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Im Hier und Jetzt

Unbekümmerte turbulente Jahre in der Studentenzeit

Ein junger Mann, 23 Jahre alt, steht im Münchner Hauptbahnhof am Gleis und wartet darauf, abgeholt zu werden. Bekleidet mit einem dünnen Sakko, darunter ein Hemd mit Krawatte, eine dünne Stoffhose und feine Lederschuhe, sieht er aus, als ob er viel Wert auf sein äußeres Erscheinungsbild legen würde, aber für diese Jahreszeit in Deutschland ist er nicht gut gerüstet. Er scheint hier fremd zu sein.

Der erste Schnee ist gefallen, und das Warten in der Kälte wird zur Qual. Er hat von Paris, wo er aus Conakry kommend gelandet war, den Zug genommen, um direkt weiter nach München zu reisen. Dort soll er am Goethe-Institut Deutsch lernen und danach in Deutschland Chemie studieren. Chemie war keineswegs sein Lieblingsfach im Gymnasium, aber Chemiker wurden immer gebraucht in einem Land wie Guinea. Es gab und gibt in diesem Land sehr viele Bodenschätze (Bauxit, Gold, Diamanten, Eisen). Der damalige Präsident Sékou Touré wollte diese Schätze für das Land und seine Menschen nutzen; dazu brauchte er Fachkräfte. Die deutsche Botschaft in Conakry bot zu dieser Zeit Stipendien für Chemie und ähnliche Fächer an, und wer dann noch die richtigen Beziehungen zu den richtigen Personen hatte, der hatte die Fahrkarte in eine bessere Zukunft in der Tasche.

Jean Claude wollte Guinea aus verschiedenen Gründen verlassen. Das Studium war einer der Gründe. Dann war da noch die Neugierde auf Europa; viele seiner Freunde und Freundinnen aus dem Gymnasium waren in Frankreich, manche in der damaligen DDR, wenige in der BRD. Er wollte nicht nach Frankreich in das Land der ehemaligen Kolonialmacht, auch wenn er diese nur in seiner Kindheit erlebt hatte, denn 1958, als er 13 Jahre alt wurde, hatte sich Guinea die Unabhängigkeit erkämpft. Lieber setzte er sich mit dieser deutschen Sprache auseinander, die viele seiner Landsleute fürchteten. Auch seine Mutter war einverstanden, als er ihr von seinen Plänen erzählte. Sie machte sich Sorgen um ihren Sohn, der sich nicht scheute, laut Kritik an Staat und Obrigkeit zu üben, obwohl er die sozialistische Idee gut und richtig fand.

Wo bleibt nur die Person, die ihn abholen sollte – es ist unerträglich kalt. Warum hat ihn niemand vor diesem Land gewarnt? Oder hatte man ihn gewarnt und er hatte es nicht wissen wollen? Sicher war nur, dass er gut aussehen wollte, wenn er hier ankommt, denn der erste Eindruck ist wichtig, das hatte er schon in Guinea gelernt. Wer es sich einigermaßen leisten kann, achtet darauf, sich tipptopp anzuziehen, sobald er oder sie das Haus verlässt. Dieses Phänomen findet sich in vielen afrikanischen Ländern wieder und es hat ihn sein ganzes Leben hindurch begleitet. Jetzt war ihm aber so kalt, dass er am liebsten sofort wieder nach Hause gefahren wäre. So hatte er sich Deutschland nicht vorgestellt.

Der Tag ging gut zu Ende für Jean Claude, so hieß der junge Mann, denn er wurde dann doch von einem Mitarbeiter des Goethe-Instituts abgeholt und in eine Unterkunft für neu angekommene Studierende aus der sogenannten Dritten Welt gebracht.

Vier Monate Deutschunterricht im Goethe-Institut – JC erzählte gerne von dieser Zeit. Es waren da junge Menschen aus den verschiedensten Ländern, um Deutsch zu lernen. Sie machten gemeinsam Ausflüge, um diesem fremden Land näherzukommen. Auch gab es sogenannte Patenfamilien, die die jungen Leute an den Wochenenden zu sich nach Hause einluden. JC lernte auf diesem Weg schnell andere Menschen kennen, denn er war aufgeschlossen und alles andere als schüchtern. Natürlich verliebte er sich in die Tochter der Patenfamilie, sodass das ungewohnte Winterwetter, die neue Umgebung und die anderen Menschen nur noch selten Grund für Heimweh waren. Die Sehnsucht nach der Familie zu Hause blieb. Belustigt und ein wenig spöttisch erzählte er später, dass er Deutsch nicht im Goethe-Institut gelernt hatte, sondern es dem ausgiebigen Nachtleben in Münchner Diskotheken und Kneipen verdankte. Viele Geschichten gab es, die er später im Kreis alter Freunde unter viel Gelächter erzählte.

Erstes Weihnachten in Deutschland

Eine dieser Geschichten spielt an Weihnachten, dem ersten Weihnachten in Deutschland. Hier ist Weihnachten ein Fest der Familie. Es ist kalt, man bleibt zu Hause, stellt einen Weihnachtsbaum auf und feiert im Kreis der Familie, singt Lieder, isst und trinkt nach Herzenslust und folgt mehr oder weniger den gängigen christlichen Bräuchen.

Was war mit den Menschen, die allein waren, die keine Christen waren und die niemand kannten? Für die jungen Menschen im Goethe-Institut wurde das Weihnachtsfest organisiert. Es gab Familien in der Umgebung des Instituts, die die jungen Studierenden über die Feiertage zu sich nach Hause einluden, damit sie unser »schönes gemütliches« Weihnachten kennenlernen konnten. Jean Claude und weitere junge Männer wurden von einem Bauern in der Nähe Münchens eingeladen. Den jungen Ausländern war ein bisschen mulmig zumute, sie wussten nicht, was auf sie zukam. Am 24. kam der Bauer und holte die Gruppe in einem großen Auto ab.

Sie fuhren aufs Land und kamen zu einem großen Bauernhof. Der Bauer brachte seine Gäste in ihre Schlafräume und erklärte, dass um 18.00 Uhr Bescherung in der Stube sein würde und sie alle sich um die angegebene Zeit dort einfinden sollten. Als alle zur gegebenen Zeit in die besagte Stube kamen, war die Überraschung groß. In der Mitte des Raums stand ein riesiger Tisch, und um diesen Tisch saßen die fünf Töchter des Bauern. Weihnachten war gerettet, und es ist, wenn man Jean Claudes Erzählungen glaubt, ein sehr lustiges Fest geworden.

Leben im Hier und Jetzt

Anstatt Chemie zu studieren, entschied sich JC für Psychologie und begann sein Studium in Würzburg, in der Stadt, in der ich meine Jugendzeit verbracht hatte. Dort lernten wir uns im Winter 1970/71 kennen.

Unsere Geschichte begann in einem Studentenlokal. Zur damaligen Zeit hieß es Studentenkeller, eine Tanzkneipe, die nicht besonders gemütlich oder schick war, sondern leicht heruntergekommen. Es war die Zeit der Studentenbewegung, selbst in einer bürgerlichen Stadt wie Würzburg machte sich das an solchen Lokalen bemerkbar. Sie waren wunderbar geeignet, um jemanden kennenzulernen. Genau mit diesem Ziel fuhr ich an manchen Wochenenden aus dem näheren Umland Aschaffenburgs, wo ich arbeitete, nach Würzburg. Würzburg war meine alte Heimatstadt, es zog mich immer wieder dorthin. Jean Claude studierte hier, war Student in dieser Stadt, hatte hier seine Freundinnen und Freunde und kam mit der gleichen Absicht wie ich in dieses Lokal.


JC als Student in Würzburg, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten (1971)

Vom ersten Moment an war ich fasziniert von seiner beeindruckenden Persönlichkeit. Er wirkte nicht nur durch seine äußere Erscheinung – dunkelhäutig mit dem damals üblichen Afrolook der Haare –, sondern vor allem durch sein selbstsicheres Auftreten, wodurch er allen mitteilte: Schaut mich an, ich weiß was ich kann, ich weiß, woher ich komme, ich bin in einer Revolution groß geworden, ihr könnt mir nichts vormachen. Mit diesem Selbstbewusstsein zog er meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war mir klar, dass ich diesen Mann kennenlernen musste, dafür riskierte ich es, meine Vorsicht und Zurückhaltung zu vergessen. Die Tatsache, dass ich aus meinem kleinbürgerlichen Leben herauswollte, trieb mich zusätzlich an und machte mir Mut.

Der Anfang unserer Beziehung war aufregend, und obwohl ich schüchtern war, kamen wir uns schnell näher. Da ich in der Nähe von Aschaffenburg als Fachlehrerin arbeitete und lebte und er in Würzburg im internationalen Studentenwohnheim, trafen wir uns an den Wochenenden. Ich besaß einen R4 und fuhr meistens nach Würzburg zu ihm; er besaß kein Auto. Später erzählte er häufig teils im Spaß, aber auch mit durchaus deutlichen Hintergedanken, wie praktisch es für ihn gewesen sei, eine Freundin zu haben, die in einiger Entfernung lebte. Er mochte mich, aber er wollte sich nicht einengen lassen. Es war ihm wichtig, sein turbulentes Leben zwischen Studium, Freundinnen und Freunden aus dem In- und Ausland und seinem politischen Engagement ungetrübt weiterzuleben. Auch mir gefiel diese Art zu leben, und die Freiräume waren mir wichtig, um zu erfahren, was ich vom Leben wollte.

An den Wochenenden gingen wir aus, diskutierten, trafen uns mit Freunden, stritten und einigten uns wieder. Es war meistens eine glückliche und unbekümmerte Zeit, denn keiner übte Druck auf den anderen aus. Ich war verliebt, wusste aber, wenn ich Forderungen an ihn stellen würde, dann würde ich ihn verlieren.

Natürlich gab es auch Probleme. Er lebte in einem mehrsprachigen Umfeld, Deutsch, Französisch und mehrere afrikanische Muttersprachen. Ich sprach etwas Englisch aber kein Französisch. Wenn Freunde aus der Heimat zu Besuch kamen, wurde Französisch, Fula oder Susu2 gesprochen. Ich verstand kein Wort und ärgerte mich maßlos, manchmal fuhr ich dann gekränkt nach Hause und dachte an Trennung, aber nach längerer Überlegung verwarf ich diese Gedanken, da mir dieser Mann zu wichtig war, um ihn so schnell aufzugeben.

Ich hielt an dieser Beziehung von Anfang an fest. Woher kam die Sicherheit, dass er der Mann meines Lebens war? Ich weiß es heute noch nicht genau, es war einfach so. Vielleicht weil ich ahnte und hoffte, durch ihn eine andere und neue Welt kennenzulernen, eine Welt, von der ich als Jugendliche bereits geträumt hatte. Ich komme aus der fränkischen Provinz und war überwiegend in klösterlichen Internaten und bei Verwandtschaft groß geworden. Meine Kenntnisse über andere Menschen und Kontinente stammten vorwiegend aus Karl Mays gesammelten Werken, die ich in meiner Jugend verschlungen hatte. Später beim Lesen von Max Frisch und Hermann Hesse verstärkte sich das Gefühl, dass das Leben mehr sein musste als das, was ich bisher in meiner kleinen Welt zwischen Ippesheim (mein Heimatdorf in Mittelfranken), Würzburg und Aschaffenburg kennengelernt, erlebt und erfahren hatte. Seine Lebensvorstellungen waren damals noch davon geprägt, nach dem Studium in die Heimat zurückzukehren. So lebte er im Jetzt und im Hier. Auf seinem Schreibtisch im Studentenwohnheim stand das Bild einer jungen hübschen Frau. Auf meine Frage, wer das denn sei, antwortete er: Sie ist meine Schwester. Ein halbes Jahr später stand das Foto nicht mehr an seinem Platz, es war nirgendwo zu sehen. Als ich ihn fragte, warum das Foto verschwunden war, erzählte er, die junge Frau auf dem Foto sei nicht seine Schwester, sondern seine Verlobte, eine alte Schulfreundin aus dem Gymnasium. Er erklärte dann auch, dass diese Beziehung sehr kompliziert und sie – die Verlobte – zu weit weg in der Heimat sei. Danach sprachen wir nicht mehr darüber. Es war das erste Zeichen einer Veränderung.

Die Studienzeit in Deutschland war kurz. JC hatte gerade sein Vordiplom in Psychologie abgeschlossen, als die guineische Botschaft in Bonn alle Studierenden in der damaligen BRD und in ganz Westeuropa aufrief, ihre Gastländer zu verlassen und nach Rom zu reisen, um dort auf weitere Anweisungen zu warten. Dies bedeutete für alle Studierenden aus Guinea eine tiefgreifende Entscheidung: das nicht abgeschlossene Studium aufgeben, nicht wissen, wie alles weitergehen wird, eine unsichere Zukunft, aber dafür die Sicherheit, dass die Familie in Guinea keine Repressalien zu befürchten hat? Oder an Ort und Stelle bleiben, das Studium zu Ende bringen, mit der Hoffnung leben, dass der Familie nichts passieren wird und nach dem Studium dann in Ruhe nach Hause zurückkehren?

JC glaubte, die politische Lage in seinem Heimatland sehr gut zu kennen. Beeinflusst durch ein revolutionär geprägtes Elternhaus, in dem Frantz Fanons Schriften Pflichtlektüre für alle waren, und den in Deutschland erlebten Zeitgeist der 1968er Jahre, verließ er Deutschland 1971 Richtung Rom, um von dort aus möglichst schnell in ein anderes Land geschickt zu werden und das Studium fortsetzen zu können. In Italien begann eine Zeit des Wartens, der Frustration und der Erkenntnis, dass die Wahrheit viele Gesichter hat und manches dieser Gesichter sich bei genauer Betrachtung zur Fratze verwandelt.

EIN FRANKFURTER AUS AFRIKA

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