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5.: Erster Lorbeer, erste Narben: Roger wird zum Rebellen

„Ich liebte Rock’n’Roll, weil man ihn hasste!“

Roger Daltrey

Nach ihrer Evakuation aus London waren Roger und Irene Daltrey in einem ärmlichen Bauernhof in Schottland untergekommen. Es gab weder fließendes Wasser noch Licht, geschweige denn einen Herd oder elektrischen Strom. Der Brunnen lag zehn Minuten Fußmarsch entfernt, und zum nächsten Einkaufsladen ging man fast zwanzig Kilometer. „Ich glaubte nicht, dass wir überleben würden. Zum Essen hatten wir nur gekochte Kartoffeln. Ich konnte kaum gehen, und meine Hände konnte ich auch kaum bewegen“, erinnert sich Irene.

Dazu kam die Angst um ihren Mann, der als Schütze in Deutschland ­kämpfte,­­ und die ungewohnte Trennung von ihrer Familie. Dreizehn Monate verbrachten Roger und seine immer noch gehandicapte Mutter in der rauen schottischen Umgebung, bis der Krieg vorüber war und die kleine Familie endlich wieder in der Percy Road vereint war. Mit der Rückkehr seines Vaters setzt auch Rogers Erinnerung ein: ein fremder Mann mit Blechhelm, der hereinkommt und die ­Mutter küsst.

Roger war ein hübscher, blondgelockter Bub, der von seiner Mutter die ersten­ beiden Jahre nur in jungfräuliches Weiß gekleidet wurde. Doch alles Schutz­bedürfnis­ half nicht; Roger hatte ein Talent dafür, sich immer wieder in Schwierig­keiten zu bringen – um sie mit Pauken und Trompeten zu überstehen. Mit drei Jahren schaffte er es, einen langen Nagel zu verschlucken, der ihm operativ entfernt werden musste: „Mein Vater und ich spielten ein kleines Spiel: Versteck den Nagel“, erzählt Roger. „Ich dachte mir, dir werde ich’s zeigen, und steckte mir den Nagel in den Mund.“

Die beeindruckende Narbe, die er von diesem Eingriff zurückbehielt, sollte ihm zwar als Jugendlicher zum Vorteil gereichen, indem er sie zum Beweis einer angeblichen Messerstecherei vorzeigen konnte; die Folgen jedoch waren zunächst lebensgefährlich. Der Nagel war rostig gewesen, und über die Zeit hinweg hatte sich in Rogers Magen ein Tumor gebildet, der zwei Jahre nach dem Unfall aufbrach und den Fünfjährigen innerlich vergiftete.

Wieder lag Roger im Hospital, sechs Wochen, in denen seine Mutter fast verzweifelte. Da hatte sie ihren Sohn gegen so viele Unbilden durchgebracht, und nun sollte sie ihn wegen eines rostigen Nagels verlieren? Aber Roger kam durch, wieder einmal, und bewies jenen kämpferischen Instinkt, der ihn lebenslang auszeichnete.

Nach seiner Wiederherstellung wurde Roger Daltrey eingeschult. Zur Freude­ seiner Eltern war er ein begabter und lernwilliger Schüler, der besonders in Kunst, Musik und Sport gute Noten nach Hause brachte. Er lernte ein wenig Trompete spielen, sang in einem protestantischen Kirchenchor und trainierte sich beim Boxen Zähigkeit und Ausdauer an.

Roger erzählte seinen Biografen Tim Ewbank und Stafford Hildred, dass er sich im Arbeiterviertel Shepherd’s Bush sehr wohl gefühlt hatte und dort gern zur Schule gegangen sei: „Ich liebte die Lehrer; wir waren wie eine große glückliche Familie, und alle sprachen die gleiche Sprache. Aber als ich in die Acton Grammar­ School kam, war es, als hätte man mich den Löwen vorgeworfen.“

Die Acton Grammar School, die Roger so verabscheute, sollte noch eine wesentliche Rolle in der Geschichte der Who spielen und war eigentlich eine Auszeichnung für einen Jungen seiner Herkunft.

Das Schulsystem im Nachkriegsengland sah nach der fünfjährigen Grund­schule­ eine Zwischenprüfung vor, mit der über die Zukunft aller Kinder entschieden wurde. Wer das sogenannte „Eleven-plus“-Examen bestand, erhielt Zugang zur weiterführenden Grammar School und konnte damit später studieren; wer durchfiel, geriet in einen unterklassigen Ausbildungszug. Roger schaffte diese Prüfung­ mit Leichtigkeit.

Es war das Jahr 1955, und jeder, der sich mit Rockmusik beschäftigt, horcht bei diesem Datum auf: 1955 landeten Bill Haley & The Comets mit ihrem legendären Hit „Rock Around The Clock“ den ersten Welterfolg des Rock’n’Roll.

Es ist unzweifelhaft, dass alle vier Who-Bandmitglieder zwischen 1955 und 1959 vom Rock’n’Roll-Fieber unheilbar infiziert wurden. Roger, den Ältesten, erwischte es besonders intensiv. An einem Sonntag anno 1957 lauschte er wie gewohnt dem mittägliche Wunschkonzert der BBC, als ihn der Ruf aus Übersee ereilte: „Aus dem Lautsprecher kam diese Stimme von einem Typ – ich hatte noch nie so ein Geräusch gehört“, erzählt Roger. „Das war Elvis, der ‚Heartbreak Hotel‘ sang. Mein Leben änderte sich von da an schlagartig, denn nun tat ich alles, um Sänger zu werden.“

Durch die Veränderungen in seinem Leben war Roger für den Rock’n’Roll offen. Denn der Umzug der Familie Daltrey ins Mittelklasseviertel Acton traf ihn sehr hart: „Ich hatte bis dahin niemanden so sprechen gehört, all diese Aahs und Ouuuhs. Sie sangen sogar in diesem Feine-Pinkel-Akzent. Ich wusste davor nicht einmal, dass es soziale Abgrenzungen gab. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz.“

„The Bush“ war seine Welt gewesen. Dort gab es klare Regeln mit Faustrecht; es gab Bombentrichter, in denen man sich verstecken und prügeln konnte, schmierige Jugendliche, die rauchten und mit Mädchen knutschten; es gab Kanäle, in denen die Jungs fischten, und düstere Ecken, die man selbst dann mied, wenn man eine „harte Nuss“ geworden war wie Roger. Obwohl klein und zierlich von Statur,­ galt Roger als entschlossener Kämpfer, der sofort zum Angriff überging, wenn sich jemand etwa über seine spillerigen O-Beine lustig machte. Er wich keinem Streit aus und lernte früh, sich mit physischer Energie zu behaupten.

Zuhause freilich war der unbezähmbare Roger von fürsorglichen Frauen umgeben. Irene hatte noch zwei Mädchen geboren, Gillian und Carol; im alten Familienhaus der Daltreys in Shepherd’s Bush lebten zudem drei seiner Kusinen.

Vor Rogers Schulwechsel mietete Harry, der beruflich aufgestiegen war, in der Fielding Road 135, in Bedford Park, ein neues Haus an. Es befand sich nur wenige Kilometer nördlich der Percy Road, und doch trennte die beiden Gebiete eine Welt. Zwischen den wohlerzogenen Sprösslingen von Bedford Park und Acton fühlte sich Roger sofort als Außenseiter.

Die Grammar School in der Gunnersbury Lane, nahe der U-Bahnstation Acton Town, ist ein uneinheitlicher Gebäudekomplex der fünfziger Jahre mit einem wachturmartigen Backsteinvorbau, an den ein doppelstöckiger Trakt mit Klassenzimmern anschließt. Die meisten Schüler der Acton Grammar kamen aus den Mittelklassevierteln Ealing und Bedford Park, und Rogers Vater war stolz auf den sozialen Aufstieg seiner Familie. Doch Roger verachtete die neue Umgebung, weil er sich nicht damit identifizieren konnte.

Der damalige Hausmeister der Acton Grammar School, Alfred „Mac“ Mahon, erinnert sich, dass Roger „auffiel wie ein Kanarienvogel zwischen Spatzen. Er steckte­ immer dahinter, wenn etwas schief lief.“

An diesem Eindruck war Roger allerdings nicht schuldlos. Seit er Elvis und Buddy Holly gesehen hatte, kleidete er sich wie ein Teddyboy, mit geschmalztem Haar, Schaftstiefeln oder dandyhaften Schnürschuhen, aus denen pinkfarbene­ Socken vorlugten – unter grünen Hosen. Die passende Krawatte zum Five-Pocket-Jackett hatte er sich aus der offiziellen Schuluniform zurechtgeschnipselt, die er sich im übrigen zu tragen weigerte. „Ich beschloss, ich selbst zu werden, gleich um welchen Preis“, erinnert sich Roger an seinen verzweifelten Kampf gegen Autorität­ und Nivellierung im königlich-britischen Schulsystem.

Beim Klassenfoto weigerte er sich immer noch, die verhasste Schuluniform zu tragen, was ihm die Aufmerksamkeit des Direktors eintrug. „Roger war wirklich ein Außenseiter“, urteilte das akademische Schuloberhaupt Desmond Kibblewhite­ später. „Er war eine seltsame Mischung aus Liebe und Hass. Er war nicht dumm. Er war ein normaler Eleven-plus-Zugang. Aber sein sozialer Hintergrund hing ihm wie ein Mühlstein um den Hals.“

Roger, der proletarische Underdog im bürgerlichen Acton, identifizierte sich zu hundert Prozent mit der rebellischen Haltung seiner Rock’n’Roll-Idole. Neben Bill Haley, Eddie Cochran, Buddy Holly und natürlich Elvis, der 1957 mit „Heartbreak Hotel“ die Charts stürmte, war sein größter Held Lonnie Donegan, der britische Skiffleking. Mit Lonnie Donegan konnte sich Roger auch deswegen identi­fizieren, weil der ähnlich klein und zierlich gebaut war. „Von dem Moment, als ich Elvis und Lonnie hörte, wollte ich nichts anderes mehr machen.“

Das erfuhren auch seine leidgeplagten Eltern – vom Schuldirektor persönlich: „Alles, was ihn interessiert, ist Musik, Musik, Musik und sonst nichts.“

Nach der Schule hing Roger vor der Musikalienhandlung in Acton herum und studierte die Preisschilder der glänzenden E-Gitarren im Schaufenster. Das von ihm bevorzugte Instrument, Buddy Hollys Markenzeichen, kostete über hundertfünfundzwanzig Pfund, damals ein Vermögen. Doch tatkräftig, wie es seine Natur war, beschloss der Dreizehnjährige, eine solche Gitarre selbst herzustellen.

So unglaubwürdig das für einen Jungen von heute klingt, der einfach nur ­seinen Vater fragt und spätestens zum nächsten Geburtstag die gewünschte ­E-Gitarre­ in der Hand hält, so nahe lag der Entschluss damals. Das Königreich vibrierte ab 1957 unter dem Skifflefieber, der entschieden englischen Antwort auf die US-Musikinvasion. Überall schrammten junge Burschen über Waschbretter, zupften Besenstielbässe und trällerten dazu die neuesten Skifflehits. ­Skiffle­ war eine unkomplizierte Angelegenheit. Wer es sich leisten konnte, kaufte­ eine elektrische Gitarre­ und wurde zum Held an der Schule. Und wer kein Geld hatte, behalf sich eben anders.

Eines Nachmittags 1957 schleppte Roger zum Erstaunen seiner Eltern einen langen Holzblock nach Hause. Mit Lineal und Bleistift hatte er vorm Schaufen­ster des Musikgeschäfts Korpus, Hals, die Bünde und den Saitenabstand seiner Lieblingsgitarre kopiert, und nun machte er sich daran, ein getreues Abbild davon herzustellen. Mit Hilfe seines Onkels gelang es ihm tatsächlich, ein bespielbares Instrument zu fabrizieren, das dem Vorbild optisch kaum nachstand und überall mächtig Eindruck machte. Endlich hatte Roger etwas, das ihm Anerkennung einbrachte; er liebte seine selbst gefertigte Gitarre so innig, dass er sie sogar in den Urlaub ins Seebad Brighton mitnahm.

Die Eltern hatten Rogers Versuche, sich selbst Gitarrespielen beizubringen, bis dahin nicht sehr ernst genommen, obwohl der Junge Stunde um Stunde in seinem Zimmer übte. Doch als sie eines Abends die Strandpromenade entlang schlen­derten, bemerkten sie eine Menschenansammlung am Strand. In ihrer Mitte saß Roger, die Beine überkreuzt, die geliebte Gitarre, ein halbakustisches Instrument, in der Hand, und sang. Erst die Polizei bereitete dem ersten öffentlichen Auftritt eines Who-Musikers ein Ende, doch immerhin folgte ein kleines Engagement in einem Pub.

Allmählich begannen Irene und Harry in Betracht zu ziehen, dass ihr Sohn über genügend Talent verfügte, um seine Leidenschaft ernsthaft zu betreiben. Zuhause freilich gingen die Probleme weiter. Roger hatte eine Handvoll Gleichgesinnter um sich geschart, die an der Schule für stete Unruhe sorgten. Sie kümmerten sich nicht um das Rauchverbot, kegelten mit Milchflaschen im Gang, bemalten alle Glühbirnen rot, so dass die achtbare Erziehungsanstalt mit einsetzender Beleuchtung plötzlich wie ein Nachtklub aussah; sie störten den Unterricht mit Rock’n’Roll-Gesängen und die Jahresrede des Direktors, indem sie ein Mikro vor die Klospülung klemmten und deren Rauschen in die schulmeisterliche Ansprache mischten.

Diese technischen Fähigkeiten verdankte Roger auch dem Umstand, dass er inzwischen mit einigen aus seiner Gang eine echte Band gegründet hatte, die wohl zunächst nur Skifflehits nachspielte und damit sogar einen lokalen Talentwett­bewerb gewann. Sie nannten sich The Detours, und der vierzehnjährige Roger baute dafür weitere Gitarren und erste Verstärker: „Meine Gitarren­ waren gar nicht übel. Die letzte, die ich selber baute, war sogar richtig­ gut. Ich benutzte sie bis ungefähr 1962 auf der Bühne. Dann kaufte mir mein Vater eine neue ­Epiphone.“

Pete Towshend bestätigt: „Seine Gitarren waren ziemlich gut, nur die Hälse verbogen sich nach einiger Zeit.“

Da die oben genannte Gitarre Baujahr 1961 war, eine Epiphone Wilshire mit Solidbody, kann etwas an Rogers Rechnung nicht stimmen. Entweder bekam er seine erste richtige E-Gitarre schon 1959, wie andere Quellen behaupten (zum ­Beispiel Chris Charlesworth, Die illustrierte Who-Biografie, 1982), als absehbar war, dass sich seine schulische Laufbahn dem Ende neigte; oder er benutzte die selbstgebaute Gitarre nicht ganz so lange, wie er nachträglich meinte. In jedem Fall aber galt: „Musik war alles für mich. Nichts sonst interessierte mich.“

Zu dieser Schlussfolgerung kam 1959 auch Schuldirektor Desmond Kibble­white:­ „Roger war ein lebhafter Bursche. Wir hatten ein Jahr voller Ausein­andersetzungen. Oft ist nicht nachvollziehbar, was Jugendliche antreibt, wenn sie glauben, die Gesellschaft sei gegen sie. Da war nichts richtig Kriminelles an ihm. Aber wenn ein Junge mit den Taschen voller gestohlenen Toilettenspül­ketten­ erwischt wird, muss man was unternehmen.“

Der Schulmeister führte ein letztes, ein abschließendes Gespräch mit den Eltern. Roger wurde der Schule verwiesen, offiziell weil er das Rauchverbot wiederholt missachtet hatte; aber es gab auch Gerüchte, wonach ein Messer oder eine Luftgewehrkugel nahe am Auge eines Mitschülers die Entscheidung des Rektors beeinflusst hatte.

Rogers Eltern waren von dem Schulverweis geschockt. Ihr hoffnungsvoller Spross war als Unruhestifter gebrandmarkt und galt im ganzen Viertel als Raufbold mit zweifelhafter Zukunftsprognose. Schwester Gillian bestätigte das schlechte­ Image des späteren Who-Frontmanns. „Er war ein richtiger kleiner Tyrann.“

Roger selbst verteidigt sich gegen die Vorwürfe: „Ich habe mein ganzes Leben lang bedauert, dass sich keiner mit mir hingesetzt und mir erklärt hat, dass die Schule für einen selbst ist. Ich habe nie nach Streit gesucht. Ich habe nie jemanden grundlos verletzt, nur der Sache wegen. Aber ich konnte mich verteidigen.“

Dort, wo Roger herkam, durfte man nicht ausweichen, wenn man heraus­gefordert wurde. Man lieferte einen guten Kampf ab. Wenn jemand kaum einsfünfundsechzig groß war und von der Statur eines Kleiderschranks einiges ­entfernt,­ musste er vielleicht besonders aggressiv auftreten, um zu bestehen und seine Vorstellung vom Leben verwirklichen zu können: „Ein Junge von meiner ­Herkunft­ – welche Möglichkeiten, da raus zu kommen, hat er schon? Entweder du arbeitest in einer Fabrik und wirst ein Spießer. Oder du ergreifst, wenn bloß ein Funke des Wunschs nach Selbstverwirklichung in dir ist, einen von vier Berufen:­ Fußballspieler, Boxer, Krimineller oder Popsänger“, meinte Roger Daltrey.

Fußballer und Boxer wurde keiner von seinen Freunden. Einige landeten im Knast, wie Roger später herausfand. Die verbliebene Alternative nahm er fortan entschlossen in Angriff.

The Who - Maximum Rock I

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