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11 Annie – 20. Dezember 1863

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D ann war der Moment vorbei. Das Pferd erkannte das Hindernis und legte sich so steil in die Kurve, dass die Räder der Kutsche vom Pflaster abhoben. Sekundenlang schwebten sie in der Luft. Annie warf sich auf die andere Seite. Eine Unebenheit auf der Straße und die Kutsche würde umkippen! Das Gefährt klappte wieder zurück und wurde langsamer. Annies Herz schlug hart gegen die Rippen und sie stieß den angehaltenen Atem aus.

Sie war mit dem Gespann in eine Nebenstraße geraten. Vom Hafen drang der Lärm nur noch gedämpft herüber und es waren kaum noch Menschen unterwegs. Der Kutschgaul vergaß, was ihn so erschreckt hatte, und fiel vom Galopp in Trab und vom Trab in Schritt. Mit zitternden Fingern wagte es Annie endlich, wieder nach den Zügeln zu greifen. Sie versuchte, sich zu orientieren. Das Pferd hatte sie parallel zum Fluss stromabwärts in Richtung Stadtrand gebracht. Im Grunde musste sie dem Ufer nur weiter folgen und sollte dann in etwa zwei Stunden auf die Hütte treffen.

Annie lenkte die Kutsche an der nächsten Kreuzung näher an das Wasser. Sie wollte nicht riskieren, sich zu verirren. Angst, Mr. Curtis noch einmal zu begegnen, hatte sie nicht. Zum einen hatte sie einen großen Vorsprung gewonnen, zum anderen kannte er ihr Ziel nicht. Sie hoffte, er hatte ihren Hinweis gehört und verstanden. Wenn er in der Schule vorgab, dass ein Kutschrad gebrochen war und das Gefährt morgen wie von Annie geplant von der Schmiede abholte, würde er keinen Ärger dafür bekommen, seine Kutsche samt einer Schülerin verloren zu haben. Niemand würde je von Annies Eskapade erfahren.

Sie ließ die Häuser hinter sich und hatte jetzt kein Problem mehr mit der Orientierung. Parallel zum Flusslauf verlief ein Fuhrweg mit tief eingegrabenen Spurrillen, der die Anderson-Fähre mit der Stadt verband. Ein ungewohntes Gefühl der Freiheit durchströmte das Mädchen. Während der letzten Jahre hatte sie die Sehnsucht nach Ausritten durch Wälder und über Wiesen in sich verschlossen. Endlich konnte sie wieder frei atmen! Zum ersten Mal, seit sie den Brief von Theresa in den Händen gehalten hatte, freute Annie sich auf ihre Heimkehr.

Die Kutsche holperte über den Weg, der zwischen der Uferböschung auf der linken Seite und einem Gehölz rechter Hand hindurchführte. Am gegenüberliegenden Ufer erkannte Annie sanfte Hügel, die ebenfalls dicht bewaldet waren. Dort drüben lag ihre Heimat Kentucky. Das Beste aber war der Fluss selbst. Nebel bildete sich über dem Wasser, und in der tief stehenden Nachmittagssonne wirbelte die Strömung Eisschollen, Äste und halbe Baumstämme herum. Annie hätte das Schauspiel stundenlang beobachten können und musste aufpassen, Unebenheiten in der Straße nicht zu übersehen. Wenn sie hier ein Rad verlor, steckte sie in der Klemme!

Ein sich rasch näherndes Rumpeln schreckte sie auf. Aufgeregtes Gänsegeschnatter folgte. War ihr anzusehen, dass sie in geheimer Mission unterwegs war? Wurde nach den entlaufenen Sklaven gesucht?

Die Fremden hatten Annie ebenfalls ausgemacht und führten ihr Fuhrwerk auf die Seite, damit sie passieren konnte. Freundlich verzog die Farmersfrau ihre Runzeln zu einem Lächeln, während ihr Mann das Zugpferd an der Trense hielt. Er musste seine Hand dafür weit nach oben strecken, da sein Rücken fast waagrecht gekrümmt war. Vermutlich hatten sie den Fluss mit der Anderson-Fähre überquert und wollten die Gänse zu Weihnachten am Markt in Cincinnati verkaufen. Von diesen beiden ging wohl keine Gefahr aus. Trotzdem war Annie froh, als sie hinter einer Biegung verschwanden.

Allmählich erreichte sie die Gegend, in der sie die gesuchte Hütte vermutete. Annie sah sich aufmerksam um, konnte aber nichts zwischen den Bäumen entdecken. Jede Minute brachte sie näher zur Fähre. Damit stieg das Risiko, dass sie jemandem auffiel.

Tatsächlich hörte sie jetzt das Klappern von Hufen in ihrem Rücken. Annie wagte es nicht, sich umzublicken, und bremste die Kutsche, damit sie schneller überholt wurde. Aber ihr Plan ging nicht auf. Der vorderste der drei Reiter schob sich zwischen den Kutschbock und den Fluss, zügelte sein Pferd und grinste zu ihr herüber. Die anderen beiden nahmen sie von rechts in die Zange. Männer vom Heimatschutz. Ausgerechnet.

»Wo willst du denn hin, Süße? So ganz allein?«

Annie hatte sich auf die Frage vorbereitet und antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken: »Nach Hause, nach Kentucky zu meinen Eltern.« Das war noch nicht einmal gelogen.

Misstrauisch warf der Anführer einen Blick auf ihre Ladefläche. Da auf dieser nur ihr Gepäck lag, verlor er schnell das Interesse.

»Du bist nicht zufällig ein paar dreckigen Sklaven begegnet?«, fragte er. »Genauer gesagt, suchen wir sogar zwei Gruppen. Sie sind letzte Woche ihren rechtmäßigen Besitzern in Kentucky weggelaufen.«

Mit starrem Gesicht schüttelte Annie den Kopf.

»Sie sind gefährlich! Wenn sie ein einzelnes Mädchen hier draußen erwischen, dann Gnade ihr Gott.«

Annie gefiel sein wölfisches Grinsen nicht. Obwohl er sie bestimmt nur erschrecken wollte, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Im Grunde wusste sie nichts über ihre Schutzbefohlenen. Nur, dass sie ihnen gegenüber in der Unterzahl sein würde. Waren es nur Frauen und Kinder oder befanden sich auch Männer darunter?

Dem Kerl war nicht entgangen, dass Annie blass geworden war. Er grinste zufrieden. »Keine Sorge, Süße, wir patrouillieren bis in die Nacht hinein am Fluss. Wenn du in Schwierigkeiten gerätst, sind wir zur Stelle.« Anzüglich fügte er hinzu: »Als Belohnung holen wir uns einen Kuss ab.«

»Die Belohnung kannst du dir bei meinem Ehemann holen«, rief Annie den Burschen hinterher.

Diese lachten nur, gaben ihren Pferden die Sporen und galoppierten davon. Annie rezitierte stumm die Ballade vom roten Haar, bevor sie den Kutschgaul wieder antraben ließ. Was die drei wohl mit ihr angestellt hätten, wenn sie geflüchtete Sklaven auf ihrer Ladefläche entdeckt hätten? Der Zeitungsartikel über Charley Sloo und Overton fiel ihr wieder ein und ihr wurde übel. Vergraben in Gedanken, übersah Annie beinahe den Schuppen, der sich hinter der vordersten Baumreihe in den Wald schmiegte. Sie war etwas zu spät dran. Die fünf Flüchtlinge würden bereits auf sie warten. Jetzt hieß es, so schnell wie möglich zurück nach Cincinnati zu kommen, bevor die Heimatschützer umdrehten und sie einholten!

Annie lenkte die Kutsche zur Hütte; kletterte über die Tritte nach unten; wappnete sich für die Begegnung. Dann zog sie das windschiefe Tor auf und starrte ins Innere. Bis auf kniehohes Gras war der Raum gähnend leer. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als zu warten, zumindest bis zur Abenddämmerung. Kurzerhand führte sie das Pferd hinein. Als es die hintere Wand erreichte, stand die Kutsche noch halb im Freien. So schirrte Annie den Falben aus und schob das Gefährt über die Schwelle. Der Raum war bis auf den letzten Inch ausgefüllt. Der Gaul senkte den Kopf und begann mit Hingabe zu grasen. Unentschlossen machte Annie das Tor von innen zu und kletterte wieder auf den Kutschbock. Obwohl sie sich in eine Decke wickelte, die sie in der Kiste unter dem Sitzbrett fand, zog ihr die Kälte bald bis in die Knochen. Sie nahm ein Buch aus ihrer Tasche, konnte sich aber nicht auf die Worte konzentrieren und legte es wieder weg. Mit allen Sinnen versuchte sie, die Bretterwand zu durchdringen und zu erraten, was draußen vor sich ging. Kein Laut drang ins Innere. Schließlich sprang sie wieder auf. Sie musste wissen, was sich vor dem Schuppen abspielte, und sich beschäftigen!

Annie stapfte in den Wald und sammelte trockene Zweige und Äste auf. Später konnte sie damit ihre heikle Fracht auf der Ladefläche bedecken und hätte gleichzeitig gegenüber Passanten den Vorwand, Feuerholz für die immer hungrigen Kamine in die Stadt zu liefern. Stetig wuchs der Stapel neben dem Tor. Wenigstens wurde ihr durch die Arbeit wieder wärmer. Den unzähligen Kratzern, die sich mittlerweile kreuz und quer über ihre Handrücken zogen, schenkte sie keine Beachtung.

Die Schatten wurden länger. Erst als Annie zum wiederholten Mal stolperte, weil sie Wurzeln und Zweige auf dem Waldboden nicht mehr ausmachen konnte, gestand sie sich ein, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Hatte sie irgendetwas falsch verstanden? Wollte sie der Alte nur auf die Probe stellen? War etwas passiert?

Sie beschloss, am Fluss Ausschau zu halten und dann zu entscheiden. Gerade trat sie aus dem Schutz der Bäume, da preschten die Heimatschützer in vollem Galopp heran. Annie drückte sich an den Baumstamm hinter ihr. Ihr Herz pochte. Wie sollte sie erklären, dass sie hier gerastet hatte? Was würden die Kerle mit den Flüchtlingen anstellen, wenn diese jetzt auftauchten?

Aber die Männer ritten an ihr vorbei Richtung Stadt. Nur weil sie es so eilig hatten, hatten sie Annie nicht entdeckt. Das Mädchen atmete auf. Wenigstens musste sie die Unholde nicht mehr in ihrem Rücken fürchten. Sofern ihr die Heimatschützer nicht am Straßenrand auflauerten, war die Gefahr vorerst gebannt.

Der Dunst über dem Wasser war mittlerweile undurchdringlich. Waren zuvor nur einzelne Nebelfahnen aufgestiegen, türmte sich das Grau jetzt mannshoch über dem schäumenden Nass. Von Menschen gab es weit und breit keine Spur. Annie lief am Ufer auf und ab, den Blick wie unter Zwang auf den Fluss gerichtet. Die Minuten verstrichen unendlich langsam und allmählich verwandelte sich der Abend in eine Vollmondnacht. In Annie wuchs der Verdacht, dass sie vergeblich wartete. Doch sie hatte schon zu viel riskiert. Aufgeben kam nicht infrage, solange noch der Hauch einer Chance bestand, dass die Flüchtigen es schaffen würden!

Während der Mond über den Himmel wanderte, schob Annie den Moment ihrer Rückkehr immer wieder auf; weigerte sich einzugestehen, dass sie gescheitert war. Wind rüttelte an den Büschen. Irgendwo aus dem Wald rief ein Käuzchen.

Zunächst nahm Annie das rhythmische Plätschern nur am Rande wahr. Zu oft schon war sie bei einem ungewohnten Laut aufgeschreckt, um dann festzustellen, dass zwei Eisschollen gegeneinander gekracht waren oder sich treibende Äste am Ufer verfangen hatten. Aber das Geräusch näherte sich. Annie verharrte, lauschte angespannt und starrte aufs dunkle Wasser hinaus.

Nach und nach löste sich aus dem Nebel ein Umriss, der, getragen von der Strömung, nur ein paar Schritte flussabwärts von ihrer Position das Ufer erreichen würde. Jetzt konnte Annie ein Ruderboot ausmachen, das von den Wellen hin und her geworfen wurde. Immer wieder erbebte es, wenn es mit Treibgut kollidierte. Fast hatte es das Ufer erreicht. Da schoss ein Baum samt Ästen und Wurzeln an Annie vorbei, auf das Gefährt zu. Noch während sie einen warnenden Ruf ausstieß, krachte der Stamm gegen die schutzlose Seite der Nussschale. Ein unheimliches Heulen hallte durch die Nacht. Dann kippte das Boot.

Die Flüchtlinge! Ohne zu zögern, warf Annie den Mantel ab und watete ins Wasser. Augenblicklich bohrte sich das eisige Wasser wie ein Dolch in ihre Glieder und betäubte sie. Nur eine Armlänge trennte sie von der nächsten zappelnden Gestalt. Um diese zu erreichen, musste Annie ihren sicheren Standpunkt aufgeben, sich noch weiter in die zerrenden Fluten wagen. Sie machte einen Schritt nach vorne und streckte den Arm aus, verlor den Boden unter den Füßen. Verzweifelt strampelte sie mit den Beinen. Annie konnte schwimmen, doch das Gewicht ihrer vollgesogenen Röcke zog sie wie eine Eisenkette nach unten. Ihre Hand stieß an einen treibenden Körper, packte ihn, ließ ihn nicht mehr los. Die zusätzliche Last riss an ihr, aber Annie lockerte ihren Griff nicht. Eine Welle schwappte über ihren Kopf. Sie schluckte modriges Wasser, schnappte nach Luft, hustete. Ihre Augen und Lungen brannten. Um sie war alles schwarz. Wo war das Ufer? Büsche! Dort vorne! Annie ruderte mit dem freien Arm darauf zu, während sie Stück für Stück abgetrieben wurde. Endlich spürte sie Grund. Mit letzter Kraft kämpfte sie sich die Böschung hinauf; zog das menschliche Gewicht hinter sich her; blieb liegen; rang nach Atem.

Erst nach einer Weile ließ das Zittern nach und Annie kroch zu der Geretteten. Die dunkelhäutige junge Frau atmete flach. Aber sie atmete immerhin. Annie kam auf die Füße und suchte die Umgebung ab. Hatten noch mehr Bootsinsassen das Unglück überlebt?

»Ist jemand hier?«, rief sie in die Dämmerung.

Außer dem Rauschen und Gurgeln vom Fluss hörte sie keinen Ton.

»Hallo?«, versuchte sie es erneut.

»Hier!«, erhielt sie endlich ein Echo.

Erleichterung durchflutete Annie und sie hastete auf die Stimme zu. Hinter einem Busch kauerten drei halb ertrunkene Gestalten. Eine grauhaarige Frau hielt ein Kleinkind und einen jungen Mann in fester Umarmung. Mit dunklen Augen blickten sie zu Annie auf. Babygeschrei wehte über das Wasser. Alle vier fuhren zusammen. Es kam von einer Stelle unweit des Ufers, an der sich Treibholz gestaut hatte. Der fünfte Passagier. Noch bevor einer von ihnen reagieren konnte, stürzte ein Schatten an ihnen vorbei und warf sich erneut in die Fluten. Die junge Frau, die Annie gerettet hatte, musste die Mutter des Babys sein.

Annie und der Bursche rannten ihr hinterher, während sich die Frau in den Wogen am schaukelnden Holz nach vorne hangelte. Jetzt erreichte sie das schreiende Bündel. Gleichzeitig sprangen Annie und der junge Mann ins Wasser. Sie suchten und fanden den Augenkontakt, dann fassten sie sich an den Händen. Annie sicherte ihn und er tastete sich weiter in den Strudel hinein. Fast kamen Mutter und Kind in die Reichweite seines ausgestreckten Arms. Da löste sich das Treibholz mit einem Ruck. Mit letzter Kraft schob die Frau ihr Baby noch ein Stück nach vorne und der Bursche bekam es zu packen. Ein dicker Ast wirbelte vorbei und donnerte gegen die Stirn der jungen Frau. Ohne einen Laut von sich zu geben, versank sie in den Fluten. Fassungslos starrte Annie auf das tosende Wasser, aber die Frau tauchte nicht mehr auf.

Wieder an Land, folgte der junge Mann dem Ufer flussabwärts. Schon bald kehrte er zurück, schüttelte traurig den Kopf und drückte das Baby an seine Brust.

»Es ist zu spät.« Seine Stimme klang tief und melodisch.

Die Grauhaarige schluchzte auf. Er trat auf sie zu und nahm sie und das Kind in den Arm.

Annie blinzelte ihre Tränen weg. Wie groß musste das Elend dieser Menschen auf der anderen Seite gewesen sein, wenn sie die Flucht in jener Nussschale als bessere Alternative betrachtet hatten? Und noch hatten sie es nicht einmal bis nach Cincinnati geschafft!

Die Brücken zur Freiheit - 1864

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