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7 Annie – 17. Dezember 1863

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V oller Tatendrang erwachte Annie vor allen anderen Schülerinnen im Schlafsaal. Bibbernd sprang sie aus dem warmen Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und warf sich einen Mantel über das Nachthemd. Der Lokus draußen hinter dem Haus war noch ein Schatten in der beginnenden Morgendämmerung. Trotz der schneidenden Kälte und der Feuchtigkeit, die durch die Schuhe an ihre Zehen drang, zog das Mädchen diesen Ort der Bettpfanne vor. Sie verabscheute den entwürdigenden Moment, wenn man am Morgen die stinkende Brühe aus Kot und Urin schwappend die Treppe hinunterbefördern musste. Der Deckel schützte zwar vor dem Anblick, bildete aber keine wirkungsvolle Barriere gegen den beißenden Gestank.

Auf dem Rückweg füllte Annie mit klammen Fingern ihren Eimer am Brunnen und schleppte ihn die Stufen hinauf in den Waschraum. Mittlerweile waren auch die anderen Mädchen auf den Beinen und es herrschte ein munteres Durcheinander.

»Annika, könntest du mir bitte kurz helfen?« Hilfesuchend blickte Loreley ihrer Freundin über die Schulter entgegen.

Sofort stellte Annie den Eimer ab und zog Loreley die Bänder ihres Mieders straff im Rücken zusammen. Sie musste nicht fest anreißen, da beide Freundinnen gertenschlank waren. Neidisch streifte Annies Blick die schon beachtliche Oberweite der anderen. Sie selbst überragte alle in ihrer Schulklasse und zeigte bis jetzt kaum weibliche Rundungen.

»Meinst du, wir müssen heute bei den Leibesübungen wieder Kniebeugen machen?« Allein bei dem Gedanken schrumpfte Loreley, die ohnehin nicht besonders hochgewachsen war, weiter in sich zusammen.

Ihr blasses Gesicht wurde von großen, graublauen Augen und einem hübschen Knospenmund dominiert. Als Tochter eines methodistischen Pastors war sie hier in der Schule das erste Mal gezwungen gewesen, sich körperlich zu betätigen. Sie verabscheute die Turnstunden aus tiefster Seele. Ebenso wie Annie war sie eine Außenseiterin unter den Schülerinnen. Sie war auch die Einzige, mit der Annie ihre Pläne für die Zukunft teilte, weil Loreley verstand, dass manche Ziele es wert waren, die Erwartungen der Gesellschaft zu durchbrechen. Nicht umsonst hatten Loreleys Eltern sie aufs Internat geschickt, um sie aus der Nähe eines gewissen jungen Herrn – gutaussehend, irisch, katholisch – zu entfernen.

»Loreley, du schummelst! Die Knie müssen einen rechten Winkel bilden. Denke immer daran: In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist.«

Mrs. Hodgers übersah nie eine Verfehlung einer ihrer Schülerinnen. Annie hatte Mitleid mit der Freundin, die noch blasser war als sonst und vor Anstrengung schnaufte.

»Gleich hast du es geschafft. Nur noch fünf Stück«, munterte sie die Gequälte aus dem Mundwinkel heraus auf. Sie selbst hatte, gestählt durch die unzähligen Stunden im Sattel, bereits mehr Kniebeugen vollführt als gefordert.

»Wenn alle fertig sind, ist der Walzer an der Reihe«, kommandierte Mrs. Hodgers.

In Loreleys Gesicht ging die Sonne auf, während Annies Miene versteinerte. Wenngleich sie spielend den Rhythmus eines Pferdes übernehmen konnte, gelang ihr dieses Kunststück bei Musik ungefähr nie. Schon formierten sich die Mädchen zu Paaren und Mrs. Hodgers nahm hinter dem Piano Platz. Ihr strenger Blick ließ ihre Schützlinge keine Sekunde los. Wie selbstverständlich fiel Annie aufgrund ihrer Größe der männliche Part zu.

Die Musik setzte ein und Loreley schob und zog die Freundin unter Einsatz ihres Körpers in die richtige Schrittfolge. Annie starrte verbissen auf ihre Füße und versuchte, die Bewegungen im Takt aneinanderzureihen. Rechts – links – rechts. Links – rechts – links. Ein paar Runden schaffte sie diesmal ohne Unglück. Sie blickte triumphierend in Mrs. Hodgers’ Richtung und hoffte, dass diese ihren Fortschritt nicht übersah. In dem Moment verpasste Annie ihren Einsatz, stolperte und trat ihrer Tanzpartnerin gegen das Schienbein. Loreley, die sich weit nach außen lehnte, um Annie herumzuwuchten, versuchte noch einen rettenden Schritt zur Seite, fand aber das Gleichgewicht nicht mehr. Mit Getöse stürzten die beiden zu Boden, Arme und Beine kreuz und quer durcheinander. Die Pianoklänge verstummten mit einem schmerzlichen Missakkord, als Mrs. Hodgers von ihrem Hocker aufsprang.

»Annika Bailey! Wie willst du je deinen Platz in der Gesellschaft einnehmen, wenn du nicht in der Lage bist, einen simplen Walzer zu tanzen, ohne die gesamte Einrichtung zu zerstören?«

Die Mädchen bildeten einen stummen Kreis um die beiden Unglücklichen. Die eine oder andere kicherte hinter vorgehaltener Hand. Am liebsten hätte Annie die Farbe des Holzbodens angenommen und wäre aus den Gedanken aller einfach verschwunden. Weil sie diese Möglichkeit bedauerlicherweise nicht hatte, sprang sie mit knirschenden Zähnen und brennenden Augen auf die Beine, reichte Loreley die Hand und half ihr ebenfalls hoch. Wieder setzte das Piano ein und die anderen Paare begannen der Reihe nach, sich zu drehen; manche warfen den beiden aber immer noch hämische oder mitleidige Blicke zu.

»Tut mir leid.« Annie sah ihre Freundin beschämt an.

Diese lächelte schief und zog Annie in Tanzposition. »Mir tut nur dein künftiger Gatte leid – vorausgesetzt, es ist überhaupt einer so mutig und wirbt um dich.«

»So schnell will ich gar nicht heiraten!«, schoss Annie automatisch zurück.

»Ach ja?« Loreley kannte den wunden Punkt ihrer besten Freundin nur zu gut. »Das heißt, du lebst freiwillig bis dahin unter der Fuchtel deiner Stiefmutter?« Sie zog die Augenbrauen hoch.

Annie knurrte zur Antwort. Auch diese Tanzstunde würde irgendwann vorübergehen. Hoffte sie.

Die Tür zum Saal ging auf und das Dienstmädchen huschte mit gesenktem Kopf und einem Brief in der Hand zum Piano. Fünfzehn Augenpaare folgten jeder ihrer Bewegungen, während sie Mrs. Hodgers etwas ins Ohr flüsterte. Erneut brach die Musik ab und die Lehrerin suchte wieder nach Annie. Diesmal sprach Mitleid aus ihrem Blick. Das war schlimmer. Viel schlimmer.

Annies Herz stolperte. Irgendetwas war mit ihrem Vater! Normalerweise bekam sie nur an ihrem Geburtstag und an Weihnachten Post von zu Hause. War er verletzt? Oder gefallen? Letzte Woche hatte die kleine Susan aus einem Brief erfahren, dass ihr ältester Bruder bei Chattanooga gefallen war. Ihre verzweifelten Schluchzer hatten erst im Morgengrauen aufgehört und keines der Mädchen hatte in dieser Nacht ein Auge zugetan. Davor hatte es Alice getroffen und Elisabeth und Hannah. In den Jahren, die dieser schreckliche Krieg schon andauerte, hatte jedes zweite Mädchen einen Angehörigen an den Süden verloren.

Mit zittrigen Fingern nahm Annie den Brief entgegen, drückte ihn fest an ihre Brust und rannte Richtung Tür. Niemand unternahm einen Versuch, sie zurückzuhalten. Loreley wollte ihr folgen, aber Annie schüttelte den Kopf. Sie musste jetzt allein sein.

Im Flur lehnte sie sich an die kalte Steinmauer und schloss die Augen. Sie zitterte. Tausend Gedanken fielen über sie herein. Nicht Vater! Er war der Einzige, der ihr geblieben war. Ihr einziger Verwandter, ihre Hoffnung, ihre Stütze. Mit ihm wollte sie ihren Traum verwirklichen.

Bebend atmete sie ein und aus. Noch wusste sie nicht, was in dem Brief stand. Noch war das Schlimmste nicht eingetreten. Fast glitt ihr das Blatt aus den Händen, als sie es schließlich auseinanderfaltete. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Ihr Gehirn weigerte sich, die Botschaft zu verarbeiten.

»… kommt Ihre Warensendung an. Bringen Sie sie nach Einbruch der Dämmerung zu unserem Ihnen bekannten Haus. Dort werden wir Sie in Empfang nehmen und …«

Annie schüttelte verwirrt den Kopf. Es dauerte mehrere Atemzüge, bis in ihren Verstand sickerte, dass sie keine Meldung von der Front in Händen hielt, auch wenn das Schreiben einen offiziellen Anschein erweckte. Sie drehte den Umschlag unschlüssig um, aber nirgendwo war ein Absender verzeichnet. Unterschrieben war der Text mit: »Ein Freund«.

Langsam beruhigte sich Annies Pulsschlag. Sie musste sich konzentrieren! Wenn der Brief nicht aus dem Feld kam, wer hatte ihn dann verfasst? Die schnörkelige Handschrift ihrer Stiefmutter hätte sie erkannt, aber dieses Schriftbild wirkte nüchtern, fast wie gedruckt. Auch George stand außer Frage, denn er hatte schon lange aufgehört, Annie zu schreiben. Obwohl er immer nur wenige Zeilen geschickt hatte, die auch noch vor Fehlern wimmelten, vermisste sie diese letzte Verbindung zu ihren Pferden.

Als sich Annies Atmung normalisiert hatte, fokussierte sie sich wieder auf die Buchstaben. Der Brief war an sie gerichtet und unterrichtete sie, dass für sie ein Zug gebucht war, und zwar für den kommenden Sonntag um sechzehn Uhr dreißig ab dem alten Schuppen flussabwärts am Ohio. Der Absender bedankte sich dafür, dass sie bereit war, seine fünf Gepäckstücke mitzunehmen. Vor möglichen Streckenstörungen wurde dringlichst gewarnt.

Das musste ein Scherz sein! Annie hatte keine Reise vor und an der beschriebenen Stelle lagen noch nicht einmal Gleise. Doch wer sollte sich so etwas ausdenken? Loreley traute sie so einen üblen Streich nicht zu. Auch sonst fiel ihr niemand ein, bis sie die letzten Tage Revue passieren ließ. Ihre Gedanken blieben an dem komischen Kauz hängen, dem sie während ihres missglückten Besuchversuchs bei den Truppen über den Weg gelaufen war. Hatte nicht auch er etwas von Schaffnern und Schienennetzen gefaselt? Und von Sklaven, die nach Kanada geschmuggelt wurden?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Der Text war mit einem simplen Code verschlüsselt. Am Sonntag warteten am Ufer des Ohio Rivers fünf entlaufene Sklaven auf sie. Und sie sollte diese unerkannt bis in die Stadt bringen.

Annies erster Impuls war es, den Brief zusammenzuknüllen und zu vergessen. Was bildete sich der Alte ein? Sie konnte das Institut nicht einfach so kurzfristig verlassen! Wurden die Sklaven verfolgt? Sie würde sich in Lebensgefahr begeben oder – schlimmer noch – einen hinreichenden Grund liefern, von der Schule verwiesen zu werden. Ihre Karriere als Pferdezüchterin stand auf dem Spiel!

Andererseits: Was würde passieren, wenn sie nicht auftauchte? Wie lange würden die Flüchtlinge in ihrem Versteck warten, bevor sie sich auf eigene Faust aufmachten? Waren sie mit Lebensmitteln versorgt? Befanden sich Kinder darunter?

Den Sonntagnachmittag hatte Annie meistens zur freien Verfügung. Würde sie konzentriert im Stall lernen können, wenn sie wüsste, dass diese Menschen draußen im Schnee in Gefahr schwebten? Ein weiteres Mal aus dem Institut zu entwischen, wäre ihr jedenfalls möglich.

Frustriert ließ Annie ihren Hinterkopf gegen die Wand in ihrem Rücken fallen. Sie hasste es, ungefragt in Situationen hineingezogen zu werden, die sie nichts angingen. Schließlich stieß sie sich ab und zischte durch zusammengebissene Zähne wenig ladylike einen Fluch in den leeren Flur hinaus.

Die Brücken zur Freiheit - 1864

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