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15 Annie – 25. Dezember 1863

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W eihnachten, war Annies erster Gedanke nach dem Aufwachen. Sie weigerte sich, die Augen zu öffnen. Stattdessen lauschte sie in die Stille des Hauses. Von draußen vernahm sie leises Wiehern. Früher hätte sie das Pferd am Klang erkannt, doch sie war zu lange weg gewesen.

Ob es schneite? Annie freute sich auf einen gemütlichen Tag, angefüllt mit Lesen, leckerem Essen und später einem einsamen Ausritt mit Midnight Maiden. Gut gelaunt schlug sie die Decke zurück und tapste barfuß über den abgelaufenen Teppich zum Schrank. Kurz zögerte sie, dann griff sie mit einem Grinsen nach ihrem Lieblingskleid. Das blaugrüne Karomuster war ausgewaschen und der Rock so weit, dass er sie in ihren Bewegungen nicht einschränkte. Sollte sich Theresa ruhig über ihre unangemessene Kleidung mokieren! Annie konnte ihr so oder so nichts recht machen.

Das Esszimmer war festlich hergerichtet. Wie Theresa es eingeführt hatte, stand eine kleine Tanne auf einem Beistelltisch, geschmückt mit echten Wachskerzen und Zuckerstangen.

»So kenne ich mein Mädchen. Kommt vor allen anderen zum Frühstück.«

Annie drehte sich zu der gutmütigen Stimme um und strahlte die Haushälterin an. Mrs. Foster hatte sie im Grunde als eigenes Kind angenommen, nachdem Annies Mutter gestorben und ihr Vater daraufhin in monatelange Trauer versunken war, bis er schließlich ganz verschwand – mit dem Vorwand Zuchtstuten zu kaufen. Von dieser Reise hatte er Theresa mitgebracht. Gerade daran wollte Annie heute aber nicht denken.

»Setz dich schon mal hin, Mädchen, ich hab gleich alles fertig!«, lächelte Mrs. Foster.

Kurze Zeit später türmten sich vor Annie knuspriger Speck, Rührei, gebratene Würstchen, Bohnen, Plumpudding, frisch gebackenes Weißbrot, das noch warm war und einen verlockenden Duft verströmte, Butter, Blaubeermarmelade und Biskuits. Genüsslich nahm das Mädchen einen Schluck von ihrem schwarzen Tee mit einem guten Schuss Milch.

»Bist du eine aufsässige Göre?«

Annie verschluckte sich und musste husten. Ihr Halbbruder hatte seine pummeligen Arme in seine Seiten gestemmt und musterte sie interessiert.

»Wer behauptet denn so was?«

Scheibenhonig. Seit ihrer Ankunft hatte sie vermieden, allein mit dem Kleinen zu sein.

»Mutter hat das gestern zu Vater gesagt. – Bist du es?«

Annie tat so, als würde sie ernsthaft über seine Frage nachdenken. »Ich schätze schon.«

Sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Der Fünfjährige schwieg beeindruckt.

»Und bist du auch ein aufsässiges Gör?«, fragte sie zurück.

Christopher zuckte mit den Schultern. »Ich schätze schon.« Schnell versteckte er sein Kichern hinter einer Hand, kam dann aber zutraulich näher. »Bist du meine Schwester?«

Der hoffnungsvolle Ton seiner Stimme rührte sie.

»Das bin ich.«

»Ist mein Papa auch dein Papa?«

»Genau.«

»Ist meine Mutter auch deine Mutter?«

»Nein, das ist sie nicht!«

»Wo ist deine Mommy?«

Wie sollte sie dem Knirps das beibringen?

»Meine Mommy ist hinauf zu den Sternen geflogen. Von dort schaut sie mir hier unten zu. Ab und zu blinzelt sie mir zu, wenn ich in der Nacht lang genug hochgucke.«

»Aber warum ist sie da hochgeflogen?«

Annie musste schlucken. »Ich weiß es nicht«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. »Jetzt setz dich hin, bevor das Essen kalt wird.«

Einträchtig saßen die beiden nebeneinander am Tisch. Annie schnitt gerade das Brot für ihren Bruder in Würfelchen, als ihr Vater mit einem ungewohnt fröhlichen Lachen hereinkam.

»Da ist ja mein Schatz!«

Ein Strahlen legte sich auf Annies Gesicht. So hatte er sie nicht mehr genannt, seit sie klein war! Christopher sprang auf und warf sich in die ausgebreiteten Arme seines Vaters. Langsam erlosch Annies Lächeln, während sie die beiden anstarrte.

»Frohe Weihnachten, Vater!«, unterbrach sie den Moment, als sie es nicht mehr länger aushielt.

»Frohe Weihnachten, Annika! Frohe Weihnachten, Großer!« Colonel Bailey strich seinem Sohn über das Haar. »So, Kinder, kommt mit nach draußen! Es ist Zeit für die Bescherung!«

Selbst Annie vergaß ihren Verdruss und ließ sich durch die Tür schieben. Geschenke? Was konnte das sein?

Ihr Vater lotste seine Kinder in Richtung der Ställe. Im Korral stand Midnight Maiden. Beim Näherkommen erkannte Annie die große, blau-weiß gestreifte Stoffschleife, die um den Hals des Pferdes gebunden war. Überantwortete der Vater ihr die wertvolle Stute? Nach all den Jahren?

Annies Herz begann zu singen. Colonel Bailey drehte sich lächelnd zu ihnen um. Christophers kleine Hand glitt in ihre. Vor Aufregung hüpfte er auf und ab.

»Midnight Maiden soll ab sofort dir gehören – mein Sohn.«

Eine Faust traf Annie in den Magen.

»Sie ist das beste Pferd, das ich kenne. Deine Schwester wird dir Reitunterricht geben.«

Christopher drängte sich verunsichert an Annie. Sie drückte seine Hand und kämpfte tapfer gegen die Tränen, die wie ein Hochwasser in ihr aufstiegen.

»Es ist ganz schön groß!«, flüsterte der Junge skeptisch.

»Ach was, das wirkt nur von unten so. Außerdem ist sie schon alt. Nicht mehr so spritzig wie damals, als Annie auf ihr reiten gelernt hat.«

»Welches Reittier soll ich nehmen, solange ich hier bin?« Annies Stimme kam brüchig aus ihrer ausgetrockneten Kehle. Sie biss sich auf die Unterlippe, damit ihr Vater nichts bemerkte.

Der lachte ein weiteres Mal übermütig auf. »Lass uns drinnen mal nachschauen.«

Zögerlich folgte Annie ihm in den dämmrigen Stall. Christopher ließen sie draußen am Gatter zurück, wo er ängstlich sein erstes eigenes Pferd anstarrte.

»Du kannst dir jedes Ross aussuchen, das du haben willst.« Großzügig deutete der Colonel auf die Boxen.

Obwohl im Laufe des Krieges viele Pferde an die Armee verkauft worden waren, blieb Annie eine große Auswahl. Der Knoten in ihrem Magen zog sich fester zusammen. Das eine Tier, das sie liebte, war vergeben.

Ohne Elan folgte sie ihrem Vater die Stallgasse hinunter, während er nach links und rechts zeigte und begeistert die Vorzüge jedes einzelnen Pferdes hervorhob. Die Fuchsstute war besonders sanftmütig, der langbeinige Schimmel daneben feurig, ein grauer Hengst hatte Preise im Viertelmeilenrennen gewonnen, sein Nachbar hatte einen edlen Kopf samt edler Gestalt, der falbe Kaltblüter hatte keine Besonderheiten außer seinem sturen Charakter. Annie machte sich eine mentale Notiz. Andere zeichneten sich aus durch Schnelligkeit, ein gesundes Gebiss, eine unvergleichlich graue Farbe, einen sanften Gang, Explosivität und Intelligenz. In Annie wuchs der Drang zu schreien. Zum Glück erreichten sie endlich die letzte Box.

»Und dann haben wir noch dieses Kerlchen hier.«

Überrascht stellte Annie fest, dass sie diesen nachtschwarzen Hengst mit dem kleinen weißen Stern auf der Stirn noch nicht kannte. Nervös tänzelte er hin und her und legte die Ohren zurück, als sie behutsam nähertrat. Sofort war das Mädchen hellwach.

»Darf ich vorstellen: Midnight Madness. Der Sohn von Midnight Maiden und Pitch Black Darkness. Du hast bestimmt vom Zuchthengst der Howlands gehört?«

Annie nickte atemlos. Pitch Black war eine Legende. Er hatte in fast jedem Rennen, in dem er antrat, eine Medaille geholt. Eine Stute von ihm decken zu lassen, kostete ein Vermögen und die Howlands waren wählerisch, wem sie ihre Gunst gewährten.

»Madness wird im Juni vier Jahre alt. Einer leichten Reiterin wie dir sollte es bald möglich sein, mit dem Zureiten zu beginnen«, stellte ihr Vater betont beiläufig fest. In seinen Augen jedoch tanzte der Schalk.

Annies Herz schlug schneller. Mit so einem Tier konnte sie beweisen, dass sie mit edlen Rennpferden umzugehen wusste. Es konnte der Beginn einer neuen Zuchtlinie werden und ihr den Respekt der anderen Züchter einbringen. Wollte ihr Vater das mit dem wertvollen Geschenk ausdrücken? Dass er ihr, was Pferde betraf, vertraute? Dass er bereit war, die Zukunft des Gestüts in ihre Hände zu legen, wenn sie Erfolge bei der Ausbildung des Hengstes vorweisen konnte? Ihre Beine fühlten sich wacklig an. Annie schluckte die Tränen hinunter, bevor sie sich Bahn brechen konnten.

»Du sagst ja gar nichts. Gefällt er dir nicht?«, fragte ihr Vater.

Annie schniefte geräuschvoll. »Er ist wunderschön! Natürlich entscheide ich mich für ihn!«

Ihr Blick verschleierte sich. Noch nie hatte sie so tiefe Dankbarkeit und Liebe empfunden. Ihrem Vater gegenüber, aber auch gegenüber dem großen, ungezähmten Satan in der Box. Bevor sie sich versah, schloss ihr Vater sie in die Arme.

»Weine nicht, meine Große! Ihr beide passt perfekt zusammen! Ich weiß es!« Kaum hörbar fügte er hinzu: »Deine Mutter hätte es so gewollt. Ich wünschte, sie wäre jetzt hier.«

Für den restlichen Vormittag war Annie nicht mehr aus dem Stall zu locken. Noch wagte sie nicht, die Tür zu Midnight Madness’ Verschlag zu öffnen. Stattdessen lehnte sie sich an die Wand daneben und sang ihm mit schiefer Stimme Kirchenlieder vor, damit er sich an ihre Gegenwart und ihren Klang gewöhnte. Als sie anfing, Gedichte zu rezitieren, stellte er seine Ohren auf. Statt dem angsterfüllten Weiß der Augen zeigte er einen neugierigen, intelligenten Blick. Schließlich schnupperte er an dem Apfel, den Annie ihm auf der flachen Hand anbot. Offensichtlich war Madness ihr Geruch nicht völlig zuwider. Er senkte mit einem erleichterten Seufzer sein weiches Maul herab und schnappte sich den Leckerbissen. Der Hengst wirkte so zufrieden, dass Annie kichern musste. Sofort stoppte die Kaubewegung. Madness’ Ohren bewegten sich in alle Richtungen.

»Ist schon gut, Nessi!«

Annie begann wieder leise zu singen. Sie nahm den Moment mit geschlossenen Augen in ihrem Herzen auf. Die Wärme; die Ruhe; der süßliche Geruch nach Pferd. Ja, so sollte es sein. Hier war ihr Platz und würde es immer sein. Heute beim Abendessen würde sie endlich mit ihrem Vater und Theresa darüber sprechen.

Annie legte als Erste Gabel und Messer zur Seite. Vor Aufregung war ihre Kehle wie zugeschnürt.

Die Füllung aus Brot, Kräutern und getrockneten Trauben quoll aus dem Truthahn, der zur Hälfte aufgegessen auf der Tafel stand. Auch vom Maisbrei war noch eine halbe Schüssel übrig, genau wie von den Bohnen und den gegrillten Kürbiswürfeln. Am Tisch herrschte Schweigen; zumindest beinahe. Seit Christopher zur Tür hereingekommen war, plapperte er vor sich hin. Weder der abwesende Gesichtsausdruck seines Vaters noch das Missfallen Theresas, die noch steifer als sonst dasaß und eine Schnute machte, störten ihn. Hoffentlich vergaß er nicht ihre Abmachung.

»Und dann hat sich Annika hinter mich aufs Pferd gesetzt und wir sind sooo schnell über den Schnee galoppiert.«

Scheibenhonig.

Theresa schnappte zischend nach Luft. »Das geht nun wahrlich zu weit! Bartholomew, ich habe geschwiegen, als du unserem kleinen Sohn dieses Monster geschenkt hast. Auch Reitstunden habe ich zugestimmt. Immerhin ist er dein Erbe. Ich erkenne das an. Aber dass du ihn diesem Mädchen anvertraust und sie durch die Gegend galoppieren – das ist zu viel. Es hätte weiß Gott was passieren können! Er hätte …«

Colonel Bailey hob abwehrend die Hand. »Ich verlasse mich auf Annika, was Pferde anbelangt, zu einhundert Prozent. Wenn du unseren Sohn während meiner Abwesenheit nicht so verhätschelt hättest, wäre er schon ein passabler Reiter! Das holen wir jetzt nach.«

Wütend zerknäulte Theresa die Serviette auf ihrem Schoß und starrte ihren Ehemann mit versteinertem Gesichtsausdruck an. Der schob sich ein Stück Truthahn in den Mund. Selbst Christopher war verstummt. Sein Blick wanderte zwischen seinen Eltern hin und her.

Annie musste eine Entscheidung treffen. Ihr Vater stellte sich selten gegen seine zweite Ehefrau und noch seltener tat er das zugunsten seiner Tochter. Diese Gelegenheit musste sie nutzen! Darauf, dass ihre Stiefmutter ihr jemals Wohlwollen und Respekt entgegenbringen würde, konnte sie noch hundert Jahre warten! Eher würden die Menschen fliegen lernen.

War es am Ende wirklich so entscheidend, dass sie nicht als Mann geboren war? Annie hatte die Fähigkeiten und den Ehrgeiz, die Zucht so fortzuführen, wie diese es verdient hatte! Christopher war kein Pferdemensch. Er würde seiner großen Schwester dankbar sein, wenn sie die Verantwortung übernahm.

»Vater, mit deinem Einverständnis würde ich gerne nach der Schule für immer hier auf der Ranch bleiben. Ich bin mir sicher, gemeinsam können wir großartige Zucht- und Trainingserfolge erzielen! Meine Expertise wird für die Zucht von entscheidendem Nutzen sein.«

Colonel Bailey ließ die Gabel sinken. »Wie meist du das?«, fragte er tonlos.

Annie setzte ihre Rede fort und wurde dabei immer schneller. So lange hatte sie auf diesen Augenblick hingefiebert!

»Mit Pferden kenne ich mich bereits hervorragend aus. Da hatte ich den besten Lehrmeister. Daneben beschäftige ich mich im Unterricht mit Buchführung, Vererbungslehre und Algebra, aber auch Allgemeinrecht und …«

»Was tust du?«, unterbrach Theresa sie schrill.

Noch mal Scheibenhonig. Davon hatte Annie eigentlich nichts verraten wollen.

»Ich lerne all die Dinge, die ich später als Züchterin einmal brauchen werde!«, verteidigte sie sich.

»Das … das … gebührt sich nicht für eine junge Dame!« Theresa schnappte nach Luft.

Christopher nutzte die Atempause, rutschte von seinem Stuhl und rannte aus dem Speisesaal. Keiner der Erwachsenen beachtete seinen Abgang.

»Wie willst du denn einen Ehemann finden, wenn dein Kopf durch derart garstige Dinge verwirrt ist? Eine meiner Großtanten hat sich auch so gehen lassen. Hat sich nicht um ihr Aussehen gekümmert, sondern nur um ihre Kaninchenzucht. Keinen einzigen Heiratsantrag hat sie bekommen und war zeitlebens auf die Barmherzigkeit ihrer Verwandtschaft angewiesen. Willst du etwa auch so enden?«

Annie fuhr auf. »Ich werde euch schon nicht auf der Tasche liegen! Wenn ihr mich hierbleiben lasst, verdiene ich meinen Unterhalt zigmal zurück!«

»Jetzt will sie auch noch Geld verdienen. Eine Lady sollte nicht einmal über Geld sprechen! Bartholomew, sprich du mit deiner Tochter! Immerhin hast du ihr diese Allüren in den Kopf gesetzt. Ich habe gleich gesagt, es endet nicht gut, wenn das Mädchen so viel Zeit mit den Pferden verbringt!«

Die Augen des Colonels wirkten müde. Sein Gesicht grau und eingefallen. Es schien, als würde ihm der Streit zwischen den beiden Frauen den letzten Rest seiner Kraft entziehen.

»Es hat noch niemandem geschadet, wenn er früh lernt, sich um ein anderes Lebewesen zu kümmern. Meine Annika war so wild früher. Die Arbeit mit den Pferden hat sie immer beruhigt. Aber von dir, Theresa, hatte ich mehr erhofft. Ich habe dir die Erziehung meiner einzigen Tochter anvertraut. Als ich dich getroffen habe, die perfekte Lady, habe ich erwartet, dass du ein Vorbild für Annika wirst. Doch was hast du aus ihr gemacht? Ein Mannsweib!«

Beiden Frauen klappte der Mund auf, doch der Colonel erstickte ihre Widerworte mit einer Handbewegung. An seine Tochter gewandt fuhr er fort: »Was geht nur in deinem Kopf vor? Um deinen Unterhalt solltest du dir keine Gedanken machen! Auch wenn ich mir manchmal erträumt habe, dass du eine Lehrerin wirst wie deine liebe Mutter, möge sie in Frieden ruhen.«

»Aber ich will Pferde trainieren«, schaffte es Annie einzuschieben.

»Es würde mir auch gefallen, wenn du einen Pferdezüchter heiratest. Du hattest schon immer ein Händchen für Pferde. Aber unsere Zucht erbt dein Bruder! Um die musst du dich nicht sorgen.«

»Christopher wird meine Hilfe brauchen! Das Wissen kann er sich vielleicht erarbeiten, aber er liebt Pferde einfach nicht so wie du und ich«, flehte Annie verzweifelt.

»Das stimmt!«, pflichtete ihr Theresa unerwartet bei. »Es wäre besser, wenn er sich auf etwas anderes verlegt. Vielleicht wird er einmal Arzt?«

»Redet keinen Unsinn.« Mr. Bailey schlug mit der Faust auf den Tisch und beide Frauen zuckten zusammen. Seine Stimme wurde lauter. »Christopher ist fünf Jahre alt! Er wird es lernen. Und du, Annika, heiratest und bekommst Kinder. Eine Lady als Geschäftspartnerin oder auch nur als Beraterin in einer Pferdezucht? Das ist lächerlich! Außerdem haltet ihr beiden es ja nicht einmal vierundzwanzig Stunden unter einem Dach aus, ohne zu streiten. Das ertrage ich nicht bis zu meinem Lebensende!«

Annie schnappte nach Luft. Sie fühlte sich, als hätte ein Huftritt sie in den Magen getroffen. Er nannte ihren Traum, das Ziel, auf das sie hinarbeitete, seit sie denken konnte, lächerlich? Für ihn war sie nur eine Zuchtstute! Beinahe spürte sie Theresas Genugtuung auf der Haut.

Tränen schossen in Annies Augen. Sie würde ihrem Vater beweisen, dass er falsch lag! Sie würde es allen beweisen!

Würdevoll stand sie auf und schritt mit aufrechtem Kopf zur Tür. Erst als diese hinter ihr zugefallen war, rannte sie los. Sie musste zu dem einzigen Wesen, das sie verstand: Midnight Maiden.

Tränenblind stolperte Annie die Treppen der Veranda hinunter in die undurchdringliche Nacht. Ihre Flucht endete abrupt an einer breiten Männerbrust. Kräftige Arme schlossen sich wie Schraubstöcke um sie. Der Geruch nach Schweiß und Leder drang an ihre Nase. Panisch schlug Annie um sich. Sie musste sich befreien! Musste weg! War gefangen!

»Ruhig, Prinzessin. Ruhig.« George.

Ihre Gegenwehr erlahmte. Noch immer ließ er sie nicht los. Zitternd sog Annie seinen ungewohnten, erwachsenen Duft ein; gab ihrer Schwäche nach; sank gegen ihn. Endlich ließ sie den Tränen freien Lauf, während ihr Freund aus Kindheitstagen sie einfach nur festhielt.

Die Brücken zur Freiheit - 1864

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