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Kapitel 7
ОглавлениеMarius Vermeer fluchte, als ihm jemand den Parkplatz in der Seitenstraße vor der Nase wegschnappte. Erst hatte er fast verschlafen, dann dieser blöde Kleinkriminelle, der ihn mit seinen Drohungen und Forderungen aufgehalten hatte. Es wurde wirklich Zeit, dass er in sein Geschäft kam. Er bog in die Spiegelgracht ein und stellte den Wagen direkt vor seinem Geschäft ab. Das war zwar nur zu Lieferzwecken gestattet, aber er würde ihn wegfahren, sobald die Vasen da waren.
Eilig schloss er die Tür auf. Das Glockenspiel erklang. Nanu? Marius sah sich um. Alles wirkte unverändert, aber irgendetwas stimmte nicht. Es roch so eigenartig. Hatte er irgendetwas liegenlassen oder verschüttet? Nein, das war ausgeschlossen. Er aß und trank niemals im unteren Stockwerk. Die kleine Teeecke für Kundengespräche lag ein Stockwerk höher und wurde nur genutzt, wenn einer seiner Mitarbeiter im Laden die Stellung hielt.
Ach was, er war nur nervös wegen der Lieferung. Die chinesischen Vasen waren ein Spontankauf gewesen. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet den Zuschlag für beide Vasen zu bekommen. Doch so konnte er sie verschiedenen Kunden anbieten, statt nur für einen Auftraggeber zu steigern. Es war zwar ein größeres Risiko, jedoch auch ein größerer Gewinn. Er war sich sicher, seine japanischen Interessenten gegeneinander ausspielen zu können.
Da sah er auch schon den Wagen von der Spedition auf der Straße halten. Zwei Männer luden Kisten ab und ein dritter kam mit den Frachtpapieren herein.
„Hallo, Herr Vermeer!“
„Guten Morgen.“ Marius delegierte den ersten Träger mit seiner kostbaren Fracht in den hinteren Teil des Ladens, wo Bestellungen und bereits verkaufte Exponate lagerten. Dann prüfte er die Unterlagen, während der nächste Mann eine weitere Kiste gleicher Ausmaße herein trug.
Marius überwachte ihr Treiben genau. Die Vasen waren weder besonders groß noch besonders schwer. Die Verpackung allerdings war unhandlich. Porzellan musste schwimmend verpackt werden und bei diesen Werten natürlich absolut stoßsicher.
Er unterzeichnete gerade die Lieferpapiere, als er bemerkte, dass die Männer noch eine dritte Kiste abluden. „Hey, stopp! Ich bekomme nur zwei Pakete.“
„Nicht doch.“ Der dritte Mann deutete auf seine Unterlagen. „Nein, drei Frachtstücke aus London für Marius Vermeer, Kunst und Antiquitäten, Amsterdam, Spiegelgracht.“
„Sind Sie sicher?“ Marius blätterte in den Frachtpapieren. Tatsächlich, drei Frachtstücke, und allesamt vom selben Auktionshaus in London. Das war ja eigenartig.
„So, schönen Tag noch, Herr Vermeer!“ Der Mann reichte Marius die Durchschläge und tippte sich an die Stirn.
Marius überlegte angestrengt. Er war sich sicher, ausschließlich zwei Vasen ersteigert zu haben. Doch alle drei Frachtstücke waren gleichermaßen verpackt.
Es half nichts, er musste nachsehen, was genau sich in den einzelnen Paketen verbarg.
Er verschloss sicherheitshalber die Ladentür, um ungestört zu sein. Dann machte er sich vorsichtig mit einem Papiermesser über die erste Verpackung her. Zum Vorschein kam eine knapp vierzig Zentimeter hohe Porzellanvase, nicht viel größer als eine Kaffeekanne, in leuchtendem Türkis, mit blumigen Randbemalungen und einem Fischmotiv. Ein schönes Stück, dem man sein Alter und damit auch den großen Wert nicht ansah.
Marius machte sich über das nächste Frachtstück her. Mit wenigen geschickten Schnitten hatte er den Inhalt befreit: Vase Nummer 2. Sie glich der anderen in Größe und Form, hatte jedoch ein kräftiges Lachsrot statt Türkis, etwas andere Blumenranken und ein Vogelmotiv.
Nervös starrte Marius auf das dritte Paket, das die gleichen Ausmaße wie die anderen beiden hatte. Eine weitere Vase hatte es in der Auktion gar nicht gegeben, Verwechslungen oder Missverständnisse waren also ausgeschlossen.
Er zog feine Baumwollhandschuhe aus einem Fach unter dem Tresen und streifte sie über. Dann setzte er erneut das Papiermesser an. Auch in dieser Kiste waren Luftpolster, die sich allerdings bei genauerem Hinsehen um zwei Holzfaserplatten schmiegten. Marius zog die Holzplatten heraus. Auch sie waren unwesentlich höher als die beiden Vasen und höchstens dreißig Zentimeter breit. Eine typische Verpackung für ein Gemälde ohne Rahmen.
Und richtig, als Marius die Faserplattenverkleidung entfernte, hielt er ein Ölgemälde in der Hand: ein expressionistisches Porträt einer Frau. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, was er da genau in den Händen hielt. Es war ein Bild des Malers Lucian Freud: ‚Woman with Eyes closed’ von 2002. Marius rieb sich die Schläfen. Das Bild war doch gemeinsam mit Bildern von Monet, Picasso, Matisse, Gauguin und auch Meyer de Haan im Herbst 2012 in einem spektakulären Raub in Rotterdam gestohlen worden. Dann hatte man einige Monate später in Deutschland die Werke zum Rückkauf angeboten, und schließlich die verbrannten Überreste irgendwo in Rumänien in einem Ofen gefunden. Er schüttelte ungläubig den Kopf. Das war tatsächlich eines der Bilder.
Marius rang nach Atem. Er stellte zwar selbst keine Expertisen aus, war sich aufgrund seiner Erfahrung jedoch absolut sicher, dass es sich um das Original handelte. Er war nicht gerade ein Fan der realistischen Akte und Porträts von Lucian Freud. Doch kein Kunstkenner war in den letzten Jahrzehnten an diesem Maler vorbeigekommen. Seine Porträts berühmter Stars – und nicht nur diese – hatten Millionen auf dem internationalen Markt erzielt. Auch Marius hatte vor Jahren für einen russischen Kunden einen Freud-Akt für über dreißig Millionen ersteigert. Lucian Freud, ein Enkel des berühmten Psychoanalytikers, bedeutete Wertanlage, und das nicht erst seit seinem Tod 2011.
Warum war das Bild aus dem Raub noch vorhanden? Warum schickte man es ihm? Was hatte das Ganze mit der Auktion in London zu tun? Welches Spiel wurde hier gespielt?
Marius´ Gehirn lief auf Hochtouren. Er musste das Bild loswerden. Aber wie? Es war mit Sicherheit unverkäuflich. Oder sollte er es an die Behörden weiterreichen? Das bedeutete unter Umständen noch mehr Ärger. Immerhin hatte er einige unsaubere Aufträge abgewickelt. Und womöglich würde er eine Zeit lang seine internationalen Geschäfte zurückfahren müssen. Das konnte er sich allein wegen dieser chinesischen Vasen kaum erlauben.
In diesem Moment hörte er lautes Klopfen am Eingang. Eilig verstaute er das Bild in der hintersten Ecke des Lagers. Auf dem Weg zur Tür streifte er die Handschuhe ab.
Mit jähem Schrecken gewahrte er zwei uniformierte Polizisten an der Eingangstür. Marius fuhr sich durch die Haare und öffnete die Tür.
„Hallo?“ Seine Stimme klang belegt. Das Glockenspiel verklang.
„Hallo, Herr Vermeer.“ Einer der Beamten nickte ihm zu. „Wie gut, dass Sie selbst da sind. Dort parkt ein Wagen im absoluten Halteverbot. Sollen wir den gleich abschleppen lassen?“
„Oh.“ Marius sah hinüber zu seinem Sportwagen. „Bitte nicht. Das ist meiner. Ich fahre ihn sofort weg. Ich musste nur eben ganz schnell …“
„Ach, es ist Ihr eigener Wagen“, stellte der Polizist lächelnd fest. „Dann ist es ja gut. Wenn Sie ausgeladen haben, sollten Sie ihn wegfahren. Schönen Tag noch, Herr Vermeer.“ Die Polizisten wandten sich zum Gehen.
„Ihnen auch!“ Marius hätte den beiden Beamten beinahe vor Erleichterung nachgewinkt.