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ROM (EINIGE WOCHEN ZUVOR)

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Die Sonne stand bereits tief über der Ewigen Stadt und tauchte die eigentlich sandsteinfarbenen Gebäude in ein sanftes, fast unrealistisches und deutlich von Violett dominiertes Purpur. Aus den Schornsteinen, insbesondere aus den zahlreichen des Vatikans, quoll der Rauch senkrecht in die Höhe, um sich dann spurlos im Abendhimmel zu verflüchtigen. Obwohl tagsüber der Frühling bereits Einzug gehalten hatte, kühlten die Nächte noch sehr stark ab. Das Geläut der Kirchen erklang und signalisierte in einem erhabenen Konzert, dass die Abendgebete zur Komplet gesprochen waren.

Wie an jedem Abend um diese Zeit, strömten die Menschen auch heute aus der Sankt Petrus Kirche. Während höhere Würdenträger sogleich in den labyrinthartigen Fluren und Gängen des Vatikans verschwanden, eilten adelige Laien und ausgewählte Glaubensbrüder verschiedener Konvente hinaus auf den großen mit Steinsäulen verzierten Vorplatz. Während die Mönche zu dieser Zeit eigentlich dem Gebot der Stabilitas Loci unterworfen waren, wonach sie ihr Kloster nur in Ausnahmefällen verlassen durften, galten in der Heiligen Stadt ganz eigene Gesetze.

Stimmengewirr kam auf und erinnerte an das heilige Pfingstfest, bei dem die Apostel plötzlich sämtliche Sprachen der Welt sprachen und die Lehren Christi in alle Welt hinaustrugen. Nach geraumer Zeit verstummten die Gespräche und die Geräusche verebbten. Rasch und leise, wie Wasser, das geräuschlos im Sand versiegt, so verschwanden die Leute in alle Himmelsrichtungen. Ein jeder eilte schnellstmöglich nach Hause, um dort einsam oder gemeinsam das Abendmahl zu begehen. Einer von ihnen war Bruno von Sayn, seines Zeichens Gesandter des Welfen Otto IV. von Brunswiek.

Bruno blieb kurz auf der Treppe des Hauptportals stehen und nahm einen tiefen Atemzug voll frischer Luft. Er liebte die weihrauchgeschwängerte Luft im kühlen Inneren eines Gotteshauses, wenngleich sie ihm seit kurzem regelmäßig ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust zu erzeugen schien. Nachdem er sich wieder besser fühlte, zog er seine Mantelkapuze fast bis über die Augen. Damit ihn niemand erkannte und zu guter Letzt jetzt noch ansprach, marschierte er zügigen Schrittes und mit gesenktem Haupt heimwärts. Mittlerweile hatte er genug von dem tagtäglichen Geplapper der Leute auf dem Platz vor der Sankt Peter Kathedrale, vor allem von dem bedeutungslosen Geschwätz der Neulinge. Von denen trafen jeden Tag immer wieder neue in der Stadt ein und sie versuchten, wie es Bruno einst auch empfohlen worden war, nach dem Abendgebet ihre Verbindungen zu knüpfen. So war es jeden Abend das Gleiche und Bruno hatte keine Lust mehr, den großen Routinier und Wichtigtuer zu geben. Er wusste, wirksame Politik wurde in anderen Kreisen und schon gar nicht auf dem Petersplatz betrieben. Er hatte sich in Rom etabliert und verfügte über ausgezeichnete Kontakte zu den oberen Kirchenkreisen. Da dies Anderen nicht verborgen blieb, versuchten einige Leute immer wieder, ihn nach der Messe in ein oberflächliches Gespräch zu verstricken – ja, inzwischen wollte man etwas von ihm: Ratschläge, Kontakte, Empfehlungen.

Während der ersten Wochen seines Aufenthalts war es ihm natürlich nicht anders ergangen. Auch er hatte die Anhäufung von Würdenträgern und Adeligen genutzt, um mit möglichst vielen Leuten in Kontakt zu treten; schließlich gehörte dies zu seiner Aufgabe und er wurde dafür von Otto von Brunswiek großzügig entlohnt. Über diese allabendlichen Plausche, bei denen er die Spreu vom Weizen zu trennen verstand, lernte Bruno alsbald zahlreiche Vertreter seinesgleichen kennen. Er traf auf andere Gesandte, Würdenträger und vermeintlich wichtige Leute. Schon nach kurzer Zeit fühlte er sich in den Kreis der Wichtigen aufgenommen und nicht mehr auf die abendliche Konversation mit dem ‚gemeinen Volk‘ angewiesen. Fast täglich erhielt er Einladungen, die ihn in den Vatikan führten. Dort speiste er in der Regel mit wichtigen Geistlichen oder Vertretern der Kurie zum Mittagessen nach der Sext. Oder er traf sich mit hochrangigen Laien zu formellen Diners.

Nächtelange Debatten, unterstützt durch den Genuss von Wein und Fleisch, hatten an seinem Körper Raubbau betrieben. Seine Gewänder spannten und er kam nicht umhin, sich neue Kleider ob seiner Bauchkugel anfertigen zu lassen. Schon bald spürte er, dass ihm immer häufiger die Luft fehlte, nicht nur, wenn er den Gottesdienst verließ, sondern insbesondere wenn er die zahlreichen Stiegen im Vatikan erklomm. Meist brachte er minutenlang kein Wort hervor, da sein Herz ihm bis zum Hals schlug. Hinzu kam, dass die Gicht sich in seinen Gelenken meldete und ihren Tribut für den ungezügelten Genuss von gekochten Schweinsfüßen verlangte, die er nur allzu gerne leckte, ebenso wie vorzügliche Schweinskopfsülze und natürlich delikate Innereien. Auch den Geschlechtsteilen einer Sau, der Vulva oder den Eberhoden, beides im Allgemeinen geschätzte Leckereien, konnte er selten widerstehen. Nun aber, da diese Fressorgien sich in körperlichen Gebrechen und Unbeweglichkeit äußerten, beschloss er, die geschäftlichen Dinge bereits am Tag zu erledigen und vor allem auf die Völlereien des Abends zu verzichten. Und siehe da, seitdem er es vorzog, sein bescheidenes Abendbrot in aller Stille und ganz privat in seinem Refugium einzunehmen, ließ der Druck auf die Gürtelschnalle aus Messing nach, die seit geraumer Zeit den Riemen um seinen Wams so eng zuschnürte wie ein Strick den Hals eines störrischen Lastenviehs. Auch die goldenen Knöpfe, die seine ansehnliche, mit zahlreichen Goldfäden durchwebte Wollweste nur noch mit Ach und Krach beieinanderhielten, dankten es ihm.

Die herrschaftliche Residenz, in der Bruno lebte, gehörte einem reichen Kaufmann, der sich seinerseits Otto von Brunswiek verpflichtet fühlte. Nicht von ungefähr hatte er sich dieses Haus ausgesucht, schließlich befand es sich unweit der Mauern des Kirchenstaates und somit fußläufig zum Zentrum des Glaubens – und vor allem der Macht. Immerhin beabsichtigte er, von Anfang an, seine Kontakte bis in die höchsten Kirchenkreise zu knüpfen und zu pflegen; die strategische Lage seines Zuhauses musste somit eine schnelle Verfügbarkeit seinerseits gewährleisten. Sollte einer der Bischöfe und Kardinäle – oder gar der Pontifex persönlich – nach ihm verlangen, so wollte er sichergehen, dass er binnen kürzester Zeit auf dem purpurnen Teppich des Hauptportals stehen konnte.

Bruno hatte sich schnell an das Leben und Klima im geschäftigen Rom gewöhnt.

„Seid mein Gesandter in Rom!“ Noch immer klangen ihm Ottos Worte in den Ohren. „Bruno, Ihr werdet es nicht bereuen und glaubt mir, ich kenne viele einflussreiche Personen in Rom. Ihr sollt Euren Weg gehen!“ Das war die Chance, auf die er sein Leben lang gewartet hatte.

Die erste herausgehobene Position, die er bekleidet hatte, war die des Dompropsts zu Coelln. Er erinnerte sich gerne an seine Einführung und daran, wie sein Vater, der alte Graf Eberhard von Sayn, mit stolz geschwollener Brust in der Domkirche Sankt Peter und Maria saß und vor der Zeremonie vom Erzbischof die Hand gereicht bekam. Und Bruno wusste damals schon, er hatte den ersten wichtigen Schritt in seiner Laufbahn getan.

Immerhin war er der dritte von vier Söhnen des Grafengeschlechts. Doch nur dem Erstgeborenen war es vorbehalten, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Der zweite Sohn diente als Ersatzlösung für die Absicherung des Fortbestands der Linie, während dem Dritten – wie auch seinem jüngeren Bruder Gerlach –, so sah es nun einmal die gesellschaftliche Gepflogenheit vor, nur der Gang ins Kloster blieb. Aber zum Mönch – gar zum Bettelmönch – fühlte Bruno sich ganz und gar nicht berufen. Im Gegenteil: Er konnte es durchaus genießen, vor allem hier in Rom, einen guten Wein zu trinken und sich ein gutes Stück Fleisch einzuverleiben. Auch die Vorzüge einer gemütlichen Bettstatt – die er auch nicht immer allein aufsuchte – wusste er durchaus zu würdigen. Dazu war er zu klug, zu ehrgeizig und viel zu ambitioniert, um irgendwo in einem düsteren Kloster sein Leben zu fristen; womöglich in einem Konvent wie er ihn in Heisterbach vorfand. Diesen kannte er, da sein Vater der Vogt dieses Herrschaftsgebiets gewesen und auch seine Frau Mutter dort zu Grabe getragen worden war.

Aber mit der Übernahme des Propstpostens in Coelln rückte auch jeglicher Gedanke, einmal ein Dasein als Bettelmönch zu fristen, in weite Ferne. Und wann immer sich ein lukrativer Wechsel anbot, ließ er sich nicht ganz uneigennützig darauf ein. So übernahm er einige Jahre später eine Propststelle in Confluentes am Rhein und weitere zehn Jahre später in Bonnburg, wo es ihm schließlich gelang, die Aufmerksamkeit des Welfenclans auf sich zu ziehen. Dieser stand zu jener Zeit im Zenit der Macht und schien sich endgültig in Sachen Machtanspruch gegen seine Widersacher, die Staufer, durchzusetzen. Bruno erkannte rasch, dass er es mit dem Protektorat der Welfen ganz nach oben schaffen könnte. So entsprach er natürlich dem Wunsch Ottos von Brunswiek, dem dritten Sohn des Welfen Heinrichs des Löwen, für ein Jahr nach Ahha zu gehen und dort die Position des Propsts an der Sankt Marien Kirche zu übernehmen. Und dies stellte sich für Bruno als Glücksfall heraus, da er somit die Krönungsfeierlichkeiten arrangieren konnte und anwesend sein durfte, als sein Protegé die Krone des römisch-deutschen Königs aufgesetzt wurde und sich somit gegen seinen durchaus machtvollen Gegenspieler, Philipp von Schwaben, durchsetzen konnte. Dieser war zwar ebenfalls bereits gewählt, allerdings noch nicht zum Stauferkönig gekrönt worden.

Bruno bekannte sich daraufhin offen, ein Vertrauter des Welfenkönigs zu sein, dessen Geschichte sich bis ins achte Jahrhundert auf den Hunnenfürsten Edekon zurückführen ließ. Die mit dem Faden der Geschichte engmaschig verwobene Machtstellung dieser Dynastie, die in dieser Zeit ihrem Höhepunkt zuzusteuern schien, ließ Bruno natürlich keine andere Wahl, als Otto von Brunswiek binnen weniger Tage seine Zusage zu erteilen. Verbunden mit dem fanatischen Streben nach höheren Weihen, machte er sich somit ein Jahr später in dessen Auftrag nach Rom auf. Als Gesandter des Welfenkönigs sollte er dazu beitragen, dass bestimmte Entscheidungen in die gewünschte Richtung gelenkt wurden. Mit der Macht der Welfen im Hintergrund, gelang es Bruno rasch, sich in der Heiligen Stadt zu etablieren. Allerdings gab es viele, die seine Abordnung ins Zentrum des christlichen Glaubens äußerst skeptisch sahen und dahinter einen größeren Plan der Welfen vermuteten. So erhielten diese Skeptiker natürlich ihre Rückendeckung wiederum von den Staufern – allen voran von Philipp von Schwaben.

Bruno erkannte sehr schnell, wie die Spielregeln lauteten und vor allem wie die Karrierepfade verliefen. Auch wurde ihm alsbald bewusst, wer, wo und an welchen Strippen zog. Es gab festgelegte Hierarchien. Den einen war es zugedacht, Macht auszuüben und zu verteilen, andere wiederum hatten – trotz eines gewissen Standes – einfach nur zu gehorchen. Und ihm war schnell klar, dass er zur herrschenden Autorität innerhalb der Kirche gehören wollte. Ich werde auf jeden Fall von der Macht kosten und mich möglichst bald voll und ganz an ihr laben!, dachte er eines Abends, als er sich wieder einmal in seine Kammer zurückgezogen hatte und über seinen Lebensweg sinnierte.

Fortan strebte Bruno zielsicher höheren Weihen entgegen und zur Führungsspitze hin. Vor allem den Menschen in herausgehobenen Positionen sollte schon bald sein Ehrgeiz auffallen. Mit klaren und rhetorisch tadellosen Worten zog er bei öffentlichen Auftritten die Aufmerksamkeit auf sich. In glühender Verehrung beschwor er in ausschweifenden Reden seine Loyalität hinsichtlich der spirituellen wie auch juristischen Anerkennung des päpstlichen Primats – was natürlich bei den Vertretern des Vatikans bestens ankam.

Bruno wurde sich von Tag zu Tag sicherer und er wusste, dass er einmal an der Spitze stehen würde. Und dann würde er die höchste Autorität in den Fragen der Lehre, des Glaubens und der Moral in sich vereinen. Er wäre es, der künftig die Regeln der Kirchenordnung festlegen würde. Vor allem aber würde er damit beginnen, im eigenen Stall aufzuräumen. Aufräumen mit dem miesen und heuchlerischen Klüngel, den er tagtäglich in und um die Mauern der altehrwürdigen Petruskathedrale miterlebte. All den rückgratlosen Speichelleckern und Schmeißfliegen, die ihm zuzuarbeiten hätten, würde er gehörig Druck machen. Die Männer, die ihm künftig zur Seite stünden, wären handverlesen. Widerspruch, wie ihn einige Erzbischöfe, oder gar dieser in seinen Augen arrogante Kardinal Sottobosco, sich derzeit herausnahmen, würde bei ihm nicht geduldet. Auch wenn die Weihe dieser Metropolen sie pro forma auf die gleiche Stufe stellte, wäre er der einzige Nachfolger Christi auf Erden. Ja, er wäre Papst Bruno I.!

* * *

Doch bis dahin füllten zahlreiche Termine Brunos täglichen Ablauf. So hatte er sich auch am heutigen Vormittag mit Kaleb getroffen, einem Gesandten aus dem Königreich Jerusalem, der vor wenigen Tagen im Vatikan eingetroffen war. Allerdings brachte dieser mit seinen schlechten Nachrichten aus dem Heiligen Land Brunos Stimmung auf den Tiefstand.

Kaleb war ein kleingewachsener Mann mit dunkler Haut. Sein Vater stammte aus Antiochia, während es sich bei seiner Mutter um die Tochter eines hohen römischen Verwaltungsbeamten handelte. Je nach Gesprächspartner hüllte er sich in leuchtend bunte Gewänder oder in dezente Beinkleider. Heute, da er mit dem Gesandten Ottos von Brunswiek sprach, trug er eine dieser modischen zweifarbigen Hosen. Während das linke Hosenbein rot leuchtete, war die andere Seite in einem dezenten Beige gehalten. Ein aufwändig bestickter, gelbfarbener Langmantel, den er von einem Turiner Tuchhändler gekauft hatte, verlieh seinem Erscheinungsbild eine seriöse Note und hob seine dunkle Haut noch mehr hervor. Sein tiefschwarzes Haar trug er zu einem Zopf geflochten.

Mit bebender Stimme berichtete er von einer für das Christentum vernichtenden Schlacht. Sultan Saladin habe mit über zwanzigtausend Mann und einem Heer von meuchelnden Mamelucken und Sarazenen der tapferen christlichen Ritterschar den Garaus gemacht. „Auf dem Schlachtfeld bei Hattin, wie Ihr vielleicht wisst, liegt dieses zwischen Akkon und dem See Genezareth …“

„Südlich der doppelten Hügelspitze, die als die Hörner von Hattin bezeichnet werden?“, hakte Bruno nach.

„Genau! Dort hatten unsere Ritter des Heiligen Kreuzes Christi und alle anderen Kämpfer, die für den christlichen Glauben eintreten, Aufstellung bezogen – allerdings von vornherein ohne Aussicht auf Erfolg!“

„Das ist furchtbar zu hören. Gewiss eine späte Genugtuung für den Sultan, nicht wahr?“

„Ja, Ihr spielt auf die Schlacht von Montgisard vor gut und gerne einem Jahrzehnt an. Das Schlimmste war damals für Saladin, und das weiß ich aus den intimen Kreisen des Sultans, dass sein Erzfeind Rainald von Chatillon an dieser Schlacht beteiligt gewesen war.“

„Ich habe davon gehört!“, bestätigte Bruno. „Rainald von Chatillon hatte sich die Missgunst Saladins dadurch erworben, dass er regelmäßig Karawanen von muslimischen Kaufleuten überfiel, diese in Ketten legen ließ und die Waren beschlagnahmte.“

„Dem war so. Die Karawanenführer vertrauten eigentlich auf den zwischen Damaskus und Arabien geschlossenen Frieden. Umso verärgerter ist Saladin, dass Rainald bis heute Schutz an der Seite des Königs findet; so nun auch bei meinem Herrn, Guido von Lusignan. Und dieser weigerte sich, Rainald von Chatillon auszuliefern. Stellt Euch vor, der Sultan hat dem König sogar angeboten, im Gegenzug Jerusalem zu verschonen. Wenn ich auch ansonsten nicht Kritik an meinem Herrn zu üben weiß, lehnte er diesmal fatalerweise das Angebot ab und leitete damit die größte Niederlage des Christentums ein!“ Kalebs Atem stockte und ein Zittern in seiner Stimme ließ erkennen, wie bewegt er war. Bruno sah ihn stumm an. „Doch das ist noch nicht alles! Das weitaus Schlimmste an dieser Niederlage, einmal abgesehen von den Tausenden, die ihr Leben ließen“, hier stoppte Kaleb erneut und senkte theatralisch den Kopf, um ihn dann mit einem Seufzer und gemächlichem Augenaufschlag wieder zu heben, wobei das Weiße seiner dunklen Augen leuchtete, „Das Schlimmste ist, dass das Heilige Kreuz von den Ungläubigen erbeutet wurde!“ Mit einem Mal traten Brunos Augäpfel hervor, als wollten sie herausspringen. Er konnte es kaum glauben. Tatsächlich erhielt er nun die verifizierte Bestätigung, dass das Kreuz Jesu, das die Christen auch als das Wahre Kreuz Christi bezeichneten, von den Ungläubigen geraubt worden war. „Und das“, damit schloss Kaleb seine Ausführungen theatralisch, „nachdem sie den Bischof von Bethlehem – ihm waren die Kreuzreliquien seit Jahrzehnten anvertraut – kaltblütig ermordet hatten. Gott sei seiner Seele gnädig!“

„Amen!“, bestätigte Bruno, sichtlich geschockt von diesen bestürzenden Neuigkeiten. Bruno empfand es als seine Pflicht, dem Sondergesandten des Königs Unterstützung zuzusagen. Natürlich würden die finanziellen Mittel aus dem Geldbeutel Ottos von Brunswiek kommen. Somit könnte dieser sich in vorderster Linie als Unterstützer von König Guido von Lusignan bezeichnen und sich rühmen, auf diese Weise die christlichen Werte im Heiligen Land gegen die große Zahl gefährlicher Ungläubiger zu verteidigen.

Aufgebracht und niedergeschlagen zugleich war Bruno im Anschluss an das deprimierende Gespräch mit gesenktem Haupt zum Abendgebet in den Petersdom geschlichen. Und ohne Gefahr zu laufen, in ein weiteres Gespräch verwickelt zu werden, zog er es nun vor, sich klammheimlich in sein Refugium zurückzuziehen. Heute wollte er niemanden mehr sehen.

Als er zuhause ankam, öffnete sein Diener Jeremiah ihm die Tür. Gerade wollte dieser ansetzen, ihm etwas – zumindest in dessen Augen – Wichtiges zu erzählen, doch Bruno winkte nur stumm ab. Jeremiah gehorchte. Wortlos folgte er ihm zur Schlaf- und Arbeitskammer. Dort nahm er stumm den Umhang seines Herrn entgegen und zog sich auf der Stelle zurück. Mittlerweile kannte er seinen Herrn wenigstens so gut, dass er das Aufbehalten der Kapuze und den zielstrebigen Gang zum Gemach als sichtbares Zeichen für den Wunsch deuten konnte, dass dieser ungestört bleiben wollte.

In der Zeit seiner Abwesenheit war der Raum stets verschlossen zu halten und niemand durfte ihn betreten. Bruno schob seinen Schlüssel, den er an einem stumpfen Eisenring mit zahlreichen anderen bei sich führte, in das schwere Metallschloss. Der Bart des Schlüssels hatte sich mittlerweile ein wenig verbogen und konnte seit geraumer Zeit nur mit kräftigem Ruckeln eingeführt werden. Plötzlich sah er, dass unter seiner Tür etwas hervorlugte. Es schien sich um ein Stück Pergament zu handeln. Fragend blickte er sich um, in der Hoffung, seinen Diener dazu befragen zu können. Doch Jeremiah schien sich bereits in Luft aufgelöst zu haben.

Unkonzentriert ob der unerwarteten Ablenkung, hantierte Bruno am Schlüsselloch herum, bevor es ihm schließlich gelang, den Schlüssel vollends einzustecken und umzudrehen. Ein lautes Knacken bestätigte, dass das Schloss den Schlüssel als den einzig wahren erkannt hatte und ihm die Öffnung erlaubte. Mit fast zitternder Hand umschloss Bruno fest die Klinke, drückte sie und lehnte sich mit seinem vollen Gewicht gegen die Tür. Ohne diese Prozedur konnte niemand das massive Blatt bewegen. Mit lautem Quietschen gab es den Weg frei. Bruno trat ein. Sein Kopf blieb gesenkt, aber nur damit er das geheimnisvolle Pergament im Auge behalten konnte, das sich vor ihm von dem grob geschliffenen, aber blank gewienerten Holzboden abhob. Schnell legte er seinen Beutel, indem er immer ein wenig Klimpergeld aufbewahrte, auf den kleinen Nachttisch. Zur Erfüllung eines der sieben Werke der Barmherzigkeit führte er dieses Almosensäckchen zur Unterstützung seines eigenen Seelenheils stets mit sich. Denn diesem war es zuträglich, wenn er ab und zu den Bettlern, die ihr Auskommen durch Belagerung von Kirchenpforten zusammenklaubten und deren Zahl täglich zuzunehmen schien, ein paar Münzen zuwarf.

Bruno nahm die Kapuze ab. Er hatte sich angewöhnt, unter seinem Umhang einen Kapuzenmantel zu tragen und mit aufgesetzter Kapuze den Weg von der Kirche nach Hause zu gehen. Irgendwie fühlte er sich darunter wohler. Gleichzeitig bot sich ihm die Möglichkeit, alles um ihn herum heimlich zu beobachten – und das hatte sich mittlerweile als äußerst vorteilhaft erwiesen. Bereits mehrfach war es ihm auf diese Weise gelungen, das eine oder andere konspirative Gespräch auf den Fluren und Gängen des vatikanischen Labyrinths oder auf der Straße mitzubekommen. Häufig nahmen die Gesprächspartner ihn aus der Ferne nicht gleich wahr und versäumten es, den brisanten Inhalt ihres Geredes auf einfaches Geplapper umzustellen.

Er hängte den Kapuzenmantel an einen Nagel, den er auf der Rückseite der Tür hatte befestigen lassen. Im Raum selbst war es unter anderem wegen der schweren dunkelroten Damastgardinen duster. Die Glut in der Feuerstelle glimmte wie ein pulsierendes Herz. Mit einem Holzspänchen entzündete er eine Kerze, die auf seinem Stehpult stand. Wie gebannt starrte er auf das unbekannte Schriftstück.

Natürlich war ihm nicht entgangen, dass Jeremiah ihm beim Eintreten etwas mitteilen wollte. Doch wie so oft hatte er seine Bemühungen mit einer Handbewegung abgetan. Schließlich hielt es der durchaus gutmütige und fleißige Kerl anscheinend für seine Pflicht, seinen Herrn unaufgefordert über alle Geschehnisse des Tages in und um das Haus herum zu informieren. Grundsätzlich schätze Bruno seinen Diener. Jedoch kam er nicht umhin, wollte er seine Ruhe genießen, ihm Einhalt zu gebieten oder seine Kapuzentechnik anzuwenden. Und nun lag dieser geheimnisvolle Zettel unter seiner Tür.

Der Schein der Kerze leuchtete den Raum schwach aus. Die Schatten im Zimmer tanzten aufgeregt an der Wand hin und her. Schnell entledigte er sich seiner Schuhe und pinkelte in den Nachtpott, den Jeremiah ihm stets ans untere Ende des Bettes stellte. Er rieb den feucht gewordenen rechten Fußrücken an seiner linken Wade ab und widmete sich dem rätselhaften Schriftstück.

Vorsichtig brach er das rote Siegel, das keine Spur des Verfassers trug, und begann zu lesen. Es schien sich um die Abschrift eines Briefs zu handeln – oder Auszügen daraus. Kann das sein? Verdutzt und erschrocken ob des eben Entzifferten rieb er zunächst seinen Spitzbart und kratzte sich anschließend an seiner kahlen Stirn, die mangels Haarwuchses in den letzten Jahren immer größer geworden war. Woher wissen die das? Soll das etwa heißen, dass …? Bruno war ratlos und geschockt zugleich. Vor allem wegen des Absenders: Die Strengen Augen Christi!

Civitas A.D. 1200. Das Geheimnis der Rose

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