Читать книгу Civitas A.D. 1200. Das Geheimnis der Rose - Christof Wolf - Страница 21

LEXEMÜHLE

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Es war gegen Abend als Antonius mit Kruzi und Fix den Kieselweg erreichte, der zum Mühlenhof führte. Klara hatte sich bereits Gedanken gemacht und seit geraumer Zeit vor der Tür auf ihn gewartet. Für sie war es heute ein äußerst aufregender und spannender Tag gewesen, schließlich hatte sie ihrer Mutter geholfen, den geheimnisvollen fremden Mann zu versorgen. Und in ihren Augen war sie dadurch nicht mehr nur das kleine Mädchen, sondern sie hatte sich bei der Erledigung dieser Aufgabe, die sonst höchstens gestandenen Weibsbildern vorbehalten war, bewährt. Endlich schien sie auf dem richtigen Weg zu sein, der sie vom Mädchen zur Frau führen würde – und dann würde sie eines Tages ihren Lieblingsbruder heiraten.

Freudestrahlend lief sie daher Tonius entgegen und fiel ihm um den Hals.

„Tonius, schön, dass du wieder da bist! Ich habe dich schon so sehr vermisst!“ Antonius konnte sich dem Ansturm seiner kleinen Schwester kaum erwehren und ließ ihre fast erdrückende Umarmung einfach geschehen. Eigentlich war er noch ganz aufgekratzt von den Erlebnissen in der Schlucht und auf dem Näherschen Hof. Er konnte es kaum erwarten, seiner Familie davon zu erzählen. Aber vor allem bewegte ihn, dass es ihm gelungen war, die Aufmerksamkeit eines ganz besonderen Menschen zu erhaschen, nämlich die ‚seiner‘ Elisabeth. Erstmalig waren ihre Worte direkt an ihn gerichtet gewesen. Nun gut, seine erste Antwort konnte ihn nicht mit Ruhm bekleckern, aber es war ihm gelungen, sie anzusprechen und das war schon mehr, als er sich überhaupt erträumt hatte. Seit seiner Verabschiedung kreisten seine Gedanken permanent um ihre smaragdfarbenen Augen. Um ihre kirschroten und sicherlich süß schmeckenden Lippen. Um ihre sanfte Stimme, die der eines Engels glich – wenngleich er noch nie einen Engel hatte sprechen hören.

„Mensch, Flocke, du erwürgst mich noch!“ Tonius drückte seiner kleinen Schwester einen Kuss auf die Stirn und hoffte, sich bald aus ihren Fängen befreien zu können. Doch sie begann sogleich und ohne ihn auch nur ein wenig freizugeben, von ihrem Tagesgeschehen zu erzählen. Davon, wie der Fremde bäuchlings auf dem Kammerboden gelegen und wie sie ihm die schrecklich verdreckten Füße gereinigt hatte. Antonius wusste, da musste er nun durch. Beide waren unzertrennlich.

Bis vor wenigen Jahren spielten sie den ganzen Tag miteinander, halfen einander, die Kühe und Ziegen zu melken, oder machten sich gemeinsam auf, um im Kirchhölzchen Holz für Emmas Feuerstelle zu sammeln. Auch äußerlich ähnelten sie sich. Während Albert mit seiner hünenhaften Erscheinung eher seinem Vater in jungen Jahren nachschlug, glichen Klara und Antonius, ob ihrer zarten Natur, eher ihrer Mutter. Wenngleich auch Antonius gut und gerne vier Ellen maß. Sein Körper kam aber weniger massig daher und seine Arme und Beine ließen sich eher als drahtig und muskulös bezeichnen.

Die weiß glänzende Sonnenscheibe verschwand hinter dem Ziegenberg. Klara ließ ihren Bruder los und trat zurück. „Und wie war dein Tag so?“, schob sie nach und nahm ihm Fix’ Zügel ab. Antonius grinste und schwieg, schließlich wollte er den Ablauf seines aufregenden Tages beim Abendbrot im Kreise der Familie in allen Einzelheiten schildern. Als sie den Stall erreichten, trat Arthur auf den Hof heraus und sah seinen Sohn streng an.

„Wo warst du denn so lange? Hast hoffentlich nicht getrödelt oder wieder mit dem geschwätzigen Gregor herumgesponnen?“ Antonius wusste, dass sein Vater es nicht gerne sah, wenn er mit Gregor über die große weite Welt sprach und, was nicht selten vorkam, dabei die Zeit vergaß. Gleichwohl nahm Arthur – und das wusste sein Sohn auch – es ihm nicht lange übel. Denn kaum saßen sie beim gemeinsamen Mahl, gab dessen Neugier nicht eher Ruhe, bis dieser detailliert alle Neuigkeiten berichtet hatte.

„Vater, ich habe heute sehr viel erlebt und werde Euch gleich davon berichten. Zunächst aber helfe ich Euch, die Säcke hinab zum Mühlstein zu bringen!“ Antonius sonnte sich im erwartungsvollen Blick seines Vaters und erkannte, dass dieser sich fast auf die Zunge beißen musste, um nicht schon vorab nachzufragen, welchen Abenteuern sein Sohn heute hatte standhalten müssen. Albert trat, vor Schweiß triefend, aus seiner Schmiede heraus, um ebenfalls die Neuigkeiten seines Bruders zu erfahren. Aber auch er wurde bis zum Abendbrot vertröstet. Gemeinsam schleppten sie die acht schweren Getreidesäcke, die Antonius vom Näherschen Hof mitgebracht hatte, in den Keller zum Mühlstein. Den ersten öffnete Albert sogleich und prüfte mit seiner rechten Hand das Mahlgut. „Roggen von bester Qualität!“, konstatierte er seinem Vater. Dann hielt er das offene Ende mit der linken Hand zu und stemmte den fast einen Zentner schweren Sack mit Leichtigkeit in die Luft. Wenn es die anderen nicht besser wüssten, sie hätten glauben können, es würden sich lediglich Gänsedaunen darin befinden. Vorsichtig trat er auf die Holztreppe und führte die Öffnung zum großen Holztrichter, in den gut und gerne zwei bis drei Sack gleichzeitig eingefüllt werden konnten. Er löste seine Hand und ließ die Getreidekörner einfließen. „Kein Vergleich mit dem Zeug, das Ignazius heute geliefert hat. Der würde sich freuen, wenn auch er einmal ein Korn vergleichbarer Güte bringen könnte!“ Arthur stimmte seinem Sohn zu, setzte aber nach: „Wir müssen froh sein, dass der gute Ignazius uns überhaupt so reichlich bedenkt. Angesichts der neuen Mühle, die am unteren Ende des Holzbaches entsteht, ist das keine Selbstverständlichkeit mehr. Außerdem zahlt er einen Malter, mit dem wir schon ganz gut leben können!“

„Nun ja, unsere Mutter kocht halt den schmackhaftesten Gerstensaft und backt auch das beste Brot“, antwortete Albert.

„Und dein Schinkenspeck, Vater, ist auch nicht von der Hand zu weisen“, schob Antonius nach. Alle lachten und Arthur setzte das massive Mühlrad in Gang, indem er an dem eisernen Hebel zog, der in der Nähe des Trichters von der Decke herabhing, und so die Verbindung zum Wasserrad herstellte. Es wurde laut. Ohne auf ein weiteres Wort seines Vaters warten zu müssen, schnappte Albert sich einen weiteren Sack und führte den Inhalt dem Mühlstein zu. Nach dem Abendbrot würde er noch einmal in den Kellerraum hinabgehen und zwei weitere Säcke mahlen. „Die restlichen vier können dann morgen in der Früh durchlaufen“, meinte Arthur und hob sich einen der prallgefüllten Säcke auf die Schulter, die bereits zum Abtransport in der Ecke standen. Eine dichte weiße Staubwolke hüllte sein Gesicht ein – und die beiden Jungs lachten. Der Sack enthielt bereits das feine Mehl, das Ignazius morgen wieder abholen würde. Natürlich nicht, ohne sich zuvor an Emmas Leckereien zu laben. Aber gleichzeitig – und da hatte Arthur Recht – würde Ignazius seine Mahlschulden begleichen und neue Säcke abliefern.

Wie jeden Abend stellten die Mädchen auch heute den Männern jeweils einen Eimer mit frischem Wasser aus dem Holzbach vors Haus. Diese Tradition war von Emma geschaffen worden. Sie hasste es, wenn sich ihre Burschen mit dem Dreck des Tages an den Tisch setzten und schlimmer stanken als die Schweine in ihrem Stall. Also blieb den Herren des Hauses nichts anderes übrig, wollten sie ein harmonisches Abendessen genießen, als sich zuvor gründlich zu reinigen. Dabei spielten die Töchter des Hauses sehr gerne die Rolle der Gouvernanten und wiesen das starke Geschlecht durch einen Piek mit dem Zeigefinger auf die Stellen hin, die durchaus noch einen Spritzer Wasser vertragen konnten. Emma kam es nicht nur auf die Sauberkeit vor oder beim Essen an, viel wichtiger war ihr die Reinlichkeit vor dem allabendlichen Gebet. Schließlich war diese Mahlzeit – abgesehen von heute morgen – so ziemlich die einzige, die sie, eines Rituals gleich, wirklich alle gemeinsam einnahmen.

In der Regel stand Arthur sehr zeitig auf, fast noch mitten in der Nacht, und kümmerte sich um das Mahlgut. Albert folgte ihm als nächster. Seine Aufgabe bestand darin, die Tiere zu füttern, während die Knechte das Ausmisten und Melken übernahmen. Bevor Albert jedoch seinen Dienst antrat, schnitt er sich stets einen Ranken von Emmas riesigen Brotlaiben und schmierte etwas Griebenschmalz aus dem graublauen Topf in der Küche darauf. Dann nahm er einen kräftigen Schluck Apfelmost oder Gerstensaft, der täglich frisch im eisernen Kessel gekocht wurde, und hockte sich für einen Moment an die Feuerstelle, die seine Mutter stets am Glimmen hielt. Er hatte die Einstellung, dass es ihm als Mensch zustand, vor den Tieren zu essen. Anschließend nahm er sich einen glimmenden Holzstab aus dem Küchenfeuer und begab sich in seine Schmiede. Dort nahm er dann stets ein wenig Zunder aus einem Lederbeutel, der an der Decke hing, und entzündete die Flammen. Die Schmiede war der Ort, an dem er sich am wohlsten fühlte, und Feuer schien sein Element zu sein.

Mittlerweile hatten sich seine Schmiedekünste herumgesprochen und die Zahl seiner Aufträge nahm stetig zu. Entweder stammten sie von den Handwerkern des Ortes oder von Ignazius, der seit Alberts Meisterstück vollauf von dem jungen Lexemüller begeistert war. So zierte seit dem letzten Winter ein Kreuz den zentralen Altar in der Mitte der Klosterkirche von Sankt Severus. Emma war äußerst stolz auf ihren Sohn gewesen, als dieser ihr das vier Ellen hohe und anderthalb Ellen breite Kruzifix zeigte, bevor er es dem Cellerar selbstbewusst aushändigte. Überzeugt von der Arbeit des Schmiedes erteilte dieser ihm nun regelmäßig Aufträge: Zierhaken für die Garderobe des Abts, Werkzeug für die Gartenarbeit, Türscharniere, die es auszutauschen galt, Vorhängeschlösser von Truhen. Zuletzt beauftragte Ignazius ihn mit der Erstellung von kleinen Kruzifixen, die dem großen Altarkreuz ähneln müssten, aber künftig die kleinen Holzkreuze, die die Mönche um den Hals trugen, ersetzen sollten. Doch als weiteren Großauftrag erhielt Albert die Order, im nächsten Jahr den Turm der Sankt Severus Kirche mit einem neuen, mindestens acht und drei Ellen großen Kreuz zu verzieren. So ehrte Albert das Vertrauen, das Ignazius in ihn steckte; und so ließen sich auch die Verköstigungen, die er im Gegenzug für sich beanspruchte, gut und gerne verkraften.

Emma hatte bereits flache Holzscheiben und fein geschnitzte Becher auf den massiven Eichentisch gestellt, den sie zuvor stets von einer Magd blitzblank reiben ließ. Zur Ausleuchtung des Raumes verwendete sie zwei Talg-Honigkerzen, die sie gemeinsam mit den Mädchen in den Wintermonaten in großer Zahl gezogen hatte. Nach dem großen Schlachten der Schweine in der kalten Zeit, blieb immer genug Fett übrig, aus dem sie unter Beimischen von Wabenwachs der wilden Bienen wunderbare Kerzen herstellte. Sie verströmten einen angenehmen Duft und konnten den penetranten Geruch und Qualm der Feuerstelle fast übertünchen. Tonkrüge mit Apfelmost und mit süßlich, deftigem Gerstensaft standen in der Mitte des Tischs. Nachdem die Männer frisch gewaschen eingetreten waren und alle Platz genommen hatten, gab Emma ihrem Mann ein Zeichen, dass sich sämtliche Gaben des Tages auf dem Tisch befanden. Wortlos senkte dieser seinen Kopf, die anderen taten es ihm nach, und er begann mit dem Abendgebet. Dieses fiel je nach Hunger des Vorbetenden mal kürzer und mal länger aus. Und da der Tisch heute üppig ausgestattet war, sogar die Keule einer Wildente befand sich darauf, die Arthur besonders gerne mochte, schloss er das Gebet sehr zeitig. Sogleich griff er nach der Keule und schnitt seinen Söhnen ein großzügiges Stück heraus.

„So, nun leg schon los, mein Sohn!“, forderte Arthur seinen jüngeren Sohn schmatzend auf. Und wie wenn man einen Stein aus dem Damm eines gestauten Baches wegnahm, so begannen Antonius’ Worte förmlich herauszusprudeln. Er erzählte, wie er in der Schlucht nach Spuren des Reiters gesucht und schließlich die Sturzstelle in der Nähe des Steinbruchs gefunden hatte. Wie er den Bach entlang gewatet und plötzlich auf das glänzende Schwert gestoßen war. „Ich hole es gleich herein. Aber lasst mich erst noch die ganze Geschichte berichten!“ Er sah Albert lächelnd an und wusste, dass dieser schon danach schmachtete. „Also steckte ich das Schwert wieder in die Scheide und wickelte ein Sackleinentuch darum. Ich verstaute es zwischen den beiden Säcken, die von Kruzis rechter Seite hingen. Gerade hatte ich mich wieder auf den Weg gemacht, kamen mir plötzlich drei dunkle Reiter entgegen. Ihre Pferde sahen edel aus, doch die Kerle, die darauf saßen, flößten mir ein wenig Angst ein. Sie waren in schwarze Gewänder gehüllt und trugen eine Art Kapuze. Somit konnte ich ihre Gesichter nicht erkennen. Sie trabten ziemlich schnell über den Pfad, auf dem auch ich mich gerade wieder befand. Unfreundlich fuhren sie mich an, ich solle mit meinen Ackergäulen Platz machen. Ich hatte Angst, dass sie mich samt Kruzi und Fix vom Weg drängen würden. Unverschämte Kerle allesamt!

Ansonsten ließen sie mich in Ruhe und verschwanden bald hinter der nächsten Kehre. Ich nahm die Tiere wieder an den Zügeln und machte mich auf den Weg zum Näherschen Hof; natürlich hatte ich einiges an Zeit verloren. Aber der alte Näher war hocherfreut, schließlich hatte er mich ja heute überhaupt nicht erwartet. So konnte er das Mehl einem Händler aus Sigena verkaufen. Gregor und ich mussten die Säcke sogleich auf den Wagen des Reisenden umladen, der sich daraufhin sofort auf den Weg machte. Nachdem er nicht mehr zu sehen war, drückte Dagoberth Näher mir tatsächlich eine kleine silbrige Münze in die Hand!“ Triumphierend griff Antonius in seinen Reibert, seine Hosentasche, und präsentierte den anderen seinen Lohn. „Anschließend versorgten wir die Pferde und gaben ihnen ihr gewohntes Futter. Gregor fragte mich …“

„Wie geht es denn dem Gregor so?“, warf Martha ein. Nach dessen einmaligem Besuch auf der Lexemühle kam Martha zu der Erkenntnis, dass ihr der Knecht vom Näherschen Hof sehr gut gefiel. Ihre Wangen erröteten, was den anderen im schwach ausgeleuchteten Raum jedoch nicht auffiel.

„Gut geht es ihm. Er fragt immer nach Euch, Tante Martha! Vielleicht solltet Ihr mich einmal begleiten und Euch mit ihm treffen!“

„Gott, Junge, welche Gedanken jagen dir da durch dein wirres Haupt!“ Antonius musste grinsen, wusste er doch, dass es Marthas Pflicht war, vor den anderen so zu reagieren.

„So, nun lass mal den Jungen erzählen, Martha!“, sprang Arthur dazwischen, da er kaum noch abwarten konnte zu hören, was sein Sohn sonst noch zu erzählen hatte.

„Gut. Gregor fragte mich sogleich, ob mir die drei Reiter begegnet seien. Sie hätten ihn nach einem Mann befragt. Als er sich erkundigt habe, weshalb die drei ihn verfolgten, hätte einer der Kapuzenträger ihn angefahren, das ginge ihnen einen feuchten Kehricht an. ‚Äußerst unangenehme Leute‘, sagte Gregor. Mit denen sei bestimmt nicht gut Kirschen essen. Deshalb hätte er ihnen auch den klapprigen Kerl auf dem edlen Pferd verschwiegen, der Tags zuvor auf dem Hof aufgekreuzt war und höflich fragte, wie er nach Westerborg käme. ‚Gott behüte Euch!‘, hätte der Fremde ihm zugerufen, nachdem er ihm den Pfad durch die Schlucht empfohlen hatte. Deshalb könne er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass dieser Mann etwas Schlechtes im Schilde führen könnte. Das beruhigte mich! Ich denke daher, dass es sich bei dem Mann in der Kammer nicht unbedingt um einen Unmenschen handelt!“ Emma, die mittlerweile zum selben Schluss gekommen war, nickte deutlich, ohne aber ihren Blick vom Essen zu nehmen.

„Also, ich bin dann mit Gregor, weil ich ihm vertraue, in die große Scheune gegangen. Dort holte ich das längliche Leinenpäckchen hervor, das ich seit dem Abladen der Pferde auf meinem Rücken trug. Gregor war es gar nicht aufgefallen. Ich legte das Paket vor uns auf die Erde. Vorsichtig löste ich die Kordel. ‚Hast du da nen Ochsenschwanz eingewickelt?‘, fragte er mich. ‚Willst den bestimmt an ’nen Händler verschachern, was? Oder soll unsere Mamsell Bertha daraus ne Brühe machen?‘ Ich lachte kurz auf und amüsierte mich über Gregors Fantasie. Mit meinem Zeigefinger am Mund signalisierte ich ihm, er solle seine Stimme senken und sich neben mich knien. Ich löste den Leinenstoff. Zunächst kam das Ende des Griffs zum Vorschein, das aussah wie eine Rose. ‚Heilige Mutter Gottes!‘, entfuhr es dem staunenden Knecht und er bekreuzigte sich hastig. Ich wickelte das gute Stück aus, nahm das Heft in die rechte Hand, hob die Scheide mit der Linken und zog die Klinge ganz langsam heraus. Vom Boden aus führte ich sie haarscharf an Gregors Nase vorbei in die Höhe. Dieser staunte nicht schlecht, bekreuzigte sich noch einmal und ließ ein ‚Kruzifix noch mal!‘ aus seinem Mund entweichen. Langsam senkte ich das Schwert und zeigte ihm durch ein Öffnen meiner Faust, wie ausgewogen diese Waffe geschmiedet war und wie leicht sie in meiner Hand lag. Dann reichte ich sie Gregor, der sich zunächst nicht traute, seine Finger um den kreuzförmigen Griff zu legen. Doch dann tat er es und sogleich schien ihn die Magie der Waffe zu erfassen. Als er begann, das gute Stück zu schwingen, bekamen seine Augen einen seltsamen Ausdruck und es bedurfte einiger Ansprachen, um ihn wieder aus seinem kampftrunkenen Zustand zurückzuholen. Und das gelang mir erst, als er bereits mit der Klingenspitze voll auf meinen Kehlkopf zuhielt. Ich erschrak und Gregor nicht minder. ‚Verzeih mir!‘, bat er mich und schüttelte seinen Kopf. ‚Es muss an diesem Schwert liegen. Wahrscheinlich will es seinen Träger in die Schlacht führen!‘ Ich konnte ihm nur beipflichten und erzählte ihm von der Kampfeslust, die mich ebenfalls übermannt hatte, als ich es im Holzbach fand!“

Antonius beschrieb noch einmal sein Empfinden, als er das Schwert erstmalig in die Hand genommen hatte. Wie er damit herumgefuchtelt und geschrien hatte: „Ich bin der Herr der Furche!“ Alle um ihn herum begannen laut aufzulachen. Nur Arthur schaute traurig drein, da er dadurch wieder an sein Butterstück erinnert wurde. Sein Sohn bemerkte den Stimmungswandel und überlegte, wie er es anstellen konnte, ihn abzulenken. Zunächst beschrieb Antonius noch einmal ganz genau das Aussehen des Schwertes und ignorierte Alberts Einwurf, er möge endlich das Ding holen und es ihnen zeigen. „Am Ende geht der Klingenschutz in einen Löwenkopf über. Und in dessen Maul steckt ein edler Stein – vielleicht ist es gar ein Diamant!“

„Diamant?“, fragte Klara aufgeregt nach. „So wie ihn Ignazius als Ring trägt? Der ist sehr schön. Er hat mir gezeigt, wie der funkeln kann, wenn man ihn ins Sonnenlicht hält!“ Emma lächelte. Sie freute sich darüber, mit welcher Begeisterung ihre Kleine stets bei der Sache war. Ob ein Hornknopf irgendwo anzunähen war oder eine Kuh kalbte. Selbst beim Aussähen von Flachssamen im Frühjahr oder im Herbst bei der Ernte mit der Breche stand Klara in erster Reihe. Mit stoischer Genügsamkeit löste sie mit der Schwinge die Hechel. Selbst beim Spinnen mit der Spindel ging sie Emma immer ohne Murren zur Hand und haspelte die Fäden zu ordentlichen Strängen.

„Ja, Klara, der Funkelstein ist so ähnlich wie der von Ignazius, aber mindestens doppelt, wenn nicht gar dreimal so groß!“ Alle staunten mit aufgerissenen Mündern, schließlich kannten sie den Klunker, den Ignazius trug.

„Aber abgesehen von der Macht, die ihm innezuwohnen scheint, hat das Schwert ein weiteres Geheimnis!“ Das waren die richtigen Worte, nun konnte er auch die Aufmerksamkeit seines Vaters wieder erhaschen. „Dieses liegt nicht im grünlichen Stein, sondern im Sonnenlicht!“ Er sonnte sich an dem offenkundigen Interesse seiner Zuhörerschaft und begann schließlich zu erklären, was es mit dem Geheimnis auf sich hatte und wie er darauf gestoßen war. Die Münder blieben offen. Die Augen wurden aufgerissen. Den Flammen der Kerzen auf dem Tisch, gelang es, sich wieder aufzurichten. Stille. Nur das Prasseln des Feuers in der Feuerstelle war zu vernehmen. Antonius legte bewusst eine Pause ein.

„Nun spann uns nicht so auf die Folter, was stand denn auf der Klinge?“, hakte sein Vater nach, während sein jüngster Sohn lediglich die Schultern hob. Auch Albert schaute seinen Bruder fragend an. „Ich weiß es nicht, oder kannst du etwa lesen?“ Natürlich war keiner in der Familie des Lesens mächtig. Gut, Hannah und Klara kannten das ein oder andere Zeichen, das sie vom Klosterverwalter aufgeschnappt hatten, als dieser ihnen zum Beispiel die Zehn Gebote auf den Küchentisch gekritzelt hatte. Und auch Antonius war es gelungen, einige Buchstaben zu erkennen. Aber sie richtig zu Worten zusammenzufügen, dazu war er nicht in der Lage. Und da alle wussten, dass auch Gregor nicht lesen und schreiben konnte, verzog nahezu die gesamte Familie synchron das Gesicht.

„Schade!“, meldete sich Hannah, die sich bis dahin äußerst schweigsam gezeigt hatte. „Jetzt wissen wir zwar, wie das Rätsel des Schwertes aufgedeckt wird, aber können mit den Zeichen überhaupt nichts anfangen!“

„Dann müssen wir halt warten, bis der Fremde aufwacht und uns verrät, was auf der Klinge steht!“, schob Martha nach. Die anderen stimmten ihr kopfnickend zu.

„Na, ich gehe dann trotzdem mal und hole das gute Stück!“, sagte Antonius, sprang auf und verschwand mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht, denn er hatte ja noch nicht erwähnt, dass er jemanden getroffen hatte, der ihm die Lösung auf ein kleines Stück Stoff notiert hatte. Emma und die Mädchen räumten derweil ein paar Sachen vom Tisch und gossen den Männern einen ordentlichen Schluck Gerstensaft in die Holzbecher nach.

Antonius kehrte zurück und hielt seinen Fund verdeckt hinter seinem Rücken. Über seine linke Schulter blickend, konnten die anderen das Griffende erspähen. Mit Schwung holte er das Schwert, das in der Scheide steckte, hervor und präsentierte es als erstes seinem Vater. Arthur packte mit seiner linken Hand die Klingenhülle, während seine Rechte das Heft ergriff. Mit einem kräftigen Ruck zog er es heraus und verschätzte sich ein wenig in der Gewichtverteilung, weshalb er die Schwertspitze in die Holzdecke rammte, wo es tatsächlich steckenblieb. Alles lachte. Arthur löste es heraus und hielt die Klinge nach unten. Auch er fühlte sogleich ein gewisses Selbstbewusstsein in sich aufkeimen, das er so noch nicht empfunden hatte. Zwar genoss er ohnehin, als Familienoberhaupt und Herr über zahlreiche Bedienstete, eine gewisse Autorität, doch diese Waffe in der Hand bereitete ihm ein bis dato nie gespürtes Machtgefühl. Seine Augen begannen zu glänzen. Doch dann überkam ihn die Realität, als seine jüngste Tochter ihn bat: „Vater, legt das Schwert doch auf den Tisch! Wir alle wollen die Zeichen sehen!“ Erschrocken bemerkte Arthur, dass er für einen Moment wie weggetreten gewesen war, und legte die Waffe fast im Affekt auf den Tisch. Alle scharten sich darum und betrachteten sie zunächst mit gewissem Abstand. Zögerlich kamen die Finger näher und die ersten Abdrücke zierten die ansonsten blitzblanke Klinge.

„Wo ist denn jetzt die Schrift? Ich kann nichts erkennen!“ Klara wollte es genau wissen. Albert wagte es, den Griff in die Hand zu nehmen. Langsam hob er das Schwert an. „Versuche einmal, direktes Kerzenlicht auf die Klinge fallen zu lassen“, forderte Antonius seinen Bruder auf. „Vielleicht reicht das ja aus, um die Zeichen sichtbar zu machen!“ Albert hob das Schwert an und drehte es – unter diversen Anweisungen der Anwesenden – in verschiedene Richtungen. Doch das aufgeregte Tanzen der Kerzenflammen schien ein Sichtbarmachen der Zeichen zu verhindern. Plötzlich, er wollte schon aufgeben, gelang es ihm tatsächlich, einen Strahl einzufangen. Und siehe da, Antonius sollte Recht behalten. Wie von Geisterhand hergezaubert schimmerte ihnen eine lange Reihe mit den unterschiedlichsten Zeichen entgegen. „Kruzifix noch mal!“, rief Arthur, während Emma sich bekreuzigte.

„Wie Gregor. Der hat sich gleich zweimal bekreuzigt.“ Antonius grinste.

„Und wie erfahren wir jetzt, was da geschrieben steht?“ Klara wurde ungeduldig und versuchte sich selbst, indem sie Albert bat, das Schwert möglichst ruhig zu halten: „P…a…u – Paulus vielleicht. So heißt bestimmt der fremde Mann in der Kammer. Vorher hieß er Saulus. Dann wurde er gläubig und nannte sich fortan Paulus. So hat Ignazius uns die Geschichte erzählt!“

„Nein, Klara. Schaue, da steht noch einmal dasselbe Zeichen – P…a…u…p“, korrigierte Hannah, die ebenfalls bei Ignazius Acht gegeben und sich einige Zeichen gemerkt hatte.

„Nicht schlecht, meine Schwestern! Aber vielleicht kann ich euch helfen“, unterbrach Antonius, „denn auch mir wurde geholfen.“ Ungläubige Augenpaare richteten sich auf ihn, als er aus seiner Jackentasche ein Tüchlein zog. „Setzt euch alle. Ich werde euch verraten, wie sich alles ereignet hat.“ Sie ließen sich nieder und stellten das Reden ein. Antonius setzte da an, wo er seine Ausführungen beendet hatte.

„Gregor schaute genauso ungläubig drein wie ihr! Nachdem er sich erneut zigmal bekreuzigt hatte, wollte auch er dem geheimnisvollen Schriftzug auf die Schliche kommen. Aber wie wir alle wissen, ist auch Gregor nicht des Lesens und Schreibens mächtig. Zunächst begann er die ersten Zeichen in den staubigen Scheunenboden nachzuzeichnen, doch als ich ihn darauf aufmerksam machte, dass seine Zeichen relativ wenig mit den Symbolen auf der Klinge zu tun hatten, gab er sein Vorhaben auf. ‚Kruzifix noch mal, das muss doch lösbar sein!‘, repetierte er immer und immer wieder. Dann überlegte er, wer uns helfen könnte. Das Risiko, das sicherlich wertvolle Schwert einem der Händler zu zeigen, wollten wir beide nicht eingehen. Auch Dagoberth Näher mochten wir es nicht vorlegen. Und dann, wie eine Fügung von oben, erschien sie vor dem Scheunentor und wollte nach ihrem Pferd sehen. ‚Das ist die Lösung‘, sagte Gregor und sprang sofort auf. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee sei, sie in unser Geheimnis einzuweihen, doch Gregor schob bereits das Tor auf und begrüßte sie!“

„Wer ist denn diese s-i-e?“, wollte Klara wissen, da sie ein seltsames Leuchten in Antonius’ Augen erkannt hatte. Eine deutliche Schamesröte färbte dessen Gesicht und gab ihm eine leicht unnatürliche Farbnuance. Er schluckte, da es ihm ein wenig peinlich war, wie schnell Klara ihn entlarvt hatte. Offensichtlich konnte er die gewünschte Gleichgültigkeit, die er in seine Worte hatte legen wollen, nicht anwenden. Von vornherein war ihm bewusst, dass Klara mit Sicherheit ein Problem mit der Existenz eines zweiten Mädchens in seinem Leben hätte. Er versuchte, seinen Bericht so neutral wie möglich zu beenden. „Sie ist Elisabeth, die Tochter der Nähers!“

„Ist sie hübscher als ich?“, schoss es sofort aus Klaras Mund.

„Klara, du bist mir doch die Liebste, das weißt du ganz genau!“

„Aber sie ist hübsch!“

„Kind, jetzt lass deinen Bruder fertig erzählen!“, kam Emma ihm zur Hilfe.

„Also, Elisabeth stand da und Gregor bat sie näherzutreten. Gregor und Elisabeth verstehen sich sehr gut. Er ist für sie wie ein älterer Bruder. Sie hat nur eine ältere Schwester. Und umgekehrt würde Gregor wahrscheinlich für seine Lissi sterben.“ Antonius hoffte, somit alle Fronten fürs Erste geglättet zu haben. „Gregor erzählte ihr von meinem Fund und dass alles geheim bleiben sollte. Insbesondere wegen diesen seltsamen und finster dreinschauenden Reitern, die nach dem Eigentümer des Schwertes fahndeten. Wer weiß schon, was sie mit diesem und denjenigen, die ihn beherbergen, alles anstellen würden. ‚Schwöre, mit niemandem über das Geheimnis zu reden – beim Leben von Furore!‘, forderte Gregor sie auf, da er wusste, ihr war nichts heiliger als ihre geliebte Stute, die sie selbst als Fohlen aufgezogen hatte. ‚Ich bin Elisabeth!‘, sagte sie dann zu mir und reichte mir ihr zarte Hand.“

Klara begann zu schmollen, während Antonius erneut zu strahlen begann. „ ‚Ich bin der Lexe-Antonius von der Mühle!‘, antwortete ich und nahm ihre Hand entgegen und versuchte, wie ich es bei den zahlreichen Handelsleuten auf dem Hof des Öfteren gesehen hatte, mich vor ihr zu verbeugen und meinen Mund ihrem Handrücken zu nähern. Zum Glück wusste ich von Gregor, dass man diesen nie mit den Lippen berührt und so richtete ich mich kurz vorher wieder auf. Gregor rollte die Augen ob meines förmlichen Getues. Doch mir war es wichtig, beim ersten Kontakt mit der jungen Hofherrin einen guten Eindruck zu hinterlassen …“ Klara rollte ebenfalls die Augen und formte lautlos seine Worte mit dem Mund nach. Dann erzählte Antonius, wie er Elisabeth vom Auffinden des Schwertes und den Reitern berichtet hatte.

* * *

Vorsichtig holte er die Waffe hervor, nachdem er sie zuvor, als er Elisabeths Schritte draußen hörte, schnell im Heuhaufen versteckt hatte. Auch Elisabeth war sofort vom prunkvollen Glanz beeindruckt und ließ sich das Schwert aushändigen. Ziemlich geschickt wirbelte sie die Klinge herum und führte sie wieder zielsicher in die gesenkte Ausgangsposition. Dann betrachtete sie den kunsthandwerklich gearbeiteten Griff, insbesondere aber den rosenförmigen Knauf.

„Das sieht aber schön aus! Ich habe schon des Öfteren Hiebwaffen gesehen, schließlich sind die Händler in der Regel bewaffnet.“ Ihr Augenmerk fiel nun auf die Enden des Klingenschutzes. „Aber so ein schönes Stück ist mir noch nie begegnet!“

Gregor bat sie, ihm das Schwert auszuhändigen, da er ihr ein Geheimnis zeigen wolle. Sie zögerte und gab den Griff nur ungern aus ihrer Hand. Auch sie schien die Kraft, die sich in dieser Waffe verbarg, gespürt zu haben. Doch das Wort Geheimnis ließ sie aufhorchen. Während der Knecht kurz berichtete, wem die Waffe gehörte und dass dieser Kerl nun schwerverletzt auf der Lexemühle weilte, suchte Antonius nach der Lücke im Scheunendach, durch die sich vorhin ein Sonnenstrahl verirrt hatte.

Sie mussten noch einen Moment warten, denn eine dicke grauweiße Wolke schien sich permanent vor der Sonne aufzuhalten und dachte nicht daran, sich zu verziehen. Stille kehrte ein. Antonius überlegte krampfhaft, was er zu Elisabeth sagen könnte. Immer wieder beobachtete er sie aus seinen Augenwinkeln. Sie sah so bezaubernd aus. Wie oft hatte er sich eine Situation wie diese herbeigesehnt. Jetzt war sie da und er bekam den Mund nicht auf, geschweige denn ein Wort heraus.

„Sag, Antonius“, rettete Elisabeth selbst die Situation, „wird der geheimnisvolle Fremde überleben? Was werdet ihr tun, wenn er doch ein Mörder oder Dieb ist? Was wenn er dir oder deinen Liebsten an den Leib rücken möchte?“ Antonius holte Luft. Er war versucht, ihr zu beweisen, welch ein Held in ihm steckte. Er könnte ihr sagen, wie schnell er jeglichen Versuch des Fremden diesbezüglich mit dessen eigenen Schwert vereiteln würde. Er könnte damit prahlen, wie eiskalt er dessen Eingeweide nach außen kehren würde. Doch zu guter Letzt besann er sich. „Ich denke, der Mann ist kein Übeltäter. Er sieht zwar auf der einen Seite recht wüst aus, doch andererseits glaube ich, dass es sich um einen gottesfürchtigen Herrn handelt. Immerhin trug sein Gewand ein rotes Kreuz. So bin ich fest davon überzeugt, dass er seinen Dienst in eine gute Sache stellt. Es grenzt eh an ein Wunder, dass er es überhaupt bis zu uns geschafft hat, da die Wunde, die in seiner Seite klaffte, schon reichlich mit Leben gefüllt war.“ Angeekelt verzogen Elisabeth und Gregor ihre Gesichter. „Doch bei uns ist er in guten Händen. Wenn er uns lässt, dann werden wir ihn gesund pflegen. Und sollte er tatsächlich nichts Gutes im Schilde führen, so muss er es zunächst mit meinem Bruder Albert aufnehmen …“

„Ein Schmied mit hünenhaften Ausmaßen!“, ergänzte Gregor.

„Sollte er diese Barrikade durchbrechen, dann kämpfen mein Vater und ich unter Einsatz unseres Lebens. Niemand soll sich an meiner Mutter und meinen Schwestern vergreifen können …“

„Und auch nicht an deiner Tante Martha; die solltest du nicht vergessen!“, warf Gregor ein.

„Stimmt! Aber ich sage euch, so wie der geschundene Körper aussah, kann dies nicht in den nächsten Stunden geschehen.“ Elisabeth schien beeindruckt von dem jungen Mann. Schon oft hatte ihr Vater sie mit reichen Händlern bekannt gemacht, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich vor ihr aufzuspielen. Letztendlich stellte sich meist heraus, dass deren Intelligenz nicht viel höher war als die eines Lurches. Vor allem endeten die Abende meist in ausschweifenden Trinkgelagen und Zudringlichkeiten. Dagoberth Näher kam oft nicht umher, insbesondere wenn er von diesen Weiber- und Maulhelden die wüstesten Geschichten hörte, seine Tochter sehr schnell vor ihnen wegzusperren.

Doch der junge Müller, der nun vor Elisabeth stand, schien ganz anständig zu sein. Sie freute sich, ihn endlich einmal persönlich kennenzulernen. Schon mehrmals waren sie einander auf dem Hof begegnet, aber meist hatte sie, wie es sich für eine anständige Frau ziemte, den Kopf gesenkt und den direkten Blickkontakt mit dem Mann vermieden. Und sofern sie dies ein wenig verzögerte, hatte der junge Lexe flugs seinen Blick zur Seite gewendet, da es nicht so aussah, als starre er die Tochter des Hofherrn an. Nun aber konnten sie unverkrampft miteinander plaudern und sogar lachen.

„Da, kommt schnell her!“, unterbrach Gregor unvermittelt die gelöste Stimmung. Ein kräftiger Sonnenstrahl schoss wie ein überdimensionaler Zeigefinger durch eine Dachspalte. Das Scheuneninnere erhellte sich. Die beiden jungen Leute ließen ihre bereits im Halbdunkel unverfänglich aufeinander gerichteten Blicke für einen Moment verharren. „Kommt schon!“, trieb Gregor sie erneut an. „Oder sollen wir noch bis zum Sankt Nimmerleinstag warten?“

Sogleich traten sie zu ihm hinüber. Gregor reichte Antonius das Schwert, da dieser es mit Sicherheit schneller so ausrichten konnte, dass das Sonnenlicht im richtigen Winkel auf das Klingenende strahlte. Und dem war so. Wie von Geisterhand erschienen die Schriftzeichen. Elisabeth erschrak und bekam gleichzeitig vor Aufregung eine Gänsehaut. Sie trat näher und betrachtete den Schriftzug. Leise murmelte sie etwas vor sich hin und riss die Augen auf. „Kannst du es wirklich lesen, Lissi?“, fragte Gregor und sprang zur Seite, um einen kleinen Holzstock zu holen. „Hier, nimm das Stöckchen und schreib alles auf den Boden!“ Wie in Trance ergriff Elisabeth den Zweig und begann, ohne ihren Blick von der Klinge zu wenden, die Symbole auf den staubigen Lehmboden zu kritzeln. „Das kann doch nicht sein!“, stammelte sie immer wieder vor sich hin, ohne wegzuschauen. Das Sonnenlicht ließ nach und wenige Augenblicke später brach der Strahl abrupt ab. Der Schriftzug verschwand so schnell wie er gekommen war. Ungläubig fuhren Elisabeths Finger über die Klinge, doch tatsächlich konnte sie keine Unebenheiten oder sonstige Zeichen einer Gravur erkennen.

„Lissi, nun sag schon, was steht auf der Klinge?“ Elisabeth sah zunächst Gregor und dann Antonius stumm an. Sie konnte es nicht glauben. Schon oft hatte sie von Reisenden oder aus Geschichten, die ihr Vater oder auch Gregor von der Waldkreuzung mitgebracht hatten, von der Existenz dieser besonderen, tapferen Männer gehört, aber sie war noch nie einem solchen begegnet.

„Elisabeth, nun sagt doch, was haben die Zeichen zu bedeuten?“ Antonius hakte nach und konnte ihr Schweigen nicht deuten. „Ist es etwas Schlimmes?“

„Das würde ich so nicht sagen! Ich denke, wir können unsere Bedenken bezüglich des kranken Fremden in eurer Mühle getrost vergessen. Denn der Träger dieses Schwertes, vorausgesetzt es gehört wirklich ihm, scheint ein Edelmann zu sein und ein Kämpfer von höchsten Gnaden!“ Antonius riss seine Augen weit auf. Dass der Kerl nicht unbedingt ein schlechter Mensch und außerdem ein Krieger war, hätte er sich ja vorstellen können, zumal seine mehr oder weniger gut verheilten Verletzungen Zeuge dafür sein konnten. Aber dass es sich um einen Edelmann handeln sollte, wollte er noch nicht ganz glauben. Weshalb sollten ihn dann diese drei dunklen Gestalten verfolgen?

„Also, was steht da und kannst du es für uns notieren?“ Elisabeth nickte und kniete sich neben ihr Geschreibsel. Die beiden Männer taten es ihr nach.

* * *

„Und dann las sie vor, was sie im Staub notiert hatte!“

„Ja, und, was war es?“ Albert spornte seinen Bruder an, endlich des Rätsels Lösung preiszugeben, während die anderen keinen Mucks von sich gaben. Die Kerze flackerte locker leicht beschwingt vor sich hin. In der Feuerstelle knackte ein Holz. Funken flogen und Emma trat ein paar von ihnen aus. Antonius kramte aus dem Reibert ein kleines Tuch hervor, auf dem die Zeichenfolge noch einmal abgebildet war.

* * *

Elisabeth lief kurz zurück ins Haus und holte eines ihrer Nasentücher. Es dauerte einen kurzen Moment, da sie ein ganz besonders schönes für Antonius aussuchen wollte. Schließlich entschied sie sich für ein weißes Leinen, dessen Rand sie im letzten Winter mit Kreuzstichen aus roter Wolle bestickt hatte. Mit ihrer Tintenfeder notierte sie die Worte und pustete ordentlich darüber, damit sie rasch trocknen und somit nicht verlaufen oder verschmieren konnten. Anschließend überreichte sie es – fast feierlich – Antonius. Dieser errötete, während Gregor ein breites Grinsen aufsetzte. Immer wieder hatte er es bei seinem Marsch durch die Schlucht hervorgezückt, vorsichtig auseinander- und wieder zusammengefaltet und daran gerochen. Er war sich sicher, es roch irgendwie nach Rosenwasser.

* * *

Eigentlich wollte er das Tuch gar nicht aus der Hand geben, doch sein Vater verlangte danach, obgleich er nicht in der Lage war, zu lesen, was darauf stand. Arthur betrachtete Elisabeths Geschreibsel mit großen Augen und wollte es an Albert weiterreichen. Antonius aber schnappte es sich zurück, da er keine Abdrücke von Alberts Pranken auf dem zarten weißen Tüchlein haben wollte.

„Nun“, setzte er fort, „ich musste mir die Worte mehrmals von Elisabeth vorlesen lassen und habe sie mir auf dem Rückweg durch die Schlucht immer und immer wieder laut vorgesagt, sodass ich sie bestimmt nicht wieder vergessen werde. Die Zeichen auf der Klinge bedeuten: PAUPERES COMMILITONES CHRISTI TEMPLIQUE SALOMONICI HIEROSALEMITANIS.“

Alle schwiegen und sahen Antonius erwartungsvoll an. Und dieser kam nicht umhin, ihnen mit verklärtem Blick zu erzählen: „Also Elisabeth meinte, der Schriftzug würde auf eine ganz besondere Art von tapferen und vor allem gläubigen Rittern hinweisen!“ Emma nahm die Hand ihres Mannes und drückte sie fest. Arthur konnte die Erleichterung, die sich auf ihrem Gesicht breitmachte, erkennen. Auch er atmete auf.

„Und du magst diese Elisabeth doch mehr als mich!“, stieß Klara plötzlich hervor und verschwand schnellen Schrittes aus dem Raum.

Civitas A.D. 1200. Das Geheimnis der Rose

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