Читать книгу Civitas A.D. 1200. Das Geheimnis der Rose - Christof Wolf - Страница 17

LEXEMÜHLE

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Emma und die Mädchen sahen es als ihre Aufgabe, sich um den verletzten Fremden zu kümmern. Dieser lag in der Kammer hinter der Küche und hatte sich seit dem gestrigen Abend nicht mehr gerührt. Der Raum hatte eine angenehme Temperatur. Während nahezu sämtliche Innenwände des Wohnhauses aus getrocknetem Lehm bestanden, der auf ein Reisiggeflecht aufgetragen war und so Räume voneinander trennte, bestand die Wand zwischen dem Kammerräumchen und der Küche aus dunkelgrauen Basaltsteinen. Diese hatte bereits Arthurs Vater dort aufgeschichtet, um eine sichere Abtrennung zur offenflammigen Kochstelle auf der anderen Seite zu schaffen. Doch dadurch, dass die Steinbrocken permanent dem Feuer ausgesetzt waren, luden sie sich mit Wärme auf und gaben diese in das rückwärtige Zimmer ab. Die Kinder liebten diesen Raum und freuten sich, wenn Emma sie im späten Herbst, wenn die Nächte langsam wieder frostig wurden, zum Schlafen in die Kammer ließ. Den gesamten Winter verbrachten sie dort, meist zu dritt, da Albert sich schon mehr als Mann denn als Junge fühlte und sich lieber in seine ebenfalls stets warme Schmiede verzog. Seit geraumer Zeit hatte er keine Lust mehr auf das Gegacker seiner Schwestern und er fragte sich, wie sein Bruder Antonius es mit diesem Weibsvolk in einem Raum aushalten konnte.

Nun aber lag dieser fremde Mann dort auf der Pritsche und sah ziemlich erbärmlich aus. Emma konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, dass so oder zumindest ganz ähnlich Jesus Christus ausgesehen haben musste, als man ihn vom Kreuz genommen und ihn in die Hände der um ihn weinenden Frauen gelegt hatte. Ignazius hatte den Kindern schon so oft und leider bis in das grausamste Detail die gruselige Geschichte vom gegeißelten und gekreuzigten Erlöser beschrieben, sodass es ihr nicht schwerfiel, sich vorzustellen, welchem Martyrium er ausgesetzt gewesen war. Und diesem Menschen vor ihr war es nicht anders ergangen, nur dass dieser glücklicherweise dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein schien.

Sein Körper war von den Entbehrungen einer langen Reise völlig ausgemergelt. Seine Hände waren geschunden, als sei er der Arbeit aus einem Steinbruch entflohen. Die Fingernägel der Hand, die nicht in einem Handschuh gesteckt hatte, waren schwarz wie Kohle, als habe er die Feuerstelle in der Küche mit den bloßen Händen ausgekratzt. Auch sein Geruch konnte nicht mehr bloß als penetrant bezeichnet werden. Die Verletzung, die Albert am gestrigen Abend mit seiner Brachialmethode behandelt hatte, schien noch immer ein wenig den Gestank des Todes zu verbreiten – wenngleich dessen Helfer, in Form von kleinem und gefräßigem Getier, sich zum Glück verzogen hatten.

Zahlreiche Narben und dunkelrote Streifen, zum Teil noch mit leichtem Krustenüberzug, die Mehrzahl aber gut verheilt, waren über seinen ganzen Körper verteilt. Entweder schien er durch Dornenhecken geritten zu sein oder die Verwundungen stammten aus einem Kampf, Mann gegen Mann. Emma kam zu dem Entschluss, dass er in seinem Leben schon einiges an Schmerzen ertragen haben musste, bot den Kindern jedoch die Geschichte mit den Dornen an. „Seht ihr, das passiert, wenn man unaufmerksam durch die Hecke läuft!“, sagte sie ihnen, als ihr nicht entging, dass die Mädchen einen unsicheren und angstvollen Blick auf den Fremden warfen.

Er schien einen guten Organismus zu haben – oder war es vielmehr sein Drang zu überleben? –, sodass er es offensichtlich immer wieder auf die Beine geschafft hatte. Hoffentlich gelingt es mir, ihn wieder gesund zu pflegen!, überkam Emma der Gedanke, als sie nach einem kurzen Blick in die Kammer zurück zur Küche ging. Dort nahm sie den eisernen Topf, den der Ruß mittlerweile außen kohlrabenschwarz gefärbt hatte, der innen aber von ihren Töchtern stets blitzblank poliert wurde, und füllte ihn mit Wasser. Sie hängte ihn in den Eisenhaken, den Albert im letzten Winter neu und in ihren Augen formvollendet geschmiedet und über der Feuerstelle angebracht hatte. Dann überlegte sie, was sie dem Fremden Gutes tun konnte, um seine Genesung zu unterstützen.

Im kühlen Keller, dessen Bruchsteinmauer das ganze Jahr eine gleichbleibende Temperatur hielt und in dem sie neben ihren eingelegten oder gepökelten Lebensmitteln auch die eine oder andere Arznei aufbewahrte, müsste sich sicher noch etwas Geeignetes finden lassen, was die Heilung der offenen Wunde unterstützen könnte. Vielleicht die Salbe aus Ringelblume und Arnika?

Dadurch, dass sie vier Kinder hatte aufziehen müssen oder besser dürfen, eignete Emma sich im Laufe der Jahre ein breites Wissen an, was das Heilen von kleinen oder auch größeren Wunden sowie Krankheiten betraf. Dabei half es ihr, dass bereits ihre Mutter ihr eine gewisse Begabung in die Wiege gelegt hatte und ihr gezeigt hatte, wie man Blessuren jeglicher Art mit einfachen Mitteln aus der Natur behandeln konnte. Als Emma selbst schließlich ihre Kinder in eine selbige gelegt hatte, wendete sie alle ihre Erkenntnisse entsprechend an, um offene Verletzungen oder auch fiebrige Erkältungen zu lindern. Doch auch ihr Großer, Albert, dessen Unterarme – und leider auch sein eigentlich markant und wohlgeformtes Gesicht – mehr und mehr dem Funkenflug in der Schmiede Tribut zu zollen hatten, schwor auf die schmerzlindernde Creme aus gekühltem Butterschmalz und Honig, die Emma eigens für ihn entwickelt hatte. Fast täglich trug er sie auf alte und neu dazukommende Brandwunden auf. Gerade dann, wenn er sich an einem der glühend rotgelben Eisenstäbe versengt hatte. Hob sich wieder einmal ein Hautballon von der verbrannten Oberfläche ab, war zunächst seine Sofortmaßnahme, dass er die verletzte Stelle noch einmal kurz an die Flammen hielt – dadurch verzog sich in der Regel die flüssigkeitsgefüllte Blase. Anschließend schmierte er die kühlende Salbe seiner Mutter dick auf die rote Fläche. Und siehe da, in der Regel konnte er schon am nächsten Tag wieder fest und fast schmerzfrei seinen Hammer greifen.

Auch Arthur schätzte die Heilkünste seiner Frau. Schon im jungen Alter überkam ihn in unregelmäßigen Abständen plötzlich eine schreckliche Atemnot. Meist trat sie dann auf, wenn er zu viele Stunden unmittelbar an den Mühlsteinen verbrachte und dort das feine weiße Mehl, das nach dem Sieben pulverartig war, in grobe Leinensäcke abfüllte. Sobald er diese dann mit Albert auf Ignazius’ Ochsenkarren wuchtete und weiße Staubwolken gen Himmel schossen, startete er nicht selten Niesserien von fünf bis zehn Einheiten. Seine Kinder konnten sich stets ein Lachen nicht verkneifen und zählten laut mit, wenn ihr Vater seine Hatschi-Salven abgab.

Emma überlegte, was sie als nächstes tun wollte. Vielleicht sollte sie den Fremden einfach von Kopf bis Fuß abwaschen. Sie könnte ein wenig von den getrockneten Kräutern wie Rosmarin oder auch von den Nadeln der Fichten, die sie von den Mädchen im Spätsommer sammeln ließ, ins Wasser geben – vielleicht würde das schon helfen. Sie rief die kleine Klara und bat sie, aus dem neuen Schuppen, in dem sie so manches Kraut zum Trocknen an die Decke gehängt hatte, ein paar Zweige von diesem und jenem zu holen.

Klara war klein und leicht wie eine Schneeflocke und flink wie ein Wiesel, weshalb sie stets die Aufgabe bekam, in der Scheune die Holzleiter hinaufzusteigen und die gewünschten Gewürzzweige vom Gebälk zu lösen.

Hannah wurde in den kühlen Keller geschickt, um ein wenig Schweineschmalz aus dem riesigen Tonkrug zu schaben. „Nimm aber von dem dunklen Pott, denn das Schmalz ist vom letzten Jahr. Es schmeckt mittlerweile ein wenig ranzig, aber die heilende Wirkung steckt immer noch darin!“

Die beiden Mädchen waren ebenso unterschiedlich wie ihre Brüder. Während die Klara ein Hauch von Nichts in punkto Körpermasse war, was ihr auch den Kosename Flocke einbrachte, sah man Hannah ihren unbändigen Appetit an. Meist ließ sie nur Brösel auf dem Teller zurück, weshalb Antonius ihr einst den liebgemeinten Spitznamen Krümel verlieh.

Emma wusste, wenn sie nun die Ältere in den Kaltkeller schickte, dass diese nicht umhin kam, mit ihrem Zeigefinger einen dicken Klecks Schmalz zu schaben, um dieses dann heimlich und umso genussvoller abzuschlecken. Aber was sollte sie machen, sie konnte die unbeholfene, und sich meist ein wenig tollpatschig anstellende Hannah nicht auf die Leiter in der Scheune lassen. Entweder würde sie sich, schusselig wie sie nun einmal war, den Hals oder im günstigeren Fall ein Bein brechen.

Beide Kinder kehrten nahezu gleichzeitig in die Küche zurück. Während Klara von ihrer Leichtfüßigkeit getrieben mit einem Liedchen auf den Lippen munter angehüpft kam, war Hannah auf der Kellerstiege außer Atem geraten. Emma konnte an den noch verschmierten Resten in den Mundwinkeln sehen und am fettigen Atem ihrer Tochter riechen, warum diese so lange gebraucht hatte.

„Ich habe auch ein wenig von dem Salbei mitgebracht! Du wolltest doch Salbe anrühren, da brauchst du doch bestimmt welchen?“ Emma musste wegen des unwillkürlichen Wortspiels ihrer Tochter grinsen und nahm die brüchigen Blätter entgegen.

„Danke dir, mein Schatz!“ Anschließend legte sie die Rosmarinzweige und Fichtennadeln ins Wasser und ließ sie aufkochen. Ein angenehmer Duft verbreitete sich in der Küche und es gelang ihr, den kratzig rauchigen Geruch, der dort seit Ewigkeiten hing, ein wenig zu verdrängen. Hannahs Beitrag zur Behandlung des Fremden wurde ebenfalls erwärmt und mit Honig versetzt. Somit würde das Schmalz sich leichter verstreichen lassen. An und für sich beließ es Emma immer, für die Behandlung von nicht ganz abgeheilten Wunden und Narben, bei Schweinefett und Honig. Da sie jedoch die Kondition des Reiters als ziemlich desolat einschätzte und sie somit etwas unternehmen musste, um seine Selbstheilungskräfte zu aktivieren, rührte sie gemäß einem alten Rezept ihrer Mutter ein wenig Arnika darunter. „Arnika bewirkt Wunder!“, hatte sie ihr stets gesagt und sollte in vielen Fällen Recht behalten.

Die Salbe wurde langsam sämig. Der liebliche Geruch des Blumenextrakts signalisierte ihr, dass die Arznei fertig war. Auch der Kräutersud, mit dem sie den Fremden waschen wollte, dampfte vor sich hin. Sie strich die Creme auf eine glatte Schieferplatte und nahm den Pott von der Feuerstelle. Klara trug sie auf, aus der Wäschekammer ein frisches Leinentuch und zwei – aus alten Bettleinen gerissene – Waschlappen zu besorgen. Hannah nahm ihr die Schiefertafel mit der Salbe ab. Gemeinsam traten sie hinaus auf den Flur und warteten auf Klaras Rückkehr. Nun konnten Waschung und Wundbehandlung beginnen.

Gerade griff sie nach der eisernen Türklinke – auch diese hatte Albert aus Langeweile im Winter geschmiedet – als ihre bis dahin nicht infrage gestellte Courage sie im Stich lassen wollte. Kann ich nun wirklich allein oder gar mit den Kindern die Kammer betreten? Darf ich den Mann überhaupt berühren? Oder wäre es nicht klüger, darauf zu warten, dass ihr starker Albert oder ihr Mann anwesend seien? Wer weiß, was das für ein Mensch ist? Vielleicht ist er ein Mörder auf der Flucht, der sich nur zum Schein in ein Mönchsgewand gehüllt hat? Emma verlor sich kurz in Gedanken. Sie wollte gerade die Kinder bitten, sich in die Küche zurückzuziehen und die Tür von Innen zu verschließen, als sie alle ein herzerweichendes Stöhnen aus dem Raum hinter der Tür hörten. Noch einmal tief durchatmend und die Kinder mahnend, sie sollten dicht hinter ihr bleiben, öffnete sie die Tür. Sie erschrak, denn der Fremde lag neben seinem Lager – mit dem Gesicht zum Boden. Wahrscheinlich hatte er sich im Schlaf gewälzt und war von der Pritsche gefallen. Sofort ordnete sie an, dass die Kinder sich umdrehen sollten – schließlich lag der Mann nun völlig nackt vor ihnen. Allerdings blieb auch ihnen nicht verborgen, welche Verletzungen dieser Mensch in seinem Leben schon hatte erleiden müssen.

„Mutter, hat man den Mann da auch gekreuzigt?“ Hannah stand starr und konnte ihren Blick nicht von dem geschundenen Körper nehmen, den sie vor sich liegen sah. Emma merkte, dass auch ihre ältere Tochter diesen Fremden mit der Geschichte Jesu assoziierte. „Hannah, geh und hole einen der Männer, egal wen! Es kann auch einer der Knechte sein! Wir müssen den Mann wieder auf sein Lager legen!“ Im ersten Moment reagierte das Mädchen überhaupt nicht, doch als Emma sie kurz anstupste, machte sie sich auf den Weg.

Klara indes stand stumm hinter ihrer Mutter und linste immer wieder in die Kammer. Wenngleich sie ein wenig Angst verspürte, fand sie das ganze Getue um diesen geheimnisvollen Menschen spannend. „Mama“, sagte sie plötzlich, „der Mann liegt doch jetzt auf dem Bauch und seine Hände sind unter ihm begraben. Warum fangen wir nicht einfach an, ihm seinen Rücken abzuwaschen. Ich nehme die Beine und du den Rest bis zum Hintern!“ Sie kicherte, als würde sie sich schon vorstellen, wie ihre Mutter dem fremden Mann den Po abwischte.

Emma schaute ihre Tochter zunächst stirnrunzelnd an. Doch dann erkannte sie, dass das kleine Wesen neben ihr Recht hatte. So wie der Kerl dalag, konnte er ihnen relativ wenig anhaben. Wieso sollten sie nicht die Gunst des Augenblicks nutzen und sich tatsächlich schon einmal der Reinigung seines Rückens annehmen. Die beiden traten näher, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Wie eine Große nahm die zarte Klara einen der Lappen, tauchte ihn ins heiße Wasser, zuckte ob der nicht erwarteten hohen Temperatur zusammen, zog ihn vorsichtig wieder raus, wedelte ihn zwei-, dreimal durch die Luft und machte sich an den schmutzstarrenden und nicht gerade wohlriechenden Füßen zu schaffen. Erstaunt über dieses selbstverständliche und mutige Handeln ihrer Tochter, begann Emma, es ihr nachzutun.

Langsam und behutsam schrubbte sie die Schulterblätter und erkannte, dass das warme Wasser die Haut zu beleben schien. Die fahle Farbe des Gewebes wich, wie auch der Schmutz. Einige der weniger gut verheilten Wunden öffneten sich erneut, da sich die Kruste löste. Sobald eine Partie in Emmas Augen richtig gereinigt war, nahm sie sofort ihre Salbe zur Hand und verstrich großzügig das Fett in die Wunde oder auf das Narbengewebe.

Während dessen beschäftigte Klara sich ausgiebig mit der Reinigung der Fußsohlen und der Beine. Stumm schauten sie zwischendurch einander an und lächelten. Die Befürchtungen ob der Gefährlichkeit des Mannes, schienen sich vollkommen verflüchtigt zu haben. Emma erreichte die Pobacken und hielt inne. Den Mann dort und noch tiefer zu reinigen, war sicher nicht erlaubt, da dieser Körperteil seitens der Kirche stets als unrein proklamiert wurde. Nach einigen Augenblicken des Verharrens und einem prüfenden Blick zu ihrer in dieser Frage wahrscheinlich unbedarften Tochter tauchte sie den Lappen erneut ins nicht mehr so heiße Wasser, wrang ihn mit einer Hand aus und machte sich dennoch an die Reinigung.

Just in diesem Augenblick kehrte Hannah mit einem der Knechte zurück. „Mutter, entschuldigt, es dauerte länger!“, keuchte Hannah atemlos. Sie war, so schnell es ging, kreuz und quer über den Hof gelaufen, um einen der männlichen Beschützer aufzutreiben. „Der Albert ist gerade nicht aufzufinden und Vater scheint unten am Mühlbach zu sein. Also habe ich Kerbel mitgebracht, der kann uns helfen!“ Kerbel lachte und seine gelbbraunen Zähne, von denen sich nur noch jeder zweite in seinem Mund befand, schimmerten fahl hervor. Sein Blick glitt auf den nackten Mann vor ihm und dann zu Emma. „Na! Hat er ein ordentliches Gehänge im Schritt?“, polterte er respektlos.

„Halt dein Schandmaul!“, zischte Emma ihn empört an und stand sogleich auf. Sie hatte Kerbel schon immer als Rüpel empfunden, der so sensibel schien wie der mächtige Amboss in Alberts Schmiede. „Du sollst uns helfen, den Fremden wieder aufs Bett zu hieven. Deine Kommentare kannst du dir sparen oder nachher den Kühen erzählen!“ Kerbel trat anzüglich grinsend näher und tat, weshalb man ihn gerufen hatte. Emma ging beiseite und nahm Klara zur Hand. Der Knecht, eine hünenhafte Erscheinung, schien kein Problem zu haben, den leblosen Körper umzudrehen. Er packte den linken Arm, zog den Mann an sich heran, wuchtete ihn auf seine Schulter und übergab ihn kurz darauf wieder seinem Lager.

„Von hinten riecht er schon wesentlich besser als von vorne!“, konnte er sich nicht verkneifen. Doch dann bedeckte er geistesgegenwärtig – oder als habe er etwas seiner Herrin zuliebe gut zu machen – sofort das Geschlechtsteil des Fremden mit der Decke. Emma dankte ihm mit einem strengen Kopfnicken und bat ihn wieder zu gehen.

Klara verschwand und holte noch mehr Lappen, während Hannah in der Küche einen weiteren Topf mit Wasser und Kräutern aufsetzte. Emma sah sich derweil die geschundene Vorderseite an. Der provisorische Verband von gestern war blutgetränkt. Wahrscheinlich hatte sich nach dem Sturz aus dem Bett die Wunde erneut geöffnet. Vorsichtig löste Emma die Bandage. Allerdings wollte sie mit dem kompletten Abziehen des Tuchs warten, bis Klara ihr die frischen Lappen gebracht hatte.

Der Fremde lag völlig regungslos da. Sein Atem ging schwer, was sich im unrhythmischen Auf und Ab seines Brustkorbs widerspiegelte. Beide Augenlider zuckten unkontrolliert, ohne sich jedoch zu öffnen. Auch Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand schienen von kontrollierten Impulsen seiner Nervenstränge gesteuert. Als Versuch, ihn ein wenig zu beruhigen, legte Emma ihm ihre Hand auf seine. Doch sehr schnell erkannte sie, dass er dies nicht wirklich wahrzunehmen schien, denn weder das Augenflattern noch die unbewusst gesteuerten Zitterbewegungen ließen nach.

Eindringlich betrachtete sie seine Gesichtszüge. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, doch irgendwie stieg in ihr ein Gefühl auf, das ihr sagte, dass sie in das Antlitz eines guten Menschen sah. Zumindest erhoffte sie es sich so sehr, denn ansonsten konnte es für sie alle gefährlich werden. Nicht auszumalen, wenn es sich doch um einen Verbrecher handelt, der eines Nachts unbeobachtet erwacht und uns allen den Garaus macht!

Die Nase des Fremden war sehr markant – nicht gerade klein. Eigentlich ragte sie senkrecht aus dem Gestrüpp eines ungepflegten, graumelierten Bartes hervor. Dieser schien seit geraumer Zeit ziemlich unkontrolliert zu wuchern. So war auch der Mund kaum noch zu erkennen. Vom Kinn bis zum Ende des Bartes maß dieser bestimmt eine ganze Elle. Sie fragte sich, welche Augenfarbe der Mann wohl hatte? Wann würde er das erste Mal seine Lider öffnen? Würde er sie überhaupt noch einmal öffnen? Sein Gesicht erschien unnatürlich gebräunt. So braun wie der Mohrenkönig in der Weihnachtsgeschichte!, dachte Emma. Vielleicht kommt er aus dieser seltsamen Sandregion, in der die Sonne niemals untergeht? Antonius hatte ihr irgendwann einmal von einer solchen Gegend erzählt.

Nun ja, dachte Emma, als sie den Fremden erneut betrachtete, so ganz aus der Wüste scheint er ja nun doch nicht zu kommen, schließlich sind nur sein Gesicht und eine seiner Hände von der Sonne gegerbt worden. Alles andere scheint doch relativ normal und unter der Dreckschicht weiß zu sein! Gerade hob sie die Leinen ein wenig an, die Kerbel dem Mann um die Hüfte gelegt hatte, als Klara mit den frischen Tüchern ins Zimmer trat. Sie grinste, verkniff sich aber eine Äußerung. Auch Emma, der die Schamesröte zwei rosige Wangen malte, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und blieb ihr jeglichen Kommentar schuldig.

Als nun auch Hannah mit einem dampfenden Kessel in der Hand zurückkam, konnte der zweite Teil der Waschung beginnen. Klara machte sich sofort wieder an den Füßen zu schaffen, wenngleich ihr die hornigen Fußsohlen lieber gewesen waren als die schwarzen und schon zum Teil ins Fleisch eingewachsenen Fußnägel. „Die müssen wir schneiden, Klara!“, erklärte Emma und beauftragte Hannah damit, das kleine scharfe Messer zu holen, mit dem sie auch ihrem Ehemann die Fußnägel zu stutzen pflegte. Hannah verschwand und ließ sich Zeit, schließlich hatte sie überhaupt keine Lust, ebenfalls Hand an dieses vor sich hin stinkende Wesen anzulegen.

Das frische, heiße Kräuterwasser, das Hannah ganz nach dem vorigen Muster ihrer Mutter gekocht hatte, verströmte erneut einen belebenden Duft im ganzen Raum. Emma tauchte den Lappen hinein und wusch die zum Teil blutund dreckverkrusteten Stellen. Im Vergleich zum dichten Bartwuchs wies der Rest des Körpers eine relativ spärliche Behaarung auf. Irgendwie kam ihr der Mann dadurch noch nackter vor, denn sowohl ihr Gatte als auch ihre Söhne waren mit einer kräftigen, dunklen Körperbehaarung überzogen.

Nachdem die Grundreinigung des Oberkörpers erledigt war, musste nun – bevor sie sich um die Wunde kümmern wollte – auch die Leistengegend gereinigt werden. Also bat sie die Mädchen, kurz den Raum zu verlassen. Klara protestierte, doch Emma ließ sich nicht überreden. Wahrscheinlich war es ihr viel peinlicher als den Kindern, wobei Hannah auch keine Anstalten machte, unbedingt zuschauen zu wollen.

Die Kinder verließen den kleinen Raum. Emma war nun mit dem Fremden alleine. Sie wollte keine Zeit verlieren und machte sich sofort an die Arbeit. Zunächst zog sie das von Kerbel provisorisch über das Becken des Fremden gelegte Tuch beiseite. Als sie an den dunklen Leisten sah, dass dort wohl schon lange kein Wasser mehr hingekommen war, legte sie ohne weiter zu überlegen los. Und siehe da, der stechende Geruch von Schweiß, Urin und so weiter, war alsbald dem Duft von Rosmarin und Fichtennadeln gewichen.

Geschafft!, dachte sie gerade, als sie sah, dass sich in den Leisten des Fremden Leben rührte und sein Gemächt in wenigen Augenblicken fast auf die doppelte Größe anschwoll. Emmas Kopf wurde heiß und sie hörte ihr Herz pochen. Hoffentlich kommt jetzt niemand rein und ertappt mich in dieser peinlichen Situation! Sie wusste, sie musste handeln. Aber wie? Genau in dem Moment klopfte Klara an die Tür. Reflexartig zog sie die Decke über das Gemächt des Mannes.

„Einen kleinen Moment noch, mein Kind!“, rief sie ihr zu, ohne zu wissen, wie sie das Leinenzelt, das sich nun vor ihr aufgespannt hatte, zum Einknicken bringen konnte. Sie konnte doch nicht das tun, was sie bei Arthur zu tun pflegte, wenn dessen Männlichkeit danach verlangte. Oder doch? Nein! Was kann ich tun? Gibt es da noch einen anderen Weg? Dann fiel ihr Augenmerk auf die schreckliche Wunde, die Albert gestern mit der glühenden Stange ausgebrannt hatte und um die sie sich gleich kümmern wollte. Randteile des Leinens waren in der Nacht durchgenässt und anschließend getrocknet. In der Mitte leuchtete frisches Blut, das nun langsam ob des Sturzes aus dem Bett die Wundabdeckung tränkte. Plötzlich wusste sie, was sie tun konnte. Vorsichtig nahm sie ein loses Ende des Verbands zwischen Daumen und Zeigefinger und riss mit einem kräftigen Ruck das Tuch von der Wunde. Sie erwartete, sofern sich der Fremde in einem halbwachen Zustand befände – was sie aufgrund seiner Erregung annahm –, dass dieser spätestens jetzt laut vor Schmerz aufschreien müsste. Doch es tat sich nichts – außer, dass das kleine Zelt im Schoß tatsächlich ganz schnell in sich zusammenfiel.

Das verschmorte Fleisch sah wenig appetitlich aus. Zunächst vergewisserte sich Emma, ob Alberts Brachialmethode auch wirklich sämtliches Leben ausgelöscht hatte. Zufrieden tauchte sie nun ein frisches Stück Stoff ins Wasser und entfernte anschließend die lose Kruste und Wundflüssigkeiten. Die Wunde war tief, doch durch das Ausbluten wirkte sie weniger unheimlich und ekelerregend als gestern. Das Blut lief noch in kleinen Rinnsalen am gereinigten Bauchnabel vorbei, hinab Richtung Bett. Zum Glück gelang es Emma rechtzeitig, es vor dem Auftreffen auf dem Laken wegzuwischen. Schließlich sollte der Fremde, sofern er hoffentlich bald erwachte, sich auf einem frischen Lager wiederfinden und sofort erkennen, dass man ihm gut gesonnen war. Egal, ob es sich dann bei ihm um einen Heiligen oder einen Sünder handelte, vielleicht würde er Gnade walten lassen und ihnen nichts antun.

Die Kinder klopften erneut draußen an die Tür. Da Emma die Waschung so gut wie abgeschlossen hatte, öffnete sie und bat Hannah darum, erneut in den Keller zu gehen und ihr den grauen Steinpott zu holen, der unter der Holztreppe stand. Den nahm sie immer zur Hand, wenn es darum ging, eine offene Wunde zu behandeln. In diesem Pott befand sich eine selbst angesetzte Paste aus Schweinsfett und Ringelblumenextrakten. Ein altes Rezept, das noch von ihrer Großmutter stammte – wie auch das Steingut, das seit jener Zeit nie leer gemacht wurde. „Vermenge stets das neue Fett mit dem alten!“, hatte ihre Großmutter zu ihrer Mutter gesagt, die es wiederum ihrer Tochter auftrug. „So bist du gewiss, dass der Geist der Heilung auch in der neuen Salbe wirkt!“ Ob sie diesen Ratschlag auch schon von ihrer Mutter erhalten hatte oder ob sie selbst die Erfinderin der Ursalbe war, hatte Emma leider nie hinterfragt. Sie hielt sich an die Anweisung und die Salbe bewirkte ihre Wunder.

Emma wrang den Waschlappen ein letztes Mal aus und legte ihn zur Seite. Eindringlich besah sie sich den frisch gewaschenen Körper des Fremden und war zufrieden. Klara stand neben ihr und sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie den Balsam, den ihre Schwester aus dem Keller gebracht hatte, gleichmäßig an den Wundrändern verteilte. Zum Schluss schnappte Emma sich einen frischen Lappen, bestrich ihn mit der Salbe und drückte diesen mit ihrer flachen Hand leicht auf die Wunde. Plötzlich zuckte der Fremde. Emma zog reflexartig ihre Hand zurück und richtete sich gerade auf. Auch Klara hatte die Bewegung des Mannes mitbekommen und war zur Seite gesprungen.

Der Körper des Fremden krampfte erneut. Sein Kopf überstreckte sich zunächst nach hinten, um dann plötzlich nach vorne zu schnellen. „N-e-i-n!“, brüllte er heraus. Erschöpft sank er wieder zurück ins Bett. Plötzlich, seine Lider flackerten, entglitt seinen Lippen: „Agnes, ich liebe dich!“

Die drei Frauen schauten einander stumm an. Sie erkannten, dass dieser Mann – wer immer er auch sein mochte – kein Wilder war. Genauso schlossen sie aus der zwar nicht kontrollierten, aber sehr emotionalen Liebesbekundung zu einer Frau, dass der Mann vor ihnen mit Sicherheit kein Mönch war, aber wahrscheinlich ebenso wenig ein Verbrecher. Emma erhob sich langsam und legte ihre Arme um die Schultern ihrer Töchter. Der Kopf des Fremden neigte sich zur Seite und das gleichmäßige Atmen signalisierte ihnen, dass er wieder eingeschlafen war.

„Kommt Kinder, lasst uns gehen. Wir kümmern uns jetzt um das Wohl unserer Männer, sonst beschweren die sich, wenn nach getaner Arbeit nichts Essbares auf dem Tisch steht!“

Leise verließen sie die Kammer und schlossen vorsichtig die Tür.

Civitas A.D. 1200. Das Geheimnis der Rose

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