Читать книгу Die Brücken zur Freiheit - 1864 - Christine M. Brella - Страница 15

13 Annie – 21. Dezember 1863

Оглавление

N ach Hau-se. Nach Hau-se. Nach Hau-se. Die Dampflok hatte Annies Gedanken aufgenommen und zischte und stampfte die Melodie seit einer Stunde in einem endlosen Refrain. In unfassbarer Geschwindigkeit wechselten sich vor dem Fenster lichte Laubwälder, verschneite Wiesen und Farmhäuser ab. Jede Minute brachte sie der Heimat näher. Obwohl Annie noch nie so müde gewesen war, fand sie keine Ruhe.

Gestern Nacht kam ihr immer noch vor wie die Spukgeschichte aus einem Buch. Nach dem Tod der jungen Frau waren die flüchtigen Sklaven sehr still gewesen. Trotz der Gefahr, vom Heimatschutz entdeckt zu werden, hatte Annie darauf verzichtet, sie auf der Ladefläche der Kutsche mit den Zweigen zu bedecken. Sie waren so knapp mit dem Leben davongekommen! Es erschien ihr falsch, diese Menschen weiter zu quälen. Außerdem war es nach Mitternacht. Bei dieser frostigen Dunkelheit würde niemand seinen Fuß vor die Tür setzen.

Unter anderen Umständen hätte sie sich vor dem jungen Mann geängstigt, der sich in ihrer Obhut befand. Er war riesig, und sein dunkler, unergründlicher Blick durchbohrte sie, wenn er dachte, dass sie nicht hinsah. Nach ihrer gemeinsamen Rettungsaktion und als sie gesehen hatte, wie liebevoll er mit dem Baby umging, hatte Annie jedoch alle Scheu verloren. Im Gegenteil: Sie hatte Respekt vor dem Mut, den er bewiesen hatte. Hätte sie selbst die lange und gefährliche Flucht gewagt? Trotz der Kälte hatte sie ihn regelrecht zwingen müssen, seine nasse Kleidung gegen eine Decke zu tauschen. Aber Annie war hart geblieben. Um keinen Preis wollte sie einen weiteren Verlust hinnehmen!

Die Fahrt in die Stadt legten sie in betäubtem Schweigen zurück. Selbst das Baby spürte die Anspannung und gab keinen Ton von sich. Am Stadtrand drückten sich die Passagiere flach auf die Pritsche, sodass sie von einem Passanten im Dunkel der Nacht übersehen werden mussten. Das Rumpeln der Kutschenräder und das gleichmäßige Klappern der Pferdehufe hallten in den leeren Straßen wider. Der Menschenschmuggel war viel zu offensichtlich! Gleich würde hinter der nächsten Ecke ein Trupp des Heimatschutzes hervortreten und sie entlarven! Was dann geschehen würde, wagte Annie sich nicht auszumalen.

Endlich erreichten sie die Gasse, in der sie den Jungen gerettet hatte. Die Fassaden sahen alle gleich aus. Warum hatte sie sich das Haus nicht eingeprägt? Nach einigem Zögern entschied sie sich für das Portal mit dem ringförmigen Messingklopfer. Die windschiefen Fensterläden kamen ihr entfernt bekannt vor.

Der Klopfer ließ ein dumpfes Dröhnen ertönen und Annie hielt die Luft an. Je länger sie wartete, desto unruhiger wurde sie. Endlich näherten sich schlurfende Schritte und die Tür wurde einen Spalt geöffnet. Annie blinzelte in den flackernden Kerzenschein, der durch den Schlitz fiel. War es zu spät, die Flucht zu ergreifen? Aber was sollte sie dann mit ihren Schützlingen anfangen?

»Bist du das, Mädchen?«

Annie erkannte die krächzende Stimme des Alten sofort. Sie nickte. Nichts geschah. Also setzte sie hinzu: »So ist es. Ich habe die Fracht dabei.«

»Wie lautet die Losung?«

Annie schwieg verblüfft. Losung? Sie wusste von keiner Losung. Ratlos sah sie sich nach der Kutsche um. Je länger sie hier auf der offenen Straße hielten, desto mehr Aufmerksamkeit zogen sie auf sich.

»Hören Sie, Mister, Sie kennen mich. Lassen Sie uns rein, bevor …«

Sein heiseres Lachen ließ sie zusammenzucken.

»Ich nehm dich nur auf den Arm, Kindchen. Steh doch nicht einfach so rum, sondern hilf meinen Gästen von der Kutsche. Hab mir schon gedacht, dass du Mumm in den Knochen hast.« Er kicherte in sich hinein und stieß die Tür mit seinem Stock ein Stück weiter auf.

Annie zögerte. Schließlich sammelte sie allen Mut. »Könnte ich eventuell die Nacht über ebenfalls hierbleiben? Ich weiß nicht, wohin ich mich sonst wenden kann …«

Der Alte musterte sie von unten herauf und begann, zustimmend mit dem Oberkörper zu wippen. »Auf einen mehr oder weniger kommt es nicht an. Wo soll Jake die Kutsche parken? Hier ist kein Platz dafür!«

Hinter dem Alten tauchte ein Junge auf, der seinen Blick zwischen ihnen hin und her springen ließ.

»Wäre es zu viel verlangt, wenn er sie beim Schmied am Marktplatz abliefert?«, bat Annie.

Wieder nickte der Mann. Während Jake losspurtete, trat Annie, gefolgt von den ehemaligen Sklaven, in das Häuschen und die Tür fiel ins Schloss.

Die Frau des Alten, eine gutmütige Grauhaarige mit roten Apfelbäckchen und Lachfalten, stellte Brot und Butter vor sie auf den Küchentisch. Nichts hatte Annie je so gut geschmeckt. Schüchtern fragte sie die Hausherrin, wo sie die restliche Nacht verbringen solle.

»Du kannst im Zimmer meiner Söhne schlafen.« Die Frau bemerkte wohl Annies verstörte Miene, denn sie fügte traurig hinzu: »Sie sind beide im Krieg geblieben, also keine Sorge. Du hast die Kammer für dich.«

In dieser Nacht schloss Annie kein Auge. Immer und immer wieder wiederholten sich in ihrem Kopf die Bilder vom Fluss. Ihre Begleiter bekam sie bei Tagesanbruch nicht mehr zu Gesicht und fragte auch nicht nach deren Verbleib. Je weniger sie wusste, desto besser.

Nach einem Frühstück in verlegenem Schweigen rief ihr der Alte eine Droschke, die sie zur Fähre fuhr. Am Kai fror sie in der kühlen Morgenluft, bis sie zum Bahnhof am anderen Ufer übersetzen konnte. Die Fahrt war ruppiger als in ihrer Erinnerung, was wohl daran lag, dass immer wieder Eisschollen gegen den Rumpf krachten. Zusätzlich kam Wind auf, der die Fahrgäste erbarmungslos durchschüttelte. Gut, dass sie einen stabilen Magen besaß! Andere waren nicht so gesegnet. Zum Glück erreichten sie die gegenüberliegende Flussseite ohne Zwischenfälle. In der zugigen Bahnhofshalle musste Annie lange warten. Um sich zu beschäftigen und um warm zu bleiben, lief sie am Bahnsteig auf und ab, ohne sich jedoch allzu weit von ihrem Gepäck zu entfernen. Sie überlegte, wie sie ihren Vater dazu bringen konnte, sie stärker in die Zucht einzubinden, aber ihre Gedanken trieben haltlos kreuz und quer.

Auch nach vier Stunden Bahnfahrt, ein paar Meilen südwärts des Städtchens Cynthiana, war sie noch nicht einen Schritt weiter. Keine zehn Meilen mehr bis zum Zielbahnhof! Vielleicht sollte sie Midnight Maiden die langsame Passage beibringen und dafür sorgen, dass ihr Vater Zeuge der Trainingsstunden wurde? Dann erkannte er bestimmt ihr Talent mit Pferden und würde einsehen, dass er einfach nicht auf ihre Fachkenntnis verzichten konnte!

Theresa musste an Einfluss gewonnen haben in den Jahren, in denen ihr Mann und die Stieftochter nicht dagewesen waren. Ob sie immer noch jeden Tag Stunden auf ihr Aussehen verwendete, obwohl während des Krieges kaum noch gesellschaftliche Ereignisse stattfanden? Annie konnte sich Theresa mit ihren blonden Korkenzieherlocken nicht anders vorstellen als im weitausgestellten Ballkleid mit Rüschen und Bändern. Bestimmt wirkte sie mit ihrem zarten Teint und der zierlichen Figur immer noch wie aus einem Modemagazin gehüpft. Kein Wunder, dass man Theresa auf der Ranch selten außerhalb des Hauses antraf. Pferdemist am Stiefelchen hätte den perfekten Gesamteindruck ruiniert.

Wenn Annie nach ihrem Abschluss ihr Zuhause nicht verlassen wollte, dann blieb ihr nichts anderes übrig, als sich mit ihrer affektierten Stiefmutter zu arrangieren. Etwas, an das sie vor ihrem Aufenthalt im Internat nicht im Traum gedacht hätte. Sollte sie Theresa ohne Widerstand auf Abendeinladungen folgen? Oder sich mit ihr an einem vierhändigen Pianostück versuchen? Theresa hatte sich das früher oft von Annie gewünscht, jeder Anlauf war jedoch in lautstarkem Drama gemündet. Doch außergewöhnliche Situationen erforderten außergewöhnliche Maßnahmen. Und wie schwer konnte ein bisschen Diplomatie schon sein?

Gerade, als Annie sich zurechtlegen wollte, wie genau sie auch Theresa von ihren Plänen überzeugen könnte, ertönte die Zugpfeife. Einerlei. Wenn der Zeitpunkt eintrat, würden ihr schon die richtigen Argumente einfallen.

Der Bahnsteig in Paris, Kentucky, und die Häuser dahinter wirkten kleiner als in ihrer Erinnerung. Kein Wunder! Die Stadt hatte kaum mehr als tausend Einwohner. Damit war Paris zwar größer als Millersburg, die nächstgelegene Ortschaft von Annies Zuhause, aber im Vergleich zu Cincinnati doch ein klägliches Nest! Es befanden sich kaum Menschen auf der Straße. Nachdem die Eisenbahnwaggons ratternd hinter dem nächsten Hügel verschwunden waren, legte sich Stille über den Ort und über das Mädchen, das mit ihrer Tasche zu Füßen um sich blickte. Der Zug hatte Paris pünktlich erreicht. Theresa würde doch jemanden schicken, der sie hier abholte?

Nach der schwülen Wärme im Zug brannte die winterliche Kälte in ihrer Lunge. Zur Not konnte Annie die letzten zehn Meilen zu Fuß zurücklegen, wenn sie ihr Gepäck bei der Poststation deponierte. Aber sie würde erst nach Einbruch der Dunkelheit ankommen und sich bis dahin einige Blasen und Frostbeulen einhandeln. Annie schluckte hart. So hatte sie sich ihre Heimkehr nicht vorgestellt.

»Hallo, Annika.«

Das Mädchen wirbelte auf dem Absatz herum. Sie kannte die tiefe Stimme nicht, die sich anmaßte, sie mit einer solch vertrauten Anrede zu begrüßen.

Wenige Schritte entfernt lehnte ein schlaksiger Kerl an einer Hauswand und grinste sie zaghaft an. Misstrauisch musterte sie seine staubigen Arbeiterhosen und die braunen etwas zu langen Strubbelhaare. Seine römische Nase stand schief im kantigen Gesicht. War das die Folge einer Schlägerei?

Annie stutzte in ihrer Betrachtung. Diese funkelnden Moorseeaugen kannte sie.

»George?«, fragte sie vorsichtig und trat einen Schritt auf ihn zu.

War das wirklich der Sohn der Haushälterin, der ihr früher Kröten ins Bett gelegt hatte? Bei jeder Gelegenheit hatte er sich vor Annies Unterricht gedrückt und sie mit seiner abenteuerlichen Rechtschreibung in die Verzweiflung getrieben. Offensichtlich war der stille Vierzehnjährige in den letzten drei Jahren zu einem breitschultrigen Rancharbeiter mit Dreitagebart mutiert. Ihr blieben nur Sekunden, die Veränderungen zu verdauen, da stieß sich George von der Wand ab und kam ihr entgegen. Lachend breitete er die Arme aus und Annie warf sich ohne Zögern hinein. Es war überwältigend, jemanden zu treffen, der Zuhause bedeutete. Annie fühlte sich geborgen in Georges Umarmung, gleichzeitig aber auch fremd. Verlegen löste sie sich von ihm. Hoffentlich hatte keiner ihren unschicklichen Ausrutscher beobachtet!

George war der Augenblick offenbar ebenfalls peinlich, denn er stolperte ein paar Schritte rückwärts. Wieder flackerte sein schiefes Grinsen auf.

»Hast dich kein bisschen verändert«, brummte er.

Das gab Annie einen gewaltigen Stich. Sie wusste ja, dass ihre fraulichen Rundungen noch nicht besonders ausgeprägt waren. Trotzdem war sie kein Kind mehr und wollte auch nicht als solches wahrgenommen werden.

»Ich bin gewachsen!«

»Hör lieber wieder auf damit. Bevor du als Mammutbaum durchgehst.« Seine ungewohnte Bassstimme vibrierte in Annies Magen. Die neue Tonlage in Kombination mit den vertrauten Moorseeaugen verwirrte sie vollständig.

»Lass du dir erst mal die Haare schneiden und nimm ein Bad – dann können wir uns über Aussehen unterhalten!«

Eins war jedenfalls gleichgeblieben: Wie früher schaffte er es spielend, sie zu reizen.

»Sagt das Mädchen, das Augenringe wie Kutschräder hat. Lassen sie euch in dieser Schule nicht schlafen?«

Annie funkelte seinen Hinterkopf an, während sie ihm zur Kutsche folgte. »Das nennt man arbeiten! Ich weiß, dass du im Gegensatz zu mir in deinem Leben immer davor weggelaufen bist.«

Annie musste dringend das Thema wechseln, bevor sie mit Zähnen und Klauen auf ihn losging – es wäre nicht das erste Mal! Als der Schuft sich umdrehte, lächelte er immer noch unbeeindruckt zu ihr herunter; er reichte ihr die Hand und half ihr auf den Kutschbock. Als George endlich den Wagen umrundet hatte, neben ihr saß und die Pferde antraben ließ, schaffte Annie es nicht mehr, ihren Durst nach Neuigkeiten von der Zucht im Zaum zu halten.

»Wie ist es euch seit Kriegsbeginn ergangen? Da du aufgehört hast, mir zu schreiben, kenne ich nur die Sichtweise meiner Stiefmutter …« Und deren Briefe enthielten statt Berichten zu den tatsächlichen Problemen auf der Ranch nur gestelzte Floskeln. Aber das würde sie ihm nicht auf die Nase binden.

Für einen Moment schwieg George, dann ließ er sich, deutlich ernster geworden, auf ihre Frage ein: »Wir hatten Glück. Die Ranch liegt abgeschieden. Bei uns sind in all den Jahren keine Soldaten aufgetaucht. Am Anfang sind von unseren Arbeitern nicht so viele zur Armee gelaufen wie von den Nachbarn. Die Männer haben gern für deinen Vater gearbeitet und haben meinem Pa als Vorarbeiter vertraut. Jetzt sind nur noch ich und Pa übrig.«

»Wie geht es deiner Mutter und Maggie?«

»Ma erholt sich von einer Erkältung. Aber kennst sie ja – schwingt im Haus das Zepter als wär’ nichts.« George zog einen Mundwinkel nach oben. »Tja, und meine kleine Schwester entwickelt sich zur Nervensäge – sie versucht, so zu werden wie du.« Lachend hob er den Arm und wehrte Annies Schlag ab.

»Du bist und bleibst ein Schuft, George.« Aber sie musste gegen ihren Willen grinsen. Es war schön, heimzukommen.

Die restliche Fahrt verlief in freundschaftlichem Schweigen. Augenscheinlich hatte sich in der Gegend recht wenig verändert. Dicker Schnee lag auf den Feldern. Ob sie wohl noch bestellt wurden, jetzt da sich die meisten Männer als Soldaten verpflichtet hatten? Weiß glitzerten auch die Bäume am Straßenrand und im Wald. Genauso hatte Annie sich Weihnachten zu Hause vorgestellt, wenn sie zur Weihnachtszeit aus den Fenstern der Schule auf die grauen Gassen der Stadt gestarrt hatte, voller Sehnsucht und dem schmerzenden Gefühl, nicht vermisst zu werden.

Ihr Blick blieb an der Ruine eines Farmhauses unweit des Weges haften. Das Dach war eingesunken und auch jetzt noch hing der Geruch nach verbranntem Holz in der Luft. Hatte dort nicht die Witwe Jordan gewohnt, die am Farmersmarkt in Millersburg Ziegenmilch und Ziegenkäse verkaufte?

George erriet, wohin ihre Gedanken gewandert waren. »Ein paar Rebellen haben sich hier letztes Jahr auf der Flucht vor unseren Leuten verschanzt. Zäh waren sie. Muss man ihnen lassen. Hat ihnen aber nichts genutzt.«

Plötzlich baute sich der Krieg wie eine drohende Wand vor ihr auf. Natürlich tuschelten auch die Städter in Cincinnati über die Gefechte und Gräueltaten, doch sie taten es mit einem fast genussvollen Schauer. Nie war der Feind der Stadt wirklich gefährlich geworden. Hier in Kentucky war die Bedrohung real.

Die Straße folgte einem zugefrorenen Bachlauf. Gespannt spähte Annie nach vorne. Tatsächlich tauchte hinter der Biegung eine Ansammlung Häuser auf. Millersburg. Jetzt war es nicht mehr weit nach Hause. Aus der Schmiede tönten Hammerschläge und Annie schluckte erleichtert. Das Herz des Ortes schlug noch.

Zusammen mit ihrem Vater hatte sie manchmal dem Schmied zugesehen, wie er Midnight Maiden beschlagen hatte. Eingekauft hatten sie im Dorf nur, was kurzfristig ausging. Für größere Besorgungen und auch für Stoff für Kleidung bevorzugte Mrs. Foster die Läden in Cynthiana oder Mount Sterling, da die Auswahl dort bedeutend vielfältiger war. Ob sich das während des Kriegs geändert hatte?

Eine zierliche junge Frau in Annies Alter erschien im Stalltor. Als sie George erkannte, fing sie an zu strahlen und winkte zu ihnen herüber. George wurde auf der Stelle rot, hob die Hand scheu zum Gruß und starrte dann angestrengt auf seine Finger, die die Zügel hielten.

Interessiert warf Annie einen zweiten Blick auf das Mädchen, bevor dieses wieder im Tor verschwand.

»Wer war das?«

»Die Tochter vom Schmied«, antworte er kurz angebunden.

Annie zog überrascht die Augenbrauen hoch. Vage erinnerte sie sich an ein mageres Kind, das den Rockzipfel seiner Mutter kaum je verließ. Andererseits war sie selbst damals nicht weniger klein und mager gewesen.

Gespannt hielt Annie nach dem Hofverkauf von Mr. und Mrs. Jakes Ausschau. Dorthin hatte ihr Vater sie jedes Mal zum Essen ausgeführt, wenn die Besorgungen erledigt waren. Noch immer konnte sie den köstlichen Duft von frisch gebackenen Waffeln riechen. Sie schmeckte wieder die Sahne, die Mrs. Jakes mit Pfirsichstücken versüßt hatte. Annies Magen knurrte zur Antwort. Wenn das kleine Restaurant geöffnet hatte, würde sie George bitten, kurz anzuhalten.

Schon kamen die Gebäude in Sicht. Türe und Fenster waren mit Brettern vernagelt und auch der kleine Hof dahinter lag verlassen. Annies Mundwinkel zogen sich nach unten. Welches Schicksal die Familie wohl ereilt hatte? Annie schluckte ihre Enttäuschung hinunter. Dann musste sie eben auf das Abendessen zu Hause warten.

Auch viele andere Häuser schienen verlassen oder zeigten Zeichen von Vernachlässigung, und Annie war erleichtert, als sie den Ort hinter sich ließen. Die Landschaft wurde wieder von monotonem Weiß dominiert. Kein Laut erklang außer dem Knirschen der Räder im Schnee.

Nach Millersburg passierten sie die Ranch der Lennisters. Das offene Land war so hügelig, dass die Gebäude von der Straße aus nicht zu sehen waren. Dann erreichten sie den kleinen Wald, der die Grenze ihres eigenen Grundstücks markierte. Ab hier kannte Annie jeden Stein und jeden Baum von ihren Streifzügen. Dort hinten lag noch immer der umgestürzte Ahorn. Unbewusst strich sie über ihren lang verheilten Ellbogen. Der Unfall damals hätte böse enden können. Nicht nur für sie selbst, sondern auch für Midnight Maiden. Noch heute schämte sie sich so für ihren Übermut, dass sie nie jemandem davon erzählt hatte. Sie hätte wissen müssen, dass der Abstand für die Stute zu weit war!

Der Wald lichtete sich und links erschien die Herbstkoppel, rechts schlängelte sich ein Bach entlang der Straße. Jenseits des Bachlaufs war die Wiese zu feucht für eine landwirtschaftliche Nutzung. Dafür lebte hier allerhand anderes nützliches Getier. Verstohlen sah Annie zu George und stellte fest, dass er sie schuldbewusst angriente. Sie konnte nicht verhindern, dass sie undamenhaft zurückgrinste. Von hier stammten die Kröten, die er ihr früher zwischen die Decken gesteckt hatte. Nach Theresas Ankunft hatte Annie ihn überredet, sie mit auf die Jagd zu nehmen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich selbst mit hochgeschlagenen Röcken, die Stiefel auf der Straße abgestellt, an Georges Seite durch den Sumpf waten. Feuchter Geruch, glitschige Würmer, vergnügtes Quietschen – wundervolle Erinnerungen. Gekrönt von der süßen Genugtuung, wenn ihre Stiefmutter die Beute entdeckte. Zum Beispiel eine Handvoll Regenwürmer in ihrer Schmuckschatulle.

»Wir haben es ihr nicht leicht gemacht«, stellte Annie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fest.

George musste nicht fragen, von wem sie sprach. »Wir waren Kinder.« Schwang da eine Mahnung in seiner Stimme mit?

Wieder verschluckten Bäume die Kutsche. Jetzt war es nicht mehr weit.

»Hat sie sich verändert in den letzten Jahren?«, fragte Annie beklommen.

»Ich halt mich da besser raus.«

»Jetzt sag schon!« Frustriert gab sie ihm einen kleinen Stoß in die Rippen.

Schützend hielt er den Arm vor sich. »Musst du selbst herausfinden.«

»George!«

Das verwünschte schiefe Grinsen hatte sich auf seinem Gesicht wohnlich eingerichtet. »Wir sind da, Prinzessin.«

Überrascht sah Annie auf und vergaß, George wegen des albernen Spitznamens zu rügen, den er ihr nach ihrem Erlebnis mit den Kröten in ihrem Bett verpasst hatte. Sie hatte den Wald verlassen und das heimatliche Anwesen lag vor ihnen. Der freie Platz ging hinter dem Haus in offene Weiden über, auf denen grazile Rappen grasten. Sie war daheim!

George zügelte die Pferde vor der Säulenveranda des weißgetünchten Herrenhauses. Behände sprang er ab und half Annie mit den Stufen. Zumindest mit der obersten, dann verlor er die Geduld, packte sie um die Hüfte und schwang sie zu sich hinunter. Als ob sie nicht mehr wiegen würde als ein Koffer voller Bücher. Bevor sie protestieren konnte, saß er schon wieder auf dem Kutschbock.

»Geh ruhig schon mal rein, Prinzessin. Ich kümmere mich um dein Gepäck.«

Mit einem Mal unsicher, erklomm Annie die Stufen zur Eingangstür und schob sie auf. Die Empfangshalle war bis auf den Kronleuchter leer. Unentschlossen schlich sie in Richtung Treppe und blickte sich noch einmal suchend um. Enttäuschung wallte in ihr auf. Ihre Heimkehr hatte sie sich irgendwie – lebhafter vorgestellt. Nach einigen Minuten des Wartens kam sie sich fehl am Platz vor und entschied, zu ihren Räumlichkeiten hinaufzusteigen.

Bedrückt schob sie die schwere Mahagonitür auf. In der Mitte des Zimmers drehte sie sich einmal im Kreis und ließ sich schließlich auf die Matratze plumpsen. Der Raum wirkte seltsam seelenlos. Bis auf das Bett, den Schrank und den kleinen Frisiertisch, den sie früher eher als Schreibtisch verwendet hatte, waren die Wände kahl.

Offensichtlich hatte Theresa nicht gezögert und alle Kleinigkeiten entfernt, die von den zwölf Jahren ihrer Kindheit zeugten. Keine Bücher standen mehr im Regal. Die zum Kerzenständer umfunktionierte Wurzel war verschwunden. Von ihren Kinderzeichnungen waren nur blasse Stellen an der Wand geblieben. Einzig die sonnig-gelben Vorhänge, auf denen rote Mohnblumen und weiße Gänseblümchen tanzten, bildeten tröstliche Farbtupfer.

Es gab nichts, was sie hier tun konnte. Gerade hatte Annie sich entschieden, dem Stall einen Besuch abzustatten, als jemand anklopfte. George trat ein, stellte ihre Tasche in der Mitte ab und drehte sich schon wieder zum Gehen.

»Falls du mich brauchst – ich bin Mistschaufeln.«

»Warte!«, rief ihm Annie hinterher.

Doch schon fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Warum fühlte sie sich plötzlich wie ein ausgesetztes Kätzchen? Besser, sie lenkte sich ab und packte ihre Habseligkeiten aus. Mit Sorgfalt ordnete Annie ihre Bücher auf dem Regal an und, da der Platz nicht ausreichte, den Rest am Tischchen daneben. Die Kleider, die sie in ihrem Kindheitszimmer zurückgelassen hatte, waren aus dem Schrank verschwunden. Obwohl sie aus den Sachen längst herausgewachsen war, stimmte sie diese Tatsache traurig. Unschlüssig setzte sich Annie wieder auf die Bettkante. Was jetzt?

Da horchte sie auf. Forsche Schritte erklangen vom Gang, dann klopfte es wieder.

»Herein?« Annies Herz pochte unruhig.

Die Tür flog auf und Theresa persönlich stand im Raum. Sie war immer noch so blond und schön und streng wie Annie sie in Erinnerung hatte. Nur wirkte sie jetzt kleiner.

»Wie reizend, dass du schon da bist, Kindchen!«

Annie zog die Augenbrauen zusammen über diese Anrede. Ihre Stiefmutter war selbst erst fünfundzwanzig. Warum benahm sie sich immer wie eine überspannte Matrone?

»Heute Abend kommen General Hobson und General Burbridge, der Befehlshaber deines Vaters, mitsamt ihren Ehefrauen zu Besuch. Wir müssen dir etwas Süßes zum Anziehen heraussuchen. Hast du ein nettes Häubchen dabei?« Während sie vor sich hin zwitscherte, fing sie an, Annies Reisetasche zu durchforsten. Die Sorgenfalten auf ihrem sonst so makellosen Gesicht wurden immer tiefer, bis sie endlich verwirrt die Hände in den Schoß legte. »Wo hast du denn deine Kleider für gesellschaftliche Anlässe?«

Annie zuckte ratlos mit den Schultern. In der Schule hatte es solche Anlässe nicht gegeben.

»Meine Abendroben dürften dir alle ein gutes Stückchen zu kurz sein«, dachte Theresa laut nach. »Und meine Schneiderin ist zwar flink, aber sie kann nicht zaubern.«

Ein unangenehmes Schweigen breitete sich im Raum aus.

»Kann ich nicht meine Schuluniform anbehalten?«, fragte Annie schließlich erschöpft. Über Kleider zu diskutieren, war gerade das Letzte, nach dem ihr der Sinn stand. Die Reise war anstrengend gewesen. Sie wollte eigentlich nur mit ihrem Vater dinieren, ein Bad nehmen und endlich in ihre Kissen fallen.

Theresa zog ihre feinen Augenbrauen hoch. »Wir sagen einfach, du kämst erst morgen zurück, Liebes. Das wird wahrscheinlich das Beste sein. Du bist so oder so bestimmt schrecklich müde. Ich lasse dir dein Abendbrot aufs Zimmer bringen. Bitte entschuldige mich. Ich sollte Mrs. Foster wirklich noch Instruktionen für das Dinner geben.«

Sprachlos starrte Annie auf die Tür, die hinter ihrer Stiefmutter ins Schloss fiel. Mit Tränen in den Augen sprang sie vom Bett. Sie musste jetzt einfach einer treuen Seele nahe sein.

Midnight Maiden schnaubte sanft, als Annie die Stirn gegen ihren Hals schmiegte. Die nachtschwarze Stute hüllte sie mit ihrer freundlichen Ruhe und ihrem warmen Duft ein.

»Hier steckt mein kleines Mädchen!«

Annie drehte sich langsam zu dem einzigen Menschen auf der Welt um, der sie klein nennen durfte.

»Vater!« Ein Strahlen erhellte ihre Miene.

Das Lächeln im grauen, faltigen Gesicht ihres Vaters war müde. Wann war sein Haar vollständig weiß geworden? Colonel Bailey war immer eine breitschultrige Gestalt gewesen. Jetzt schlackerte die Galauniform um seinen Körper.

»Ich hätte mir denken können, dass ihr beide euch treu bleibt.« Er trat einen Schritt nach vorne und kraulte seine Stute zärtlich zwischen den Ohren. »Wenn Gott will, bekommt unsere Alte hier im Juni wieder ein Fohlen.« Bevor Annie reagieren konnte, fuhr er fort: »Theresa hat mir gerade erst verraten, dass sie dich ebenfalls über die Feiertage hat kommen lassen. Es ist das erste Mal seit 1860, dass die ganze Familie an Weihnachten am selben Tisch sitzt. Ist das zu glauben?«

Auf den Rest der Familie hätte Annie auch dieses Jahr gut und gerne verzichten können. Doch sie beschloss, die kostbare Zeit mit ihrem Vater zu genießen.

»Hast du Christopher schon getroffen?«, fragte er.

Annie schüttelte den Kopf. Wenn möglich, verdrängte sie die Existenz ihres fünfjährigen Halbbruders.

»Stell dir vor – er kann immer noch nicht reiten! In seinem Alter warst du kaum von Midnight Maidens Rücken zu bekommen. Vielleicht könntest du es ihm ja beibringen, solange du hier bist?«

»Könnte ich vielleicht.«

Eigentlich war Annie froh darüber, ihren Bruder wenigstens in dieser Disziplin zu schlagen. Als niedliches Baby, männlicher Erbe der Zucht und Sohn der aktuellen Mrs. Bailey hatte er sie direkt bei seiner Geburt auf Rang zwei verwiesen. Warum war sie selbst nicht als Mann geboren? Dann wäre sie der Erbe, und sie würde ihre Sache gut machen. Das Leben war ungerecht!

»Kommst du wieder mit ins Haus?«

»Ich bleibe noch ein bisschen, wenn du erlaubst.«

Ein stolzes Lächeln erhellte das Gesicht ihres Vaters. Er verstand sie. Bestimmt würde er sich freuen, wenn sie ihm anvertraute, dass sie ihr Zuhause nie verlassen würde und stattdessen mit ihm Pferde züchten wollte.

Später am Abend lag Annie hellwach im Bett. Ernste Männerstimmen drangen zusammen mit einem würzigen Rauchgeruch durch den Kamin zu ihr herauf. Das Abendessen hatte sie ganz allein eingenommen, während die Gäste unten bewirtet wurden. Danach hatte sich ihr Vater mit General Burbridge und General Hobson zum Rauchen zurückgezogen, um über Politik zu diskutieren. Wie schon früher verstand Annie jedes Wort, das im Zimmer unter ihr gesprochen wurde, selbst als sie sich ihr Kissen aufs Ohr drückte. Sie wollte endlich einfach nur schlafen.

»Haben Sie schon gehört? Er ist wieder auf freiem Fuß!«

»Seit wann?«

»Bereits seit dem 26. November. Bis jetzt bestand noch die Hoffnung, ihn wieder einzufangen.«

»Aus dem Ohio-Staatsgefängnis? Wie hat er das angestellt, der Teufelskerl?«

Von wem war die Rede? Annie legte das Kissen doch lieber zur Seite.

»Zusammen mit sechs seiner Offiziere hat er einen Tunnel von seiner Zelle in den Gefängnishof gegraben. Von dort sind sie mit zusammengeknoteten Bettlaken über die Mauer. Wie man jetzt erfahren hat, sind sie dann einfach dreist in den Personenzug nach Cincinnati gestiegen. Danach verliert sich jede Spur.«

Ausgerechnet in Cincinnati! War Annie dem Verbrecher auf der Straße begegnet?

»Was denken Sie, was er jetzt plant?«

»Er wird im Süden eine neue Rebellen-Division aufstellen. Das ist so sicher wie der Schnee im Winter. Dann wird er sich wieder nach Kentucky schleichen und morden, Pferde stehlen und brandschatzen!«

»Schütze uns Gott vor diesem Donnerkeil!«

Annie bekam eine Gänsehaut. Es war General Morgan, der wieder frei war! Solange er existierte, bedrohte er ihre Pläne für die Zukunft! Würde er einen Angriff auf Kentucky wagen? Er stammte aus diesem Staat und würde nie akzeptieren, dass sich seine Heimat der Union des Nordens angeschlossen hatte. An Einschlafen war so schnell nicht mehr zu denken.

Die Brücken zur Freiheit - 1864

Подняться наверх