Читать книгу Civitas A.D. 1200. Das Geheimnis der Rose - Christof Wolf - Страница 9
LEXEMÜHLE BEI SEVERUS
ОглавлениеArthur, der Müller der Lexemühle in Severus, hatte sich gerade erst in die Abendsonne gesetzt. Mit einem glimmenden Stöckchen, das er aus der Feuerstelle in der Küche mit nach draußen genommen hatte, entzündete er den Hanf seiner soeben mit Vorfreude gestopften Pfeife. Genüsslich zog er am selbstgeschnitzten Mundstück. Während er den Rauch tief inhalierte, lauschte er dem leisen Knistern, das die kleinen Fädchen von sich gaben, wenn die Glut sie in aromatischen Qualm verwandelte. Er rauchte stets nur eine Pfeife pro Tag, doch diese voller Genuss und vor allem zur Belohnung für einen harten Arbeitstag. Die Sonne näherte sich langsam den Baumwipfeln auf dem Ziegenberg und wollte alsbald dahinter verschwinden. Allerdings hinterließ sie ihm seit ein paar Tagen ein angenehm aufgewärmtes Mauersims, auf dem seine neue Scheune stand. Das alte Holzkonstrukt war im letzten Sommer hungrigen Flammen zum Opfer gefallen.
Über die Jahre hinweg hatten er und seine beiden Söhne es immer wieder instand gesetzt und regelmäßig im Frühjahr das morsche Strohdach geflickt. Sie brachten es einfach nicht übers Herz, dem maroden Gebäude den längst fälligen Todesstoß zu versetzen; schließlich war es eines der letzten Erinnerungen an Arthurs Vater gewesen. Sie wollten warten, bis das Balkenwerk tatsächlich so instabil wurde wie die losen Milchzähne in einem Kindermund und der nasse Schnee im Winter das Dach zum Einsturz bringen konnte. Dass zu guter Letzt der Brand im Sommer die längst fällige Aufgabe übernahm, war ihnen also gar nicht so ungelegen gekommen. Allerdings hieß dies auch, dass sie sich mit dem Errichten des neuen Baus sputen mussten, denn bis zur Einfuhr der Ernte und ihrer Wintervorräte im Herbst sollte er fertig sein.
Zunächst sammelten sie tagelang dicke Kiesel aus dem Bett des Holzbachs und brachen Basaltsteine aus einer Felswand in der gleichnamigen Schlucht. Diese wuchteten sie auf einen Wagen und transportierten sie über die sogenannte Heerstraße, die um die Schlucht herumführte, nach Hause. Feinsäuberlich schichteten sie die Brocken zu einem akkuraten Steinsockel auf, bevor sie darauf wiederum ein ordentliches Holzgerüst mit quadratischen Zwischenräumen errichteten. Diese füllten sie zunächst mit einem Weidengeflecht aus, bevor sie es mit Lehm bestrichen, in den sie Stroh untermengten. So entstand ein nahezu winddichter Belag und letztendlich ein ordentlich abgeschlossener Raum für ihre Wintervorräte – die nun, da der Winter sich langsam neigte, zu Ende gingen.
Voller Entzücken konnte Arthur vor wenigen Tagen feststellen, dass die wenigen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch das Meer aus grauen Wolken bahnten, ausreichten, um die schwarzgrauen Sockelsteine seines Schuppens bis in die Abendstunden aufzuwärmen. Somit erkor er diesen Platz für sich aus. Nachdem die Arbeit des Tages verrichtet war, ließ er sich auf dem kleinen Mauervorsprung nieder und lehnte sich gemütlich an die lehmgefächerte Fachwerkwand. Er stopfte sich ein Pfeifchen und genoss die wohlige Wärme an Steiß und Rücken. Und seine geschundenen Knochen dankten es ihm. Ob er es glauben wollte oder nicht, doch sie erinnerten ihn tagtäglich daran, dass er mit seinen mehr als vierzig Lenzen ins Lager des älteren Eisens wechselte. Die harte Arbeit in seiner Getreidemühle ging ihm immer schwerer von der Hand. Die Silhouette seiner drahtigen Figur von einst wurde mittlerweile von einem ordentlichen Bauch dominiert. Auch sein Kopfhaar war dünn geworden und die verbliebenen Strähnen, die er zu einem kleinen Zopf zusammenband, leuchteten fast schneeweiß. Tiefe Furchen in der gegerbten Haut seines Gesichts zeugten von einem Leben voll harter Arbeit.
Arthur war aber zufrieden. Die Mühle bescherte ihm und Emma, seinem Weib, ein gutes Auskommen. Sie brauchten sich kaum Gedanken darüber zu machen, wie sie ihre vier Kinder satt bekommen sollten. Den kleinen Geschöpfen, die durch die lehmigen Gassen von Severus liefen, ging es da nicht so gut.
Vor einigen Jahrzehnten hatte sich um das Kloster Sankt Severus eine Siedlung gebildet, umgeben von einem ständig zu erweiternden Weidenzaun. Der Urort, damals noch Nehrndorf genannt, hatte sich vor mehr als dreihundert Jahren unweit im Tal des weit mäandernden Elbbachs gegründet, dort wo er gemeinsam mit dem kleinen Schafsbach in den Holzbach mündete. Kurz zuvor, man schrieb das Jahr 879, ließ der politisch geachtete Graf Gebhard von Westerborg das Stift Sankt Severus in dem hufeisenförmigen Tal, unweit seines Sitzes, errichten. Die besondere Stellung des Grafen zeigte sich damals darin, dass zu der Weihzeremonie sogar König Ludwig III., wohlgemerkt ein Urenkel von Karl dem Großen, den Weg in dieses riesige unwirtliche Waldgebiet fand. Mit der Unterstützung Gebhards prosperierte Sankt Severus binnen kürzester Zeit. Über Schenkungen und Erbschaften sowie Erwerb oder Enteignungen konnten Besitztümer angehäuft werden, die sich bis zum Rhein hinab erstreckten. So wuchs auch der Ort Nehrndorf – doch nur bis zu dem Tag, als ein Unheil fast alles Leben vernichtete.
„Der schwarze Tod kommt langsam“, hatte der damalige Abt von Severus, Pius, während der Kapitelversammlung gesagt und ließ seinen Konvent nach außen abschirmen. Der Tod kam tatsächlich und fuhr eine große Ernte ein. Die wenigen Überlebenden der Seuche brannten Nehrndorf nieder und begruben die Reste unter einer dicken Schicht Erde. Zurück blieb lediglich ein kleines Meer mit Kreuzen, weshalb der Volksmund diesen Teil des Tals Kreuzern nannte und den Platz, wo einst das Dorf stand, sinnigerweise de Höll. So entstand kurz darauf, um die Steinmauern des Severusklosters herum, die neue Siedlung. In dieser siedelten sich Handwerkerfamilien an, die sich in den Dienst der Kirche stellten, und einige Bauernfamilien, darunter vor allem arme Ziegenbauern.
Und Arthur wusste, dass gerade diese Leute im Winter ums Überleben kämpften. Im Gegensatz zu denen des Lexemüllers sahen deren Kinder aufgrund des permanent an ihnen nagenden Hungers stets aus wie bleiche, hohläugige Gespenster. Und bei den abgemagerten Tieren – gerade am Ende des langen Winters – konnte man fast jede Rippe einzeln zählen. Gemeinsam mit ihren Ziegen hausten diese Menschen in armseligen Hütten am Fuß des Ziegenbergs, dessen Gras erst im späten Frühjahr vom tristen Grau in ein Lebenskraft spendendes Grün wechselte. Und erst dann würden sich ihre Tiere und Kinder wieder erholen. Erst dann war es ihnen vergönnt, täglich fettreiche Milch und vor allem Käse zu erzeugen, von dem sie auch wieder etwas ans kleine Kloster liefern konnten, was ihnen eine gewisse Zeit lang – zumindest bis in die ersten Winterwochen hinein – ein gewisses Auskommen bescherte.
Arthur war deshalb bewusst, dass er mit seiner Mühle privilegiert war. Allerdings hatte er sich seinen Beruf nicht aussuchen können, schließlich war er der einzige Sohn des Müllers Alexander und dessen Frau Katharina gewesen. Das Schicksal hatte ihm einen Weg vorgezeichnet und den zu gehen, war ihm nicht gerade leicht gefallen. Vor gut zehn Jahren musste er die Mühle seines Vaters von jetzt auf gleich übernehmen, nachdem dieser eines Tages regungslos neben dem großen Mühlstein gelegen hatte. Gemeinsam mit seiner jüngeren Schwester Marga und seiner Frau, schleppte er ihn damals unter den Augen seiner beiden Kinder in die warme Kammer hinter der Küche. Dort verstarb er wenige Tage später, ohne zuvor noch einmal zur Besinnung gekommen zu sein. Von diesem Tag an hatte ein hartes Stück Arbeit auf Arthur gewartet. Erschwerend kam hinzu, dass seine Mutter sich nicht von dem unvermittelten Schicksalsschlag erholte. Nach dem Tod ihres Gatten stellte sie zunächst das Reden und kurz darauf auch das Essen ein. So dauerte es keine zwei Wochen, bis Marga und Arthur ihren federleichten Leichnam auf den Gottesacker hinaustragen und sie gleich neben ihrem Mann bestatten mussten.
Von diesem Zeitpunkt an war Arthur endgültig der Lexemüller und musste von heute auf morgen die Rolle übernehmen. Er war der Ernährer, der für das Überleben derer verantwortlich war, die sich in seiner Obhut befanden. Hierzu zählten neben seiner eigenen kleinen Familie und der noch ledigen Schwester fortan auch einige Mägde und Knechte samt ihrer Familien. Arthur stellte sich seiner Aufgabe.
Mittlerweile hatten Emma und er sogar vier Kinder. Während er zunächst noch dachte, dass beide überhaupt nicht in der Lage seien, einen Stammhalter zu zeugen, wurden sie bald darauf eines Besseren belehrt. Nachdem Emma ihm seine Töchter Gertrud und Maria geschenkt hatte, die beide jedoch noch im Kindbett verstarben, erblickten zunächst Albert und zwei Jahre später Antonius das Licht der Welt, bevor ihnen weitere anderthalb Jahre später Hannah und nochmals drei Jahre später das Nesthäkchen namens Klara folgten.
Alexander, Arthur, Albert, Antonius. Diese Auffälligkeit kam nicht von ungefähr: Als Arthurs Großvater Rudolf seine Mühle vor vielen Jahren am Lauf des Holzbaches baute, erhielt er von Amos, dem damaligen Abt des Severusklosters, neben dessen Segensspende auch unentgeltliches Baumaterial aus den klostereigenen Wäldereien sowie einen für die ersten Jahre pachtfreien Boden. Dies verhalf dem jungen Müller schnell auf die Beine und bescherte ihm nach kurzer Zeit ein gewisses Auskommen. Dankbar für das Vertrauen, das Amos ihm entgegengebracht hatte, gelobte er, dass fortan alle seine männlichen Nachfahren in Gedenken an diese Ehre und den Namen des Abtes stets den Anfangsbuchstaben ‚A‘ in ihrem Vornamen tragen sollten. Als Rudolf schließlich im hohen Alter von mehr als sechzig Jahren verstarb, übernahm dessen Sohn Alexander die Mühle, weshalb sie fortan auch ‚des Alex’ Mühle‘ oder kurz die ‚Lexemühle‘ genannt wurde. Und Alexander setzte die mit ihm begonnene Tradition fort, indem er seinen einzigen Sohn Arthur und dieser wiederum seine beiden Söhne Albert und Antonius nannte.
Arthur sah zur Steinbrücke hinüber, die sich unweit seiner Mühle mit einem Bogen über den Holzbach spannte. Er musste daran denken, wie sie im letzten Jahr einen Teil ihrer Steinfracht für die Ausbesserung dieses alten Viadukts verwenden mussten, da das Hochwasser des letzten Frühjahrs ordentlich an dem Brückenbogen genagt hatte. Wenngleich ihnen die Steine auch beim Scheunenbau fehlten, waren diese Arbeiten durchaus notwendig geworden, da sie und zahlreiche Andere nicht auf den einzigen Weg verzichten konnten, der in die Holzbachschlucht führte und der sich alsbald in einen schmalen und nicht ganz ungefährlichen Pfad verwandelte. Den zu Fuß gehenden Reisenden, aber auch vereinzelt mutigen Reitern und geschäftigen Transporteuren mit Lastentieren bot er den kürzesten Weg von Severus zum nächsten Ort nach Seckaha, wo sich auf einer Waldlichtung zwei bedeutsame Handelswege kreuzten: Zum einen die nordsüdlich verlaufende Straße nach Sigena. Zum anderen die vom Rhein kommende, alte karolingische Heerstraße, die wiederum eine Querverbindung zu dem weiter westlich verlaufenden Handelsweg von Coelln nach Frankenvurd bildete. Nicht selten – daher ihr Name – eilten schwer bewaffnete Kompanien diverser Herrscher oder Söldnertrupps auf ihr entlang, um schnellstmöglich zum nächsten Schlachtfeld zu gelangen. Zum Glück umspannte die Heerstraße die in einem Talkessel liegende Gemarkung Severus in weitem Bogen, sodass die Truppen die kleine, im Talkessel liegende Ansiedlung Severus meist unbeachtet seitlich liegen ließen. Gleichwohl häuften sich in den letzten Jahren Übergriffe auf die Bevölkerung und ausgemergelte, aber schwer bewaffnete Kerle versorgten sich ungefragt mit Nahrung oder befriedigten gewalttätig ihre vernachlässigten männlichen Gelüste. Somit war es nur verständlich, dass die Menschen in Severus nach Schutz riefen und den Weg, der über die Steinbrücke durch die Schlucht führte, vorzogen.
Eigentlich müsste Antonius bald mit Kruzi und Fix zurückkehren!, dachte Arthur und stellte beim Betrachten der Brücke fest, dass die Ränder des Brückenbogens bereits schon wieder aussahen wie ein Stück Käse, an dem sich eine Maus gelabt hatte.
Kruzi und Fix? Was im ersten Moment respektlos klang und so gar nicht in die Zeit von tiefem Glauben und Aberglauben zu passen scheint, hat einen banalen Grund: Offiziell hießen die Tiere Kain und Abel, wie das verfeindete Brüderpaar aus der Bibel. Als seine Stute trächtig war, erwartete Arthur zunächst nur ein Fohlen – und dieses wollte er Kain nennen. Und dann sollte das nächste Tier ein ‚Abel‘ werden. Doch Mutter Natur hatte andere Pläne und schickte beide Tiere als Zwillingsfohlen zur Welt. Kein Wunder also, dass dem ansonsten so gottesfürchtigen Arthur ein „Kruzifix!“ über die Lippen kam. Und als die tierischen Zwillinge sich von Anfang an ständig gegenseitig neckten oder störrisch zeigten, war es Antonius gewesen, der den beiden ob der immer häufiger verwendeten Flüche ihre inoffiziellen Namen verpasste. Und die Vierbeiner, mittlerweile zu mächtigen Gäulen herangewachsenen, schienen die neuen Bezeichnungen zu akzeptieren. So reagierten sie selbst dann, wenn irgendjemand einfach nur entsprechend fluchte, indem sie abrupt stehen blieben, die Augen weit aufrissen und die Ohrenpaare wie Fähnchen im Wind ausrichteten. Antonius liebte die Rösser, die sich zu zuverlässigen Lastentieren entwickelt hatten. Mindestens zweimal pro Woche brach er mit ihnen zum herrschaftlichen Gehöft von Dagoberth Näher auf, das unmittelbar am anderen Ende der Holzbachschlucht lag. Dort lieferte er fein- oder grobgemahlenes Mehl und Schrot ab. Dieses Gemahlene nebst weiteren Hofprodukten wie Käse und Trocken- oder gar Pökelfleisch wurde anschließend von Näher Senior persönlich und seinem Hauptknecht Gregor mit einem großen Ochsengespann zur Waldkreuzung bei Seckaha transportiert, wo es entweder weiterverkauft oder gegen andere Gegenstände eingetauscht wurde. In der Regel erstand Näher dort auch wieder günstiges Getreide, das Antonius dann wiederum bei einer der nächsten Lieferungen zur Lexemühle mitnahm, um es schnellstmöglich und vor allem gemahlen zwecks Weiterverkaufs wieder zum Hof der Nähers zurückzubringen. Seit Jahren arbeiteten Dagoberth Näher und der Lexemüller Arthur eng zusammen.
Näher wusste die Dienste und die Qualität des Müllers durchaus zu schätzen, was er nicht selten in kleineren Aufmerksamkeiten ausdrückte; insbesondere im Frühjahr, wenn er, solange der Frost noch im Boden steckte, gleich mehrere Schweine und Rinder schlachten ließ. Natürlich bot er einen ordentlichen Teil der Würste und Schinken sowie des Specks und Rauchfleisches an der Waldkreuzung feil. Doch genauso behielt er einen großen Anteil dieser Leckereien für seine Familie, Gäste und Geschäftspartner zurück, zu denen seit Jahren auch der Lexemüller gehörte.
Arthur musste gerade an die vielen Köstlichkeiten denken, mit denen Näher ihn und seine Familie bereits bedacht hatte, das Wasser lief ihm mittlerweile im Mund zusammen, als ihn eine schrille Stimme aus seinen Wunschvorstellungen riss.
„Vater! Vater!“ Ungläubig hob Arthur seine buschigen Augenbrauen. Der Qualm aus seiner Pfeife umnebelte seinen Kopf und brannte für einen Moment in seinen Augen. War das nicht gerade die Stimme seines Sohnes Antonius gewesen?
„Vater, so eilt mir doch bitte zur Hilfe!“ Antonius schrie erneut, als er die Brücke erreichte und seinen Vater vor dem Schuppen sitzen sah. Dieser blickte ungläubig drein, als er seinen Jüngsten bemerkte, wie er ihm wild gestikulierend entgegenkam. Er runzelte die Stirn. Augenscheinlich schien ihm nichts zu fehlen. Auch die beiden Kaltblüter waren wohlauf und zudem ordentlich mit Säcken bepackt. Das wiederum bedeutete Arbeit – und Arbeit sicherte ihr Einund Auskommen.
„Vater! Kommt doch! Oh, kommt doch!“ Arthur erhob sich und ging seinem Sohn gemächlichen Schrittes entgegen, da er augenscheinlich keine Notwendigkeit sah, sich zu beeilen. Erst nach wenigen Metern bemerkte er, dass irgendetwas nicht stimmte; einmal abgesehen von Antonius’ flehendem Blick.
Hinter den bepackten Kaltblütern trabte ein weiteres Pferd. Bereits aus der Entfernung konnte Arthur erkennen, dass es sich nicht einfach um irgendein Ross handelte, sondern dass es eins der edleren Sorte zu sein schien. In seinem Leben hatte er noch nicht viele dieser Art gesehen, zumal ein solches Leichtgewicht mit Sicherheit nicht für die Feldarbeit geeignet war. Sie waren nicht dazu gedacht, Lasten zu tragen, geschweige denn schwere Wagen oder gar einen Pflug hinter sich herzuziehen. Dieses Tier dort, das grazil und leichtfüßig hinter seinen mächtigen Gäulen trabte, hatte eine gänzlich andere Bestimmung. Entweder handelte es sich um eines dieser Kurierpferde, die Adel oder Klerus sich hielten, um Nachrichten möglichst schnell von einem zu einem anderen Ort zu befördern. Oder aber dieses zarte, allerdings mit einem Stockmaß von mindestens einem Kopf über Arthurs Körper groß gewachsene Tier, trug normalerweise einen edlen Reiter auf seinem Rücken.
Der Müller kam näher und rief seinem Sohn zu: „Antonius, mein Sohn, wo kommst du denn mit diesem edlen Geschöpf her? Stammt es von einem edlen Kaufmann, der bei den Nähers nächtigt? Wie ich sehe, humpelt es ein wenig. Soll dein Bruder sich die Hufe anschauen?“ Doch noch ehe Antonius mit einer Antwort aufwarten konnte, sah Arthur plötzlich etwas, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Die wohltuende Wärme der Steine, die seinem Rücken und Steiß noch immer schmeichelte, wich einem abrupten Frösteln. Tatsächlich trug das fremde Pferd einen leblos scheinenden Körper auf dem Rücken. Wie einer der schweren Getreidesäcke, die von Kruzi und Fix rechts und links herunterhingen und bei jedem Schritt kurz wippten, so schlenkerten die Arme und Beine dieses armseligen Menschen mit jeder Bewegung seines Pferdes.
„Vater, er lag plötzlich vor mir rücklings im Bach! Beinahe, wenn Kruzi nicht gescheut hätte, wäre ich an ihm vorbeigegangen. Durch seinen dunkelbraunen Leinenmantel hob er sich kaum vom Erdboden ab. Auch sein Pferd habe ich erst später hinter einer Felsengruppe stehen sehen!“
„Wo hast du den Menschen denn gefunden? Lebt er überhaupt noch? Nicht dass wir nachher noch Scherereien bekommen und man uns vorwirft, wir hätten etwas mit seinem Unglück oder gar Tod zu tun!“ Arthur war ganz aufgeregt und nahm die Zügel des scheuenden Rappen. Er hielt sie ganz fest, um zu vermeiden, dass dieser stieg und seinen wehrlosen Herrn abwarf.
„Seid beruhigt, als ich ihn fand, atmete er noch. Allerdings ist er die ganze Zeit ohne Bewusstsein gewesen. Er lag auf der Höhe des Steinbruchs. Ihr wisst, ungefähr dort, wo wir im letzten Jahr die Steine für unsere Scheune und die Brücke herausgebrochen haben. Ich bin mir nicht ganz sicher, warum er gestürzt ist. Der Waldboden war an dieser Ecke relativ trocken und stabil. Vielleicht hat ein Tier das Pferd erschreckt. Es kann auch sein, dass der Reiter einfach vor Müdigkeit aus dem Sattel gefallen ist. Als ich gegen Mittag den Hof der Nähers erreichte, begegnete mir dieser Herr. Ich hob meine Hand zum Gruß und dachte noch bei mir, was für eine sonderbare Gestalt!“
„Wie meinst du das?“, hakte Arthur nach, während er sich den Mann etwas näher anschaute; tatsächlich konnte er ein leichtes Schnaufen vernehmen. Er lebt! Erleichtert atmete auch der Müller durch und bedeutete seinem Sohn, dass sie sich beeilen sollten, zur Mühle zu kommen, denn die Sonne verschwand allmählich mit rötlichem Schein hinter dem Ziegenberg und hüllte nach und nach die Landschaft in das graue Tuch der Dunkelheit.
„Also, als mir der Herr auf seinem edlen Ross begegnete, dachte ich zunächst, es wäre einer dieser Mönchskuriere. Ihr wisst, wir haben solche ja schon des Öfteren an unserer Mühle vorbeihetzen sehen. Doch dieser Reiter kam gemächlich näher. So konnte ich auch seine, für einen Mönch ungewöhnlich dunkle, sonnengegerbte Haut sehen. Also wir sehen ja schon, wenn wir im Sommer tagtäglich draußen unter der gleißenden Sonne arbeiten, so braun aus wie die Haselnüsse, doch dieser Mann sah aus, als sei er der Höllenglut entstiegen. Seine Bräune hat mit unserer Sommerfärbung nichts zu tun; einmal davon abgesehen, dass wir gerade erst den Winter hinter uns lassen. Ich muss gestehen, ich erschrak, als ich ihn sah. Unwillkürlich dachte ich, der Leibhaftige würde mir begegnen. Seht selbst, Vater. Sein zotteliger Bart sieht wüster aus, als der des dümmsten Ziegenbocks vom Geißen-Jupp.“ Arthur ging in die Knie und besah sich das regungslose Gesicht des Mannes. Sein Sohn hatte Recht, er sah sehr ungepflegt aus. Aber er atmete und das war ihm wichtig.
„Als er dann schließlich zu mir aufschloss“, setzte Antonius fort, „da löste er seine rechte Hand vom Zügel. Bei erhobenem Daumen richtete er seinen Zeigefinger auf mich und zeichnete ein kleines, aber gut zu erkennendes Kreuz in die Luft. Ich bekreuzigte mich ebenfalls und neigte meinen Kopf. Als ich wieder aufblickte, sah er mich mit einem milden Lächeln an. Doch dann blitzte plötzlich etwas Silbernes unter seinem Mantel hervor. Ich zuckte zusammen. Schließlich war ich gerade zu der Überzeugung gekommen, dass ich dort einem Geistlichen begegnete. Doch das, was ich dann sah, war eine Waffe – und was für eine! Das Heft des Schwerts glänzte wie das polierte Silber der Liturgiegefäße im Kloster. Die Verzierungen am Klingenschutz waren äußerst aufwändig. Nie zuvor habe ich eine schönere Arbeit gesehen. Wenn Albert das Teil sieht, wird er ausrasten und sicher nicht glauben können, was ein guter Waffenschmied alles aus Feuer und Eisen herstellen kann. Seht, es ist …“ Antonius wollte seinem Vater das Prachtstück von Schwert zeigen, als er feststellen musste, dass es nicht da war. „Verdammt! Ich glaube, er hat es beim Sturz verloren. Als ich ihn auf das Pferd gewuchtet habe …“
„Wie ist dir das gelungen? Schließlich bist du … nun, bei deinem Bruder könnte ich mir das noch vorstellen, aber im Vergleich zu ihm bist du doch ein wenig schmaler!“ Antonius rollte die Augen. Der ständige Vergleich, dass sein älterer Bruder und er in der Statur so unterschiedlich waren, nervte ihn. „Dafür bin ich vielleicht ein wenig wendiger im Geiste!“ Arthur huschte ein Lächeln übers Gesicht und er wusste, dass sein Jüngster diesbezüglich Recht hatte. Fast entschuldigend legte er seine Hand auf dessen Schulter.
„Nun erzähl, wie ist es dir gelungen?“
„Ich habe kurzerhand seine Beine mit einem Strick zusammengebunden und über sein Pferd geführt. Das Ende des Seils band ich an Kruzis Geschirr. Während ich bei dem Bewusstlosen blieb und sein Pferd hielt, gab ich dem Gaul das Kommando: Ho-hop! Daraufhin ging er wie gewünscht behutsam nach vorne. Also so, als würden wir einen Baumstamm aus dem Wald ziehen und ob der zurückschnellenden Äste vorsichtig sein müssen. Langsam hob sich der Körper aus dem Wasser und vorsichtig zogen wir ihn über seinen Sattel. Dort habe ich ihn dann festgebunden und bin losmarschiert, ohne auf die Waffe zu achten. Also muss ich gleich morgen in der Früh noch einmal losziehen und sie suchen. Ich muss das Schwert finden, bevor ein Anderer es tut!“
Arthur war beeindruckt von seinem Sohn und lobte ihn. Sie ereichten den Mühlenhof und er rief laut nach seiner Frau. Emma hielt zunächst erschrocken auf der Türschwelle inne, kam dann aber schnell heran. Hannah und Klara folgten ihr wie zwei Küken hinter der Henne. Synchron hüpften sie über die Steine und hatten alle Mühe nicht auszurutschen. Der Lehmboden war noch immer vom vor nicht allzu langer Zeit geschmolzenen Schnee aufgeweicht. Zudem waren die zahlreichen Bachkiesel, die Arthur und Albert im Herbst als Fußsteine über den ganzen Hof verteilt hatten, nun nach dem Sonnenuntergang glitschig feucht geworden und keine wirkliche Erleichterung. Als Emma den leblosen Mann sah, schlug sie beide Hände vor den Mund und unterdrückte einen Aufschrei. Doch was ihr gelang, schaffte Klara nicht. Sie schrie schrill und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Ist er tot? Ich habe Angst! Der sieht aus wie ein Teufel!“
Die Dämmerung ließ das arme Geschöpf, das nach dem grellen Aufschrei des Mädchens kurz zuckte und aufstöhnte, noch dunkler erscheinen, als es ohnehin schon zu sein schien. Emma beruhigte die Mädchen und bedeutete ihnen, sie sollten zurück ins Haus eilen. Sie trug ihnen auf, zwei Scheite Holz auf das immerwährend glimmende Küchenfeuer zu legen. Sie sollten Wasser in den Eisentopf füllen und diesen anschließend übers Feuer hängen. Die beiden Mädchen packten sich bei den Händen und verschwanden, wie ihnen ihre Mutter geheißen hatte.
Nun kam der schwere und auch spannende Moment: Die Person, die – das kurze Aufstöhnen hatte es bewiesen – doch noch am Leben war, musste vom Pferd genommen werden, ohne ihr dabei noch mehr Schmerz oder Schaden zuzufügen. Vom Aufschrei seiner kleinen Schwester aufgeschreckt, kam auch Albert gelaufen. Schnell ließ er sich von Antonius schildern, was dieser erlebt und vor allem, wen er im Schlepptau mitgebracht hatte. Während Antonius auf der einen Seite stand und das ordentlich zum Knoten vertäute Seil löste, nahmen Arthur und Albert den Körper auf der anderen Seite entgegen. „Wie hast du das nur geschafft, den Kerl auf das Pferd zu bekommen?“ Albert wunderte sich, schließlich war sein jüngerer Bruder nur halb so kräftig gebaut wie er. Nun taten sich selbst er und sein Vater schwer daran, den schlaffen Korpus vorsichtig auf die Erde zu bugsieren.
„Wir legen ihn heute Nacht in den Pferdestall. Dort ist es warm und wir laufen nicht Gefahr, dass er aufwacht und uns allen vielleicht etwas antut!“ Die Söhne sahen ein, dass ihr Vater Recht hatte, schließlich sah dieser Kerl, wer immer er auch war, nicht gerade vertrauenerweckend aus. Wer wusste schon, vielleicht hatte er sogar eine dieser ansteckenden Krankheiten, von denen man sich erzählte, und die ganze Ortschaften auslöschen konnten. Außerdem ließ sich der Stall von außen verschließen. Gemeinsam trugen sie ihn in den Hof hinab und legten ihn in einen ordentlichen Haufen Stroh. Albert holte schnell ein paar Jutesäcke, um ihn zuzudecken. Das Licht wurde immer spärlicher und so konnten sie kaum noch die Konturen des Mannes sehen. Eine Fackel zu holen, um den Raum ein wenig auszuleuchten, war ihnen – nach ihrem Erlebnis im Sommer des letzten Jahres, als es Albert gewesen war, der mit einer Fackel in der Hand auf einer von ihm mit den Füßen zerquetschten Ratte ausrutschte und somit die Scheune in Brand setzte – zu gefährlich.
Behutsam zogen sie dem Fremden die staubigen, aber sehr weichen, ledernen Reisestiefel aus. Der Mann schnaufte, als spürte er, dass ihm geholfen wurde. Vorsichtig lösten sie den Mantelgürtel und erkannten ein Kettenhemd, das am Nacken hervorlugte. Daraus schlossen sie, dass sein Rumpf an sich unversehrt sein musste. Augenscheinlich konnten sie auch keine äußerlichen Verletzungen an Kopf oder den Armen und Beinen erkennen, geschweige, dass irgendetwas auf Blutungen hinwies. Deshalb gingen sie etwas laienhaft davon aus, dass er somit auf jeden Fall die Nacht überleben müsste. Sie deckten ihn mit den Jutesäcken zu, schlichen nacheinander leise aus dem Stall und schoben von außen den Riegel vor. Nachdem auch Kruzi und Fix ihren neuen vierbeinigen Stallnachbarn und dessen bewusstlosen Herrn akzeptiert hatten, wurde es ruhig in der Mühle am Holzbach.