte es die Leiter hinunter. Blinzelnd trat ich hinaus in den grauen Dezembernachmittag.

Vater wurde hinter dem abgebrannten Stall neben meinem kleinen Bruder Davy beigesetzt. Zögerlich schlich ich näher. Ich brachte es nicht über mich, die Holzkiste anzusehen. Um das frisch ausgehobene Loch hatten sich neben Ma und meinen Geschwistern nur noch der Reverend und zwei halbwüchsige Jungen eingefunden. Ich kannte die beiden Letzteren vom Sehen aus der Kirche. Seit sich der Schreiner verpflichtet hatte, begleiteten sie den Reverend auf seinen Besuchen. Nervös sah ich zu Ma, wurde aber ignoriert.

Der Reverend musterte mich ungeduldig. Dann schlug er seine Bibel auf und las mit dem Finger auf der Zeile: »Denn ich bin arm und elend. Der Herr aber sorgt für mich. Du bist mein Helfer und Erretter. Mein Gott, säume doch nicht! Psalm 40, Vers 18.«

Mit großen Augen starrte ich ihn an. Es war das erste Mal, dass uns jemand als arm und elend bezeichnete. Mich traf es wie ein Schlag in die Magengrube. Er hatte recht damit! Trotzdem war es brutal, diese Tatsache an Vaters Grab auszusprechen. Wer sich wohl als unser Helfer und Erretter entpuppen würde? Viel Zeit durfte dieser Jemand sich damit nicht mehr lassen. Aber es musste irgendeinen Ausweg aus der dunklen Grube geben, in der wir saßen! Ich konnte mir bloß beim besten Willen nicht vorstellen, welchen.

Ich zwang mich dazu, endlich den Sarg anzusehen – auch wenn es sich anfühlte, als würde ich mir ein Messer ins eigene Fleisch drücken. Dass er hier lag, machte alles so endgültig. Delilah, der Überfall, Vaters Tod, meine Schuld. Der Schmerz in meiner Brust war so stechend, dass ich mich am liebsten zusammengerollt und geheult hätte. Doch ich durfte mir keine Schwäche erlauben. Meine Familie brauchte mich! Zum Glück war die Holzkiste schon zugenagelt und ich musste die klaffende Wunde an Vaters Hals nicht noch einmal sehen. Die Sargbretter zeigten schwarze Rußspuren. Wahrscheinlich hatten die Jungen Überreste vom Stall dafür hergenommen. Für Vater war das Feuer ein günstiger Umstand. Sonst hätte er bestimmt keine Ruhestatt aus Holz bekommen. Was wohl mit Honey und Sugar geschehen war? Und mit Daisy? Irgendwie schaffte ich es immer noch nicht, meine Gedanken zusammenzuhalten.

»Erde zu Erde. Asche zu Asche. Staub zu Staub.«

Nie waren diese Worte treffender gewesen. Mein Herz zog sich vor Trauer zusammen. Schon davor hatte ich den fröhlichen Vater meiner Kindheit vermisst. Nie hatte ich erwartet, dass ich seine mürrische Art der letzten Jahre vermissen würde. Doch so war es. So früh zu sterben, hatte er nicht verdient. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben hatte er seine Familie nach Texas geführt und nichts als Arbeit, Schmerz und am Ende einen brutalen, ungerechten Tod gefunden. Nie mehr würde ich die Gelegenheit bekommen, ihm zu sagen, wie sehr ich ihn bewunderte. Seine Abenteuer mit Lederstrumpf und den Mohikanern waren legendär! Irgendwann würde ich auch von zu Hause fortgehen und mich dort draußen beweisen! Mein Vater hatte vor nichts und niemandem Angst gehabt; hatte die Verantwortung für seine Frau und seine Kinder übernommen und den Neuanfang in Texas gewagt. Erst jetzt begriff ich, wie schwer das Gewicht auf seinen Schultern gelastet hatte. Niemals würde ich so mutig sein wie er!

Ich blickte auf. Vorsichtig ließen die Jungen den Sarg in das Loch hinab und der Reverend warf eine Handvoll Erde hinunter. Charlotte schluchzte leise und ich musste mir auf die Lippen beißen, damit ich es ihr nicht gleichtat. Mit hölzernem Gesicht trat Ma vor und ließ ebenfalls Erde hinunterrieseln. Ben war erstarrt und sah mit großen Augen auf das Geschehen. Neben mir hatte Mary die Brauen zusammengezogen. Sie war wütend. Wütend auf ihr Schicksal, das sie zwang, hier so abgeschieden zu leben; wo sie sich die Finger blutig arbeitete, statt von einem Freier auf Händen getragen zu werden; wo man sich immerfort der erbarmungslosen Natur entgegenstemmen musste; wo ein Überfall am helllichten Tag ihr den Vater nehmen konnte.

Meine Zwillingsschwester war das genaue Gegenteil von mir. In ihrem mit winzigen Stichen bestickten Sonntagskleid wirkte sie wunderschön und zerbrechlich. Sie war jetzt schon einen Kopf kleiner als ich. Einzelne weizenblonde Strähnen hatten sich unter ihrer Haube gelöst und umspielten ihr porzellanweißes Gesicht, das sie immer sorgsam vor der Sonne schützte. Unsere einzige Gemeinsamkeit waren die blauen Augen – allerdings leuchteten ihre türkisfarben wie ein wolkenloser Frühlingstag, während meine dunkler waren und schwarze Sprenkel aufwiesen. Wie einem nervösen Pferd legte ich Mary eine besänftigende Hand auf die Schulter. Sie schnaubte und schüttelte meine Hand reflexartig ab, was uns sofort strafende Blicke von Ma und dem Reverend einbrachte.

Wie durch einen Schleier nahm ich wahr, wie das Grab zugeschaufelt und ein einfaches Holzkreuz errichtet wurde. Nach dem abschließenden Segen lud Ma den Reverend und seine Helfer zum Abendessen ein. Heute würde ich keine Gelegenheit mehr für mein Geständnis bekommen. Meine Schonfrist hatte sich noch einmal verlängert. Ich schämte mich, wie erleichtert ich darüber war.

Als ich die Köstlichkeiten sah, die auf unserem Küchentisch aufgehäuft waren, staunte ich nicht schlecht. Der Duft von frisch gebackenem Brot und knusprigen Hühnchen vermischte sich und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Daneben entdeckte ich einen faustgroßen Klumpen Butter, gekochte Eier und ein großes Stück Schinken von unserem letzten Mastschwein, von dem ich angenommen hatte, dass wir es bereits bis auf die Knochen abgenagt hatten. Dazu servierte Charlotte Kaffee aus echten Bohnen und stellte ein Schälchen Zucker auf den Tisch. Weißer Zucker! Ich hatte vergessen, wie der schmeckte.

Der Reverend nickte anerkennend und verbarg seine Überraschung hinter einem unverbindlichen Lächeln. Schon griff ich nach einem Ei und einer Scheibe Schinken, da traf mich ein Tritt unter dem Tisch. Ich sah auf und merkte, dass alle anderen die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt hatten. Eilig zog ich meinen Arm zurück und ignorierte Marys spöttischen Blick.

Es war ungewohnt, Ma ein Gebet sprechen zu hören, doch ihre Stimme war fest und klar: »Gott, wir danken dir für die reich gedeckte Tafel, die du uns heute beschert hast. Nimm meinen Mann bei dir auf und sorge für eine baldige, gesunde Heimkehr von Andrew und James und auch von Charlottes Verlobten Steven. Danke für den Mut, den du Nicky gegeben hast, um uns aus der Flammenhölle zu retten. Amen.«

Sie blickte auf und schenkte mir beinahe so etwas wie ein Lächeln. Mein Appetit verflog mit einem Schlag und ließ einen schalen Nachgeschmack zurück. Ma hielt mich für den Helden dieses verfluchten Tages. Was sollte ich ihr bloß sagen? Und was würden meine Worte ändern?

Das Gespräch am Tisch kreiste um den Überfall und die Tage danach. Zum ersten Mal hörte ich jetzt, wo Mary während des Angriffs gesteckt hatte.

»Ich habe gerade frisches Stroh in unsere Decken gefüllt, als ich von draußen Hufgetrappel und Schüsse vernommen habe. Das konnte nichts Gutes bedeuten!« Meine Zwillingsschwester sah den jungen Burschen in die Augen und als sie zufrieden feststellte, dass diese an ihren Lippen hingen, fuhr sie fort: »Da flog auch schon unsere Haustür auf. Als ich Ma und Charlotte kreischen hörte«, sie ignorierte den mahnenden Blick unserer Ma, »schaffte ich es in letzter Sekunde, unter das Bett zu kriechen und mich vor den Unholden zu verbergen. Kurz darauf roch ich den Rauch, wagte es aber erst in der Abenddämmerung, mein Versteck zu verlassen«, schloss sie.

Ma, Charlotte und Ben waren glimpflich davongekommen, hatten nur über Kopfschmerzen und Übelkeit geklagt, wofür ich dankbar war. Dann fing Mary an, ausführlich über den angekohlten Zustand zu berichten, in dem sie mich gefunden hatte: »Nicks Hemd hatte vorne riesige Brandlöcher.«

Das erklärte zumindest meine großflächigen Verbrennungen. Dass mein Hemd Feuer gefangen hatte, hatte ich gar nicht mitbekommen.

»Es hat fürchterlich nach verbranntem Fleisch und angesengten Haaren gestunken«, fuhr Mary fort. »Ich musste mir die Nase …«

»Genug von diesem schrecklichen Vorfall! Ab jetzt schauen wir wieder nach vorne«, schnitt Ma ihr das Wort ab. Die letzten Tage mussten hart für sie gewesen sein. Zwar hatte Vater zum Schluss wenig zu unserem Unterhalt beigetragen – aber er war da gewesen. Mit ihm war die Möglichkeit gestorben, dass irgendwann wieder alles wie früher werden konnte.

Mary tat, als hätte sie Mas Worte nicht gehört. »Nick, wo warst eigentlich du während des Angriffs?«

Ich schloss die Augen. Ich konnte meine Beichte nicht länger hinauszögern. Nur wünschte ich, der Pfarrer wäre nicht Zeuge meiner Demütigung geworden.

»Ich …«

»Übrigens, Nicky!«, fiel Ben ein. »Wir haben Daisy ein paarmal von weitem gesehen! Ich hab versucht, ihn wieder einzufangen, aber er ist immer abgehauen.« Er grinste mich erwartungsvoll an.

Unwillkürlich zogen sich meine Mundwinkel eine Idee nach oben. Das erste Mal, seit ich die Schüsse gehört hatte, verspürte ich einen Anflug von Hoffnung. Wenigstens Daisy hatte ich noch nicht für immer verloren. Mein Geständnis konnte warten, bis ich mit Ma allein war.

Die Brücken zur Freiheit - 1864

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