Читать книгу Civitas A.D. 1200. Das Geheimnis der Rose - Christof Wolf - Страница 27
KIRCHE SANTA CROCE IN GERUSALEMME (ROM)
ОглавлениеDraußen war es noch dunkel, als Bruno still und leise aus seinem Bett schlüpfte. Wie ein fremder Eindringling bewegte er sich in seinem Haus und vermied heute Morgen jegliches Geräusch. Dies war vonnöten, denn schließlich war seine Dienerschaft so dressiert, dass sie, sofern er nur ein kleines Hüsterchen losließ, auf der Matte stand und vor der Tür auf detaillierte Anweisungen wartete.
Langsam und ein wenig unbeholfen versuchte er ohne fremde Hilfe sein Nachtgewand über den Kopf zu streifen. Ein Unterfangen, das er seit Jahren nicht mehr alleine vorgenommen hatte. Kein Wunder, dass er zunächst mit seinem Kopf in der Öffnung steckenblieb, da er vergessen hatte, die Kordel vorher zu lösen. Seine Ohren schmerzten und sein Gesicht nahm die Farbe blaudominierten Purpurs an. Normalerweise stand ihm beim ersten Fuß, den er aus dem Bett auf den Vorleger setzte, jemand behilflich zur Seite. Aber heute wollte er es alleine schaffen. Nein, er wollte keinen von der Bagage sehen. Die Worte, die er gestern Abend auf dem Zettel zu lesen bekommen hatte, hingen ihm noch zu sehr nach. Sie waren auch ursächlich dafür gewesen, dass er keinen Bissen des köstlichen Nachtmahls mehr heruntergebracht hatte, welches Jeremiah ihm vor die Tür gestellt und dessen Duft sich über Nacht im Zimmer ausgebreitet hatte. Aber nein, er hatte gestern nichts mehr zu sich nehmen können. Zu sehr schnürte ihm das, was er gelesen hatte, den Magen zu. So hatte er sich sofort, als habe ein Schwächeanfall ihn ereilt, auf seine Bettstatt gelegt. Allerdings hatte er in der Nacht kaum ein Auge zu getan, so sehr hatte ihn die Nachricht beschäftigt, die ihm irgendjemand über den Botenweg hatte zukommen lassen.
Bruno schnappte sich seinen Mantel vom Haken und öffnete vorsichtig die Kammertür. Allerdings nur genau so weit, dass der Punkt, an dem sie normalerweise ein Quietschen von sich gab, nicht erreicht wurde. Er schlüpfte hinaus und glitt über den hölzernen Dielenboden. Peinlichst genau mied er die Bretter, die wegen einer gewissen Bodenspannung beim Betreten ein verräterisches Ächzen abgaben. Langsam schlich er die große Holztreppe hinab, drehte vorsichtig den Schlüssel im Schloss der Hauptpforte, öffnete diese und trat hinaus.
Die Luft war sehr kühl und Bruno fröstelte. Im Stillen ärgerte er sich nun doch, dass er sich nicht noch einen heißen Hibiskustee einverleibt hatte. Leise fluchend schloss er seinen Mantel und zog die Kapuze weit ins Gesicht. Die letzten Sterne der Nacht wichen vom lilafarbenen Firmament, lediglich der Morgenstern leuchtete unbeeindruckt in voller Pracht. In der Ferne kündigte sich der Sonnenaufgang an. Als er in die Via del Conciliazione einbog, tauchte die Silhouette des mächtigen Petersdoms vor ihm auf, und wie von Geisterhand bewegt, bekreuzigte er sich. Abgesehen von einigen Pferde- und Ochsenfuhrwerken, die sich rumpelnd mit ihrer Fracht in Richtung Vatikan bewegten, um dort georderte Waren und Spenden abzuliefern oder den Lehenszins in Form von Lebensmitteln abzuführen, waren kaum Menschen auf der mit Steinquadern belegten Straße zu sehen. Gleichwohl fühlte Bruno sich nicht wirklich alleine. Immer wieder drehte er sich unvermittelt um, blieb stehen oder horchte im Gehen auf ungewöhnliche Geräusche.
Allein die Absenderangabe Die Strengen Augen Gottes war Indiz genug, dass diese überall sein konnten. Und wenn sie überall waren, dann würden sie bestimmt auch ihn observieren. Doch ein plötzlicher Halt an der Ecke zur Via Sepolcro lieferte keinen begründeten Hinweis für einen Verfolger. Er bog in die Straße ein und glitt so nah an der Hauswand entlang, als wollte er noch nicht einmal seinen eigenen Schatten als Nachläufer akzeptieren. An der nächsten Straßenecke angekommen stoppte er erneut, sah sich noch einmal unvermittelt um, bevor er schließlich in die Borgo San Spirito einbog und geradezu sein Ziel ansteuerte. Wie jeden Morgen, nur üblicherweise anderthalb Stunden später, erklomm er die Treppenstufen der ‚Chiesa di Santo Spirito in Sassia‘. Diese kleine, weiß getünchte Kirche mit zierlichem Turm und einer in seinen Ohren süß klingenden Glocke gehörte zu Brunos Lieblingskirchen. Wann immer er die Möglichkeit hatte, zog er es vor, sein Morgengebet dort statt im ganz in der Nähe stehenden Petersdom zu vollziehen. Von da aus war es dann nur noch ein Katzensprung bis zu dem Haifischbecken, das er fast täglich innerhalb der vatikanischen Mauern vorfand. Erst nach dieser allmorgendlichen Andacht fühlten er und sein Geist sich stark genug, seine täglichen Aufgaben im Namen der Welfen zu erledigen.
Bruno nahm den Griff der massiven Eichenholztür in die Hand, der sich auf Kopfhöhe befand, und drückte ihn nach unten. Er wusste, dass er zu dieser noch nachtschlafenden Zeit in der Kirche allein wäre, da auch die Mönche dieser Kirche bereits eine Stunde zuvor ihre erste Morgenandacht gehalten hatten.
Im Vergleich zur kalten Morgenluft empfand er die feuchte Luft im Inneren als äußerst angenehm, obwohl auch hier noch sehr niedrige Temperaturen herrschten und er seinen Atem sehen konnte. Schnell bekreuzigte er sich und trat in eine Seitennische. Leise murmelte er sein Gebet und kehrte in sich. Bis auf die Osterkerze und zwei Ewige Lichter an der Pieta fehlten weitere Leuchtquellen im Innenraum, weshalb dieser duster erschien. Nur die schmalen Fensterschlitze im Osten und Süden, die mit Alabaster oder dünnen Tierhäuten bespannt waren, ließen den Farbwechsel des Morgenhimmels erahnen. Die anderen Fenster waren zu dieser Jahreszeit noch vollständig mit Stroh ausgestopft.
Es dämmerte draußen und die Sonne eroberte sich das Firmament von der Nacht zurück. Plötzlich zuckte Bruno zusammen. Die schwere Holztür schien erneut geöffnet zu werden. Flugs trat er hinter eine Säule. Schritte waren zu vernehmen. Sie kamen näher. In Bruno stieg ein beklemmendes Gefühl auf. Sollten die Strengen Augen ihn tatsächlich verfolgen? Die Schritte stoppten. Bruno fiel es schwer einzuordnen, auf welcher Höhe derjenige stehengeblieben war, jedenfalls nicht allzu weit von ihm entfernt. Stumm schickte er ein Stoßgebet zum Himmel. Die Schritte kamen näher. Dann erneut Stille. Derjenige musste nun auf der Höhe des Gnadenbildnisses stehen. Wenn Bruno an der Säule vorbeischaute, dann müsste es ihm möglich sein, den Mann – Frauen durften dieses Gotteshaus nicht betreten – im schwachen Lichtkegel der Kerzen zu erspähen. Doch er traute sich nicht. Stille.
Plötzlich flackerte das Licht. Die Flammen der großen Wachskerzen vor dem Bildnis der um ihren Sohn trauernden Heiligen Mutter begannen zu tanzen. Die verzerrten Schatten der übrigen Heiligenstatuen sprangen wie wild gewordene Teufel auf den gegenüberliegenden Wänden hin und her als vollführten sie einen Totentanz. Ein weiterer Schatten mit spitzem Kopf mischte sich darunter; der Schatten des Fremden? Er schien eine Kapuze zu tragen. Bruno fröstelte es erneut. Gerade wollte er sich ein Herz fassen und um die Ecke schauen, als er abrupt stoppte. Er vernahm ein unverständliches Gemurmel. Mit wem sprach der Fremde? Was flüsterte er? Bruno war schummerig zumute. Allerdings war dies nicht verwunderlich, da er seine letzte Nahrung am gestrigen Nachmittag zu sich genommen hatte, als er mit Kaleb, dem Gesandten aus Jerusalem, sprach. Er versuchte sich zu konzentrieren und sah dann doch an der Säule vorbei. Das Licht in der Kirche nahm zu. Die Konturen der Person wurden sichtbar, sie stand vor der Pieta. Wer immer sie auch war, sie wandte ihm den Rücken zu und betete vor sich hin. Bruno atmete auf, verharrte aber vorsichtshalber weiterhin in Bewegungslosigkeit. Vergebens versuchte er, sich auf seine eigenen Gebete zu konzentrieren; Gebete, die er jeden Morgen sprach. Fürbitten für seine verstorbenen Eltern, seinen Gönner und Protegé Otto sowie seine noch lebenden Brüder Eberhard und Gerlach. Schwer fiel ihm stets das Gebet für seinen vor wenigen Monaten verstorbenen ältesten Bruder – der bis zu seinem Tod den Grafentitel geführt hatte.
Wie ihm sein jüngerer Bruder Gerlach zugetragen hatte, war ihr Bruder in einer der großen Schlachten im Heiligen Land im Kampf gegen die Ungläubigen gefallen. Die Nachricht traf Bruno sehr, da er und der Erstgeborene ein sehr enges Verhältnis zueinander hatten, wenngleich sie sich jahrelang nicht mehr persönlich zu Gesicht bekommen hatten.
Als Bruno und Gerlach gemeinsam überlegten, wann sie alle einander das letzte Mal getroffen hatten, kamen sie zu der bitteren Erkenntnis, dass mittlerweile gut zwölf Jahre vergangen sein mussten. ‚Bei der Taufzeremonie unseres Neffen!‘, stellte Bruno fest, da er damals die Taufzeremonie vollzogen hatte. Auch das Fest, das sie im Anschluss auf der elterlichen Burg gefeiert hatten, war beiden in bester Erinnerung geblieben.
Also schloss Bruno auch jeden Morgen seinen Neffen und die trauernde Witwe in seine Fürbitten ein. Leider war es ihm bisher nicht gelungen, sie auf Burg Blankenberg zu besuchen und ihnen zu kondolieren. Doch bereits in Kürze wollte er dies nachholen. Außerdem fühlte er sich dazu verpflichtet, seinem Neffen persönlich seine Unterstützung zuzusagen. Zumal dieser, mit Erreichen des Mannesalters, der neue Graf von Sayn werden würde, ein nicht allzu leichtes Erbe. Mittlerweile umfasste die Sayner Grafschaft ein riesiges Gebiet. Streitigkeiten mit angrenzenden Regenten – wie zuletzt mit der Sippe zu Molsberg – standen regelmäßig an. Bruno war daher froh, dass sein zweitältester Bruder, Eberhard, kommissarisch die Geschäfte übernommen hatte und das gemeinsam mit dem Bruder begonnene Projekt weiterführte.
Schnelle Schritte rissen Bruno aus den Gedanken und ließen ihn zusammenzucken. Allerdings kamen sie nicht auf ihn zu, sondern setzten sich in Richtung Hauptpforte in Bewegung. Am Knarren der massiven Tür, die anschließend ächzend ins Schloss fiel, erkannte er, dass der geheimnisvolle Besucher das Haus verlassen hatte. Bruno atmete erleichtert auf. Kurz darauf beendete auch er seine kleine Morgenandacht mit den Worten, die der Herr gelehrt hatte. Anschließend bekreuzigte er sich erneut vor der Pieta und schritt gemächlich den Mittelgang zur Tür zurück. Vorsichtig trat er auf die Schwelle und besah sich die Straße. Er schaute nach links und rechts, stieg die Treppen hinab und setzte seinen Marsch zielgemäß fort. Schließlich gab es einen Grund, weshalb er heute so früh das Haus verlassen hatte. Sein Weg führte ihn fast einmal quer durch die Stadt. Er folgte der Aurelianischen Mauer bis zu seinem Ziel, dem ehemaligen Sessorianum-Palast.
* * *
Dieses imposante Gebäude konnte auf eine Geschichte zurückschauen, die bis ins dritte Jahrhundert reichte und ursprünglich Helena, der Mutter des Kaisers Konstantin des Großen, gehörte. Nach dem verheerenden Brand im Jahre 325 war sie es, die den gigantischen Raum der Thermae Helenae zur Kapelle umbauen ließ. Gut fünf zweispännige Pferdekutschen in der Länge und mindestens sechs von diesen in Reihen passten dort hinein. Deshalb schien er gerade ausreichend, um eine permanent größer werdende und außergewöhnliche Sammlung von Reliquien jeglicher Form zu beherbergen. Helenas Sammelleidenschaft kannte keine Grenzen. Wo immer sie von einem Gegenstand erfuhr, der mit dem Leben, aber auch dem Leiden Christi zu tun hatte, ließ sie keine Ruhe, bis sie diesen in ihren Händen halten konnte. Sie scheute sich auch nicht davor, selbst die Strapazen einer langen Reise auf sich zu nehmen und im Heiligen Land nach diesen Schätzen des christlichen Glaubens zu fahnden. Und als sie in Jerusalem die Höhle der Grabstätte Christi fand und dazu sogar das Heilige Kreuz, avancierte sie zu einer der berühmtesten Persönlichkeiten ihrer Zeit.
Damit auch ihre Sammlung in Rom von diesem Fund profitieren konnte, veranlasste sie, dass vom Partibolum, also dem Querbalken des Kreuzes, rechts und links Stücke abgetrennt wurden. Diese mussten genau so groß sein, dass sich in ihnen die Nagellöcher befanden. Als Liebesbeweis ließ sie eines der Außenstücke ihrem Sohn zukommen, der in Konstantinopel regierte. Während der mittlere Teil des Kreuzbalkens in der künftigen Grabeskirche verbleiben sollte, brachte sie den zweiten äußeren Teil höchstpersönlich nach Rom. In einer feierlichen Zeremonie übernahm sie diesen in ihre Palastkapelle, die sie fortan Santa Croce in Gerusalemme nannte.
Eine weitere geheimnisvolle Reliquie, die sie zum begehrtesten Beweisobjekt für die Kreuzigung Christi erhob, versuchte sie in Rom wieder zusammenzuführen, da sie aus zwei Teilen bestand. Eines der Stücke hatte sie in Jerusalem ausfindig gemacht. Das passende Gegenstück sollte ihr, aus einem anderen Landesteil kommend, direkt nach Rom geliefert werden. Allerdings wurde der Transport noch im Heiligen Land ausgeraubt. Ungläubige hätten auf niederträchtige Art die Kutsche überfallen, berichtete man ihr. Daraufhin setzte sie eine gigantische Summe an Golddukaten als Belohnung für denjenigen aus, der ihr das Gegenstück vorlegen würde. Aber erfolglos!
Nun erfuhr der verbliebene Teil der Reliquie eine gewisse Aufmerksamkeit und eine unermessliche Wertsteigerung. Deshalb befürchtete sie, ein anderer Sammler könnte auf die heimtückische Idee kommen, sie ihr zu entwenden. Um den Gegenstand zu schützen, ließ Helena sich etwas Besonderes einfallen: Eines Tages beauftragte sie einen Baumeister damit, über dem Altar, auf dem sie die aus Jerusalem importierte Kreuzreliquie in einem goldenen Schrein aufbahrte, einen einfachen Steinbogen zu errichten, dessen Schlussstein in der Mitte mit zwei Worten versehen werden sollte. Und als der Handwerker kurz davor war, seine Arbeit zu beenden, erteilte Helena die Anweisung, dass er den Stein einfach auf dem Gerüst liegen lassen sollte. Noch am selben Abend schlich sie dann heimlich über einen Gang, der sie direkt von ihrem Schlafgemach zur Kapelle führte, zum Altar. Unter ihrem Arm trug sie das Behältnis, in das sie eigenhändig den begehrten Gegenstand hineingelegt hatte. Sie trat zum Gerüst. Zwar war sie schon lange nicht mehr so flink wie ein Wiesel, doch es gelang ihr relativ schnell, das hoch in den Raum hineinragende und wackelige Holzgerüst zu erklimmen. Außer Atem setzte sie sich auf das oberste Holzbrett. Wie ein Kind auf einer Schaukel ließ sie ihre Beine baumeln und musste kichern. Schon lange hatte sie sich nicht mehr so frei und unbeschwert gefühlt.
Vorsichtig drückte sie den Behälter in den Spalt, der sich in der Mitte des Halbkreises bot, und schloss diesen mit dem doch recht schweren Schlussstein. Noch in derselben Nacht ließ sie das Gerüst entfernen. Der Gegenstand blieb dort unberührt und geriet in Vergessenheit. Bis er sich vor wenigen Tagen wieder in Erinnerung rief.
* * *
Bruno erreichte das Gotteshaus Santa Croce. Die Sonne stand bereits höher. Der purpurne Farbton wechselte allmählich in ein deutliches Azurblau. Der Himmel schien ihm wie ein überdimensionaler Baldachin über der mächtigen Kuppel des Petersdoms. Die Luft erwärmte sich langsam. Aus den Straßenpfützen, die entweder noch vom Regen übrig waren, der vor zwei Wochen letztmalig die Erde benetzt hatte, oder die durch das Ausleeren der Nachttöpfe in der Früh entstanden waren, stieg ein leicht fauliger Geruch auf. Die ersten Mücken begannen um sie herumzukreisen. Bruno schauderte ein wenig bei deren Anblick, da es vor nicht allzu langer Zeit Mücken waren, die eine Krankheit ins Land getragen hatten, die sehr viele Menschen das Leben gekostet hatte. Er selbst dachte noch im letzten Sommer, es habe ihn erwischt. Gliederschmerzen und Fieberschübe von bisher ungekanntem Ausmaß suchten ihn heim und malträtierten ihn für mehr als zwei Wochen. Doch die aufopfernde Pflege Jeremiahs brachte ihn schon bald wieder auf die Beine. Trotzdem trat Bruno den kleinen Blutsaugern mit Respekt entgegen.
Holzgerüste, die gen Himmel hinaufstrebten, zierten die Fassade von Santa Croce. In Kürze – mit Beginn des wärmeren Frühjahrs – sollte damit begonnen werden, aus dem von außen relativ unscheinbaren Haus eine richtige Kirche zu machen. Den Auftrag hierzu hatte Kardinal Giovanni Sottobosco persönlich erteilt, da er für die Reliquienverwaltung der Kurie verantwortlich zeichnete. Schon kurz nach dem Tod Helenas, so ließ es der damalige Papst Silvester I. im Buch der Päpste, dem sogenannten Liber Pontificalis, festhalten, übereignete deren Sohn Konstantin Santa Croce, samt unschätzbar wertvollem Inhalt, dem Vatikan. Und nun schwebte Sottbosco vor, das Gotteshaus gründlich umzugestalten und auf die Ankunft einer ganz besonderen Reliquie vorzubereiten.
Bruno trat ein und sah, nachdem sich seine Augen an das dunkle Innere gewöhnt hatten, dass er nicht alleine war. Mehrere Leute, Mönche und Laienpriester huschten fast geräuschlos durch die Basilika. Die zahlreichen Altäre rechts und links des Längsschiffs luden förmlich dazu ein, von einem zum anderen zu gehen und zu beten. Schließlich traf man in diesem Gemäuer in fast inflationärer Zahl auf die wichtigsten Zeitzeugen des christlichen Glaubens. Bruno trat an einen der Altäre und bekreuzigte sich. Im goldenen Schrein vor ihm befanden sich zwei Dornen, die der Dornenkrone Christi entstammen sollten. Die gesamte Krone war erst vor wenigen Jahren in Rom aufgetaucht. Nach eingehender Untersuchung durch die Spezialisten des Vatikans wurde sie für echt befunden. Da sämtliche Päpste sich bisher äußerst schwer getan hatten, sich und ihre Autorität in Frankreich zu etablieren, reichte man das außergewöhnliche Relikt als Spende nach Parisia weiter, wo sie in der neuen Kathedrale einen würdigen Platz finden sollte, deren Bau aufgrund des dort realisierten Lichtstils, die gesamte Christenheit faszinierte.
Leise sprach Bruno ein Vaterunser und verharrte in der Stille. Die kühle Luft in der Kirche war noch weihrauchgeschwängert von der Abendmesse des Vortags. Auch wenn ihn seit einiger Zeit das Gefühl beschlich, sie würde ihm die Atemluft nehmen, liebte er den Duft des Weihrauchs. Kein edleres Geschenk hätten die Heiligen Drei Könige dem Jesuskind mitbringen können. Seine Verbindung zu den drei Heiligen war seit seiner Zeit als Coellner Dompropst ungebrochen gewesen. Und die Faszination, die vom Schrein der Coellner Reliquien ausging, hatte ihn hier in der Ewigen Stadt – abgesehen vom pompösen Dom des heiligen Petrus – noch nirgends in vergleichbarer Weise gepackt.
Erneut bekreuzigte er sich und wandelte zum nächsten Altar. Aus seinen Augenwinkeln behielt er den Innenraum der Kirche im Auge. Noch immer war er sich nicht sicher, ob er beobachtet wurde. Doch die Männer, die er erspähte, wandelten wie er äußerst leise und ohne Hast in der Basilika umher. Wie er, so besuchten auch sie einen Schrein nach dem anderen. Frauen waren, wie man es seit kurzem in der lateranische Palastkapelle Sancta Sanctorum Usus handhabte, auch in dieser heiligen Halle nicht mehr zugelassen; obwohl die Gründung dieses Hauses durchaus auf eine Frau zurückzuführen war.
Langsam bewegte Bruno sich zum Altar der Kreuzreliquie. Schon beim Näherkommen erkannte er, dass beim Steinbogen irgendetwas anders war als bei seinem ersten Besuch.
Kurz nach seiner Ankunft in Rom wurde er von einem Vertreter des Vatikans durch das Heilige Zentrum und diverse Kirchen geführt. So erhielt er bereits die Gelegenheit, das Innere von Santa Croce anzuschauen. Er konnte sich noch genau daran erinnern, wie der junge Mann ihm die Geschichte der Kaisermutter Helena erzählt hatte, besonders von deren Drang, möglichst viele Gegenstände, die mit Jesus’ Leben und Sterben zu tun hatten, hier hineinzubringen.
Natürlich war der vatikanische Vertreter stolz darauf gewesen, dass seine Kirche all diese Dinge ihr Eigen nennen und somit auf eine Reliquiensammlung von unschätzbarem Wert blicken konnte. Somit war er auch während des Rundgangs vor dem Altar stehengeblieben, auf dem sich die Kreuzreliquie befand. Die Edelsteinverzierungen des Schreins warfen ein ganz besonderes Licht in die Nische der Kapelle, vor allem an die Decke. „Hier liegt ein Geheimnis verborgen“, flüsterte er fast konspirativ und zeigte mit der ausgestreckten Hand nach oben. Brunos Kopf folgte. „Seht Ihr den Schlussstein dort im Rundbogen?“ Bruno justierte seinen Blick und nickte zustimmend.
„Hinter diesem Stein soll Helena etwas versteckt haben. Es war ihr wohl wichtig sicherzustellen, dass dieses Etwas nicht ohne weiteres abhanden kommen konnte!“ Bruno zog die Augenbrauen zusammen. Er konnte sich damals nicht vorstellen, was sich hinter dem Stein verbergen könnte. Vielleicht ein Goldschatz! Allerdings war der Raum bereits über und über mit Wertsachen gefüllt, sodass dies eigentlich keinen Sinn ergab. Selbst wenn ein Dieb kein Interesse an dem unsagbaren Wert der Reliquien zeigte, so wäre allein ein Schrein, Reliquiar oder gar ein mit Edelsteinen besetztes Kruzifix so wertvoll, dass der Ertrag für mehr als nur ein Leben ausreichen würde.
„Nun, was ist denn da so Geheimnisvolles?“, erkundigte sich Bruno damals und der junge Geistliche zeigte stumm auf die zwei Worte, die auf dem Schlussstein eingemeißelt waren. „Das ist des Rätsels Lösung!“, sagte er und wandte sich zum Gehen.
Doch heute konnte er, so sehr er sich auch bemühte, nichts lesen; die Steine schienen ausgetauscht. Aber konnte das sein? Unsicher, ob er sich überhaupt unter dem richtigen Bogen befand, blickte er noch einmal durch die Basilika. Aber doch, er stand richtig. Vor ihm stand definitiv der Altar mit der Kruzifix-Reliquie. Er verlor sich in Gedanken. Was könnte des Rätsels Lösung sein? Ob die Nachricht, die man ihm gestern hatte zukommen lassen, überhaupt rechtens war? Noch einmal schaute er hinauf. Plötzlich flüsterte ihm eine fremde Stimme ins Ohr: „Sucht Ihr etwas Bestimmtes, Bruder?“
Bruno zuckte zusammen. Hatten sie ihn doch verfolgt und observiert? Doch was könnten sie ihm anhängen? Er war, wie viele andere auch, zur Morgenmesse gegangen, wo er für Gott und die Welt gebetet hatte.
Langsam drehte er sich um und blickte in die Augen eines älteren Mannes, die alles andere als streng dreinblickten. Bruno wog den Kopf hin und her; er wusste nicht, was er antworten sollte. Doch dann erkannte er, dass es sich bei dem Mann um einen der Brüder des Kartäuserordens handelte. Diese hatten sich vor einigen Jahren unmittelbar neben der Kirche niedergelassen und sorgten seitdem für Ordnung.
„Ich vermisse etwas!“, fasste Bruno sich ein Herz.
„Und ich kann mir gut vorstellen was!“, antwortete der Mönch leise, als wollte er verhindern, dass jemand lauschen konnte. „Vor wenigen Tagen waren Vertreter aus dem Vatikan hier. Sie haben mit einigen Arbeitern, die für den Umbau hier drinnen verantwortlich sind, ein Gerüst aufgestellt. Wir dachten schon, dass die Renovierungsarbeiten losgehen, doch schickte man die Männer alsbald nach draußen. Und wehe, einer würde es wagen, unaufgefordert wieder einzutreten, erzählte mir einer von denen. Aber ich sage Euch, bei den Blicken, die diese Kerle aussandten, wären weder einer der Arbeiter noch meine Brüder und ich niemals freiwillig wieder hereingegangen. Nur mit Gewalt hätte man uns hineinziehen müssen, so streng wie deren Augen dreinschauten!“
„Ich verstehe, Bruder!“ Bruno hatte die Anspielung auf die Strengen Augen Gottes verstanden. Konnte das ein Zufall sein, dass dieser Kartäuser ihn auf diese Vereinigung ansprach? Eher nicht! Dadurch wurde die geheimnisvolle Nachricht von gestern gewissermaßen verifiziert. Doch was hatte er mit der ganzen Sache zu tun? Wie ist man dabei auf mich gekommen? Plötzlich fiel ihm ein, wie auf der letzten Bischofssynode ein Thema zum Gesprächsstoff geworden war, das für Unmut zwischen den Beteiligten sorgte. Und da es mit dem Burg- und Stadtbau seiner Brüder zu tun hatte, färbte dies letztendlich, wenngleich nicht offen ausgesprochen, auch auf ihn ab.
Der Grund war einfach, dass das Projekt der Sayner sich ausgerechnet über das Grenzgebiet der beiden Erzbistümer zu Coelln und Treveris erstreckte. Und wie so oft bekundet, sah sich Brunos Bruder als Reichsgraf, der sich nur dem Deutschen Kaiser verpflichtet fühlte. So bangten beide Kirchenoberhäupter um ihren Einfluss vor Ort und um ihren Profit. Damit endlich Klarheit in dieser brisanten Situation herrschen konnte, beschloss die Synode, den früheren Dompropst zu Coelln zu Rate zu ziehen – und dies war eben Bruno von Sayn, der wusste, er konnte sich nur in die Nesseln setzen: Protegierte er das Vorhaben seines Bruders, einem bekennenden Anhänger der Staufer, würde er sich den Missmut des Welfen Otto von Brunswiek zuziehen. Unterstützte er die Coellner, dann bräuchte er nie wieder die Treveriser Seite nach Beistand zu fragen. Würde er seinen ehemaligen Arbeitgeber verprellen, so bräche er dieses stets vertrauensvolle Verhältnis. Somit zog er sich geschickt aus dieser misslichen Situation zurück, indem er sich aufgrund einer vorgeschobenen Unpässlichkeit durch seinen Diener entschuldigen ließ.
Aber kann es da wirklich einen Zusammenhang geben? Gut, die Nachricht, die er am gestrigen Abend unter seiner Tür gefunden hatte, ließ durchaus einen solchen Schluss zu. Bruno war ratlos. Auf jeden Fall schien es einen Zusammenhang mit den beiden Worten auf dem ursprünglichen, nun durch einen unbeschriebenen ersetzten Schlussstein zu geben. Oder vielmehr mit dem Gegenstand, der einst dahinter lag und der sich nun höchstwahrscheinlich in den Händen des Vatikans oder der Strengen Augen Gottes befand.
Bruno verabschiedete sich von dem Kartäuser und marschierte geradewegs mit einem letzten Bekreuzigen am Gnadenbildnis der Mutter Gottes vorbei. Er verließ die Basilika. Draußen schlug ihm eine feuchtwarme Luft entgegen. Die Pfützen auf der Straße rochen nicht besser als zuvor. Sein Magen knurrte und sein Kreislauf spielte ein wenig verrückt. Kurz lehnte er sich an eine Hauswand und versuchte wieder richtig zur Besinnung zu gelangen. Sein Kopf war heiß und seine Hände von der kalten Kirchenluft ausgekühlt. Noch einmal selektierte er die Fakten in seinem Kopf. Stück für Stück versuchte er die Bausteine, die ihm die gestrige Nachricht geliefert hatte, mit der Information zusammenzubringen, die er nun in der Kirche erfahren hatte.
„Es ergibt tatsächlich einen Sinn!“, murmelte er schließlich vor sich hin und dachte: Titulus Crucis! Die zwei Worte sind der Schlüssel. Tatsächlich. Doch was habe ich damit zutun? Kann oder muss ich jemandem zur Hilfe eilen? Vielleicht sollte ich tatsächlich in den Westerwald aufbrechen! Wenn es schon meinem geliebten Bruder nicht mehr vergönnt war, dorthin zurückzukehren, dann sollte ich endlich einen Kondolenzbesuch bei meinem Neffen, dem künftigen Grafen von Sayn, unternehmen! Bruno sammelte sich. Sein Entschluss war gefasst, er würde in Kürze in seine alte Heimat aufbrechen.
Er atmete durch und marschierte schnellen Fußes durch die muffigen Straßen Roms. Die alltäglichen Pilgerströme hatten bereits eingesetzt, und so musste er sich seinen Weg nach Hause durch die Menge bahnen.