Читать книгу The Who - Maximum Rock I - Christoph Geisselhart - Страница 13

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8.: Mondaufgang: Auf einer seltsamen Umlaufbahn

„Alle Lehrer liebten Keith.“

Schwester Linda über die angeblich sorgenfreie Schulzeit von Keith Moon

„Er brachte sich dauernd in Schwierigkeiten.“

Keith Cleverdon, Mitschüler und Nachbarskind

„Künstlerisch zurückgeblieben, in gewisser Hinsicht idiotisch.“

Kunstlehrer Harry Reed in Keiths Zeugnis 1958

Von einem Jungen, der im Schatten des legendären Wembleystadions aufwächst, einer der Gralsstätten des Fußballs, zu der manchmal hunderttausend ­Menschen­ pilgerten und von der Millionen anderer Jungs in der ganzen Welt träumten – von einem solcherart begünstigten Knaben sollte man erwarten, dass er wenigstens eine heimliche Neigung zu Sport und Fußball entwickelt, um dereinst in der ­ehrfurchtgebietenden Fußballarena von Wembley gegen das runde Leder treten zu können.

Nicht so Keith Moon. Die ersten Versuche seines Vaters, ihn für irgendeine Sportart zu begeistern, schlugen kläglich fehl. Keith war eigentlich für überhaupt nichts zu begeistern, was ein Mindestmaß an Ausdauer, Konzentration oder Disziplin erforderte. Spielsachen konnten seine Aufmerksamkeit genauso wenig binden, wie dies Lehrern oder Mitschülern gelang. Das einzige Medium, mit dem man Keith wenigstens für kurze Zeit zur Ruhe bringen konnte, war ein tragbarer Plattenspieler, später das Familienradio oder der Fernsehapparat. Die Eltern maßen diesem auffälligen Verhalten ihres Stammhalters zunächst wenig Bedeutung zu. Der Junge liebte es eben, im Mittelpunkt zu stehen und seine Umgebung mit allerlei Possen zu unterhalten. Erst als Keith eingeschult wurde, änderte sich das Bild.

Die Familie war 1949 ein paar Straßen weiter in die Chaplin Road Nummer 134 gezogen, nachdem Schwester Linda geboren worden war und der Vater eine besser bezahlte Stellung bekommen hatte, zunächst in einer chemischen Reinigung, dann bei der Stadtverwaltung von Wembley, was der brave Alf Moon als „Lebensstellung“ empfand.

Das neue Domizil am Barham Park unterschied sich vor allem durch einen größeren, halb überdachten Garten vom vorherigen Heim und war kaum einen Steinwurf von der Primary School entfernt, die Keith ab 1951 besuchte.

Die Grundschulzeit stand von Anfang an sehr unter dem Druck der bevorstehenden Eleven-plus-Abschlussprüfung. Keith war erst kurz vor der Einschulung sechs Jahre alt geworden und gehörte daher immer zu den Jüngsten in seiner Altersstufe. Doch statt sich ein- oder gar unterzuordnen, versuchte er seine Unterlegenheit mit Witz und Energie zu überspielen. Bei Schulaufführungen rannte er erst einmal über den gesamten Schulhof, bevor sein Auftritt auf der Bühne beginnen konnte; auf dem Klassenfoto mimte er seinen Lieblingshelden Long John Silver, der als wild grimassierender Pirat durch die Fernsehserie Treasure Island hampelte; im Unterricht zappelte er ständig herum, lachte, blödelte, furzte … zur Freude­ seiner Mitschüler, zum Ärger seiner Lehrer.

Namensvetter Keith Cleverdon, der um die Ecke wohnte und unter der Namensgleichheit immer dann zu leiden hatte, wenn ein Missetäter namens Keith gesucht wurde, erinnert sich sehr genau, dass sein aufgedrehter Mitschüler ständig­ Probleme hatte. Aber: „Es war ihm egal. Er dachte, es schert eh ­keinen,­ ob ich was lerne.“

Mutter Kit, obschon in heimlicher Sorge, dass ihr Sohn in der Schule anecken musste, nachdem er sich zuhause oft unbeherrscht und sprunghaft verhielt, wollte­ von Problemen nichts wissen. In ihrer Vorstellung blieb Keith der fröhliche Wonne­proppen, den alle liebten, auch wenn er den kleinen Fehler hatte, immer im Mittel­punkt stehen zu wollen. Die ganze Familie Moon schloss sich dieser Beurteilung an. Linda, die nach Keith in die gleiche Grundschule ging, glaubte, dass alle Lehrer­ ihren Bruder liebten, „weil er so ein liebenswertes Kind war“.

Doch die Stunde der Wahrheit rückte näher. Keith war erst zehn, als im Frühjahr 1957 das Examen der Elfjährigen anstand. Unglücklicherweise waren die Schülerzahlen in seinem Jahrgang auch noch besonders hoch, so dass strenger gesiebt wurde und Grenzfälle eher negativ bewertet wurden als in den geburtenschwachen Jahren zuvor. Zusammen mit seiner Unreife und der Konzentrationsschwäche, die man heute bei Schulkindern als ADHS-Syndrom (Aufmerksamkeitsdefizit-Störung) erkennt und frühzeitig zu behandeln versucht, war das Unheil vorhersehbar: Keith rasselte durch die Prüfung und verpasste damit unwiederbringlich den Anschluss ans höhere Bildungssystem. Reaktionen seitens der Familie­ sind nicht bekannt. Mutter Moon billigte anscheinend die Herabstufung ihres zweifellos intelligenten, aber schwer zu führenden Sohns, indem sie darüber­ hinwegsah – ein Muster, das über Keiths Tod hinaus durchgehalten wurde. In Interviews nach der Tragödie verwiesen die Moons stets auf die nüchterne, bodenständige Atmosphäre in ihrem Haus, die keine Anhaltspunkte bieten sollte für Speku­lationen. „Er hatte ein bisschen was von einem Einzelgänger“ gab Kitty Moon zwar zu, „und er langweilte sich schnell.“ Aber echte Schwierigkeiten ihres verwöhnten Söhnchens wollte sie nicht bemerkt haben.

Paul Bailey, der heute als Musikmanager eine Veranstaltungsagentur betreibt und in der Nachbarschaft der Moons aufwuchs, behauptet dagegen, dass Keith schon als Junge in der Klinik von St. Bernard’s, bei Southall, behandelt wurde, nachdem er seine Mutter mit den Fäusten traktiert haben soll. Auf Empfehlung der dortigen Ärzte soll Moon gar erst mit dem Schlagzeugspielen begonnen haben.

Diese Darstellung darf tatsächlich nur als Fama gelesen werden, bis glaubwürdige Dokumente das Gegenteil beweisen. Zudem wäre eine solche psychische Stigmatisierung ganz im Sinn des gewieften Exzentrikers und Medienprofis „Moon the loon“ gewesen, der später nichts ausließ, was ihm die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicherte. Sicher ist jedoch, dass in der ganzen Familie wenig Neigung zu entdecken ist, das immer erkennbarer werdende Problemverhalten des Stammhalters wahrzunehmen und offensiv anzugehen. Es wurde versäumt, dem labilen Jungen Grenzen zu setzen, und für Keiths auffällige Hyperaktivität und Lernschwäche wären stärkere Eltern vermutlich hilfreich gewesen.

Nach seiner verpatzten Prüfung musste Keith an die Alperton Secondary Modern School, eine tatsächlich nur als sekundär zu betrachtende Bildungseinrichtung südlich von Wembley an der Ealing Road. Die Schule war erst kürzlich erweitert und nach Geschlechtern getrennt worden. Fantasievolle, unbändig rastlose und verhaltensauffällige Kinder wie Keith dürften in einem so antiquierten System wenig positive Anregung empfangen haben.

Unter den Lehrern der Alperton Secondary School – das „Modern“ wurde bald wieder gestrichen – kursierten bald die tollsten Episoden über ihr neuestes Mündel. Keith wurde von seinen Lehrern inoffiziell „Sputnik“ getauft, nach jenem russischen Satelliten, der zeitgleich mit dem Schulstart ins All katapultiert worden war und im luftleeren Raum um sich selbst und die Erde kreiselte, unablässig ­sendend, funkend, unsichtbare Wellen ausstrahlend: im Grund ein recht zutreffen­des Bild von dem heranwachsenden Moon.

Im selben Jahr war auch Keiths zweite Schwester Lesley geboren worden. Ein zwölf Jahre jüngeres Mädchen im Haus dürfte selbst für Keith eine unschlagbare Konkurrenz um die Aufmerksamkeit der Eltern gewesen sein. Sicher bezog er daraus weitere Unsicherheit und noch mehr Drang, sich auffällig zu verhalten.

Immer noch verbrachte er einen Großteil seiner Freizeit vor dem Radio – und war dabei unweigerlich auf The Goon Show gestoßen, Britanniens erste Nachkriegsblödelsendung, die später die Monty Pythons zu ihrem anarchischen Comedykonzept inspirierte und sich auch in der abstrusen Komik der Beatles-Filme wieder­findet. Allwöchentlich sonntags sendeten die Goons – Peter Sellers, Harry Secombe und Spike Milligan, jeweils mit mehreren Sprechrollen betraut – ihren haarsträubenden Nonsense ans Radiovolk. Wenn Keith gewusst hätte, dass Milligan, der Begründer und Hauptautor der Goon Show, manisch depressiv war und sein ganzes­ Leben an dieser Krankheit litt, wäre er vielleicht vorsichtiger gewesen, ausgerechnet diesen Mann zu seinem Vorbild zu erklären. So aber lauschte er andächtig und nahm die aberwitzige, vielstimmige Exzentrik begierig in sich auf, um sie dann am Montag in halböffentlicher Runde auf dem Schulhof als perfekter Imitator wieder­ auszuspucken.

„Er konnte nicht bloß alle Stimmer nachahmen, sondern erinnerte sich auch genau an das Drehbuch der ganzen Show“, berichtete Bob Cottam, ein Mit­schüler, bei dem die Saat des Wembleystadions übrigens aufging, er wurde ein bekannter Kricketspieler. Zwei Jahre älter als Keith gehörte er zu einer Gruppe größerer Jungs, die den vorlauten Steppke wegen seiner Clownereien schätzten und vor Angriffen beschützten.

Denn „Sputnik“ Moon blieb auch in der Alperton School ein kurzgewachsener Teenager, der unter normalen Umständen allerhand Demütigungen körperlich überlegener Mitschüler hätte erdulden müssen. Allein sein Status als Witzbold, der bei allem Unfug bereitwillig mitmachte, bewahrte ihn vor der Unterdrückung.

Dabei schoss er gern übers Ziel hinaus, übertrieb sowohl in der Intensität wie auch in der Wahl seiner Mittel, je älter und selbstbewusster er wurde. Er kleidete­ sich auffällig, begann zu rauchen, legte sich ein rowdyhaftes Image zu und ging auf offene Konfrontation zu seinen Lehren, die angeblich darin gipfelte, dass er seinen Geografielehrer in den Schrank einschloss. „Man hatte bei ihm nie das Gefühl, dass er eines Tages berühmt werden könnte, eher dass er einmal im Gefängnis endete“, meint Namensvetter Keith Cleverdon rückblickend und bezog sich dabei vermutlich auf jene Episode, die erstmals die Polizei vor der Chaplin Road 134 auf den Plan rief. Keith hatte mit einem Freund die Handbremsen einiger parkende Autos gelöst, die daraufhin von ihren Stellplätzen auf die Straße­ rollten. Kein Wunder, dass bei so viel Spaßbedürfnis und Buhlen um die Anerkennung von Kameraden, die selbst nicht zu den Gewinnern des englischen Schulsystems zählten, die Noten von Lehrern für Keith wenig erfreulich ausfielen.

Dank der im Begleitheft des Who-Box-Sets Thirty Years Of Maximum R&B veröffentlichten Schulzeugnisse und dank Tony Fletchers Recherchen in seiner Moon-Biografie The Life of Keith Moon (1998) kennen wir auch die Sichtweise der Pädagogen. Basil Parkinson, Keiths Klassenlehrer im zweiten Jahr an der Secondary School, erinnerte sich noch nach vierzig Jahren problemlos an seinen ehemaligen Schüler: „Ich kann das Bürschlein noch genau vor mir sehen. Kleiner als die andern, hatte er gleichwohl das Talent, sich immer bemerkbar zu machen.“

Nicht alle Lehrer urteilten so gnädig über Keith wie Basil Parkinson, der in seinem Fach Mathematik 1959 immerhin „sehr langsame Fortschritte“ bei Keith feststellen konnte. Der Musiklehrer traf den Punkt recht genau, indem er zwar eine „große Begabung“ feststellte, aber zugleich unverblümt warnte, sein Schüler müsse die unübersehbare Neigung, sich aufzuspielen, in den Griff bekommen.

Am härtesten schlug Kunstlehrer Harry Reed zu. Moon sei „künstlerisch zurückgeblieben, in gewisser Hinsicht idiotisch“. Diese knallharte Note, auf einem offiziellen Schulbogen abgegeben, wirft ein trauriges, kaltes Licht auch auf den beurteilenden Pädagogen. Wie bei Roger Daltrey, der ebenso wenig ins Raster eines normalen Schülers im Nachkriegsengland passte, versagten in Moons Beispiel die Schule als Institution und mancher Lehrer in seiner erzieherischen Sorgfalt. Niemand machte sich die Mühe, dem labilen Jungen Grenzen zu setzen oder Sinn und Methodik des Lernens zu erklären.

Von seinem unsteten Naturell und einer geradezu unheimlichen Energie angetrieben, kreiselte Sputnik Moon weiter auf einer seltsam substanzlosen und wohl auch einsamen Umlaufbahn. „Ich kann mich nicht erinnern, dass er einen rich­tigen Freund gehabt hätte“, erinnert sich Wegbegleiter Keith Cleverdon. „Die meisten­ hielten wegen der ständigen Scherereien Abstand zu ihm.“

Dabei waren Moons Streiche nicht direkt bösartig, sondern von einer fast naiv zu nennenden Neugier geprägt, was er wohl damit auslösen würde. Die Suche nach dem perfekten „Practical Joke“ wurde für Keith fast zur Manie, die ihn auch selbst an seine Grenzen führte. Er nahm sich nicht aus von seinen Späßen, ­sondern­ wirkte eben dadurch komisch und manchmal auch bemüht, wenn er versuchte, Opfer, Lacher, Gaffer auf seine kapriolenreiche Satellitenumlaufbahn mitzunehmen. Und nichts, was er tat, konnte seine Aufmerksamkeit länger fesseln, als bis es vorüber war. Ob er ältere Damen mit dem selbst aufgenommenen Geräusch eines heranrasenden D-Zugs erschreckte oder den ersten und einzigen Boxkampf seines Lebens in der Zeitung abgedruckt fand („es sah aus wie ein spektakulärer Knock-out, aber tatsächlich ist mein Gegner nur über seine eigenen Füße gestolpert“): Alle lachten, staunten, klatschten oder fürchteten sich; allein Keith schien zu fühlen, wie wenig Substanz in seinen Aktionen steckte, weshalb er sich augenblicks zum nächsten Streich rüstete.

Im Sommer 1960 begann die Abnabelung von seiner Familie. Er war heimlich ein Muttersöhnchen gewesen, wie Cleverdon beobachtet hatte, und erst seine zweite­ große Liebe nach der Blödelei vermochte ihn von dieser emotionalen Abhängigkeit zu befreien: die Trommelei.

Doch wie kam es, dass der rastlose, unbeständige, lerngestörte Junge zu einem so schwer erlernbaren und relativ selten gewählten Instrument fand?

Die Legende vom klinisch verordneten Haudrauf-Schlagwerkzeug, das anstelle­ der eigenen Mutter bearbeitet wurde, haben wir bereits vernommen. Die biografische Wahrheit ist wohl eher bei einer Kette von Beobachtungen und Begegnungen zu finden, die Tony Fletcher in seiner sensiblen Biografie sehr ausführlich beschreibt – und sie lag wohl auch in Keiths kompromissloser Natur, die nach einem passenden Selbstausdruck suchte. Wie Roger Daltrey wählte er letztlich, was ihm half, die Grenzen seiner Herkunft zu überwinden, und was ihm die Möglichkeit zur Heilung bot. Selbst die unkritische Mutter zeigte sich verblüfft über die plötzlich einsetzende Hartnäckigkeit, mit der Keith das Schlagzeugspielen ­verfolgte: „Nachdem er einmal das Trommeln entdeckt hatte, wollte er nichts anderes­ mehr tun.“

Es begann wohl mit einer damals nicht unüblichen Mitgliedschaft des Zwölfjährigen im örtlichen Spielmannszug der „Seekadetten“. Auch Townshend und Entwistle hatten einer solchen pseudomilitärischen Jugendkapelle in ihrem Stadtteil angehört, allerdings mit größerem Erfolg. Keith brachte es mit Mühe zum halbwegs brauchbaren Fanfarenstoß auf dem Jagdhorn und scheiterte grandios an der nächsten Stufe, der Trompete, und zwar begleitet von der ihm eigenen komischen Zurschaustellung vor dem Rektor seiner Schule, der jeweils besonders begabte Musikschüler zum Morgenappell bat: „Zwei oder drei Jungs brachten ihre Instrumente mit und spielten ganz ordentlich“, berichtet Mitschüler Roger Hands. „Dann kam Moon mit einer Trompete auf die Bühne und kündigte an, er werde jetzt ,When The Saints Go Marching In‘ spielen …“ Die Aufführung endete im Chaos, und alle bis auf den Rektor hatten ihren Spaß.

Keith gibt in einer weiteren Anekdote preis, wie er zu Weihnachten mit der Trompete durch die Gegend zog und dadurch den finanziellen Aspekt des ­Musikmachens entdeckte: „Die Leute drückten mir eilig Geld in die Hand, damit ich weiterzog.“

Der Wechsel zu einem anderen Instrument lag nahe. Doch welches? Schon das Jagdhorn hatte seine Konzentrationsfähigkeit überfordert. Die Seekadetten unternahmen den Versuch, das Energiebündel Keith an die kleine Marschtrommel zu stellen. Doch Moon tauchte sofort bei der viel lauteren Basstrommel auf und bestand darauf, künftig die Nachwuchstruppe der Seekadetten mit gewaltigem Tam-Tam durch ihre Paraden zu führen.

Die nächste Inspiration war vermutlich ein Fernsehauftritt des Bigbandschlagzeugers Eric Delaney, der mitten im Stück auf seine Pauke sprang und zwei Basstrommeln mit den Füßen bediente. Das entscheidende Erlebnis für Keiths Erweckung­ zum Schlagzeuger war jedoch ein Kinofilm, den er besuchte: Drum Crazy, der Gene Krupa porträtierte, den ersten echten Star am Schlagzeug.

Krupa hatte zu jener Zeit eine schier unglaubliche Karriere hinter sich. Zu Anfang des Jahrhunderts in Chicago geboren, zog er als junger Mann nach New York, um mit den besten Bands seiner Zeit zu spielen. In den dreißiger Jahren wurde er von Benny Goodman engagiert und erreichte wegen seiner explosiven und extrovertierten Show bald den Status des Publikumslieblings. Immer mehr Zuschauer kamen allein wegen ihm ins Konzert, und so gründete er eine eigene Big Band, die phasenweise die größte der Welt war.

Sein Ruhm gründete jedoch nicht allein auf seiner außergewöhnlichen und stilprägenden Spielweise. Krupa war als Mensch wie auch als Pionier seines Instruments eine beeindruckende Persönlichkeit. Er trat in Filmen wie Manche mögen’s heiß an der Seite von Marilyn Monroe und Bob Hope auf und entwickelte das Schlagzeug mit enormer Lust und Verve zu jenem Instrument, das man heute darunter versteht. 1927 benutzte er als erster Drummer eine Fußmaschine, um die Basstrommel zu bedienen. In Zusammenarbeit mit dem Hersteller Slingerland setzte er den heute gängigen Standard, Hängetoms über die Fußtrommel zu ­montieren. Er vereinheitlichte den Gebrauch und die Namensgebung von Hi-Hat und Becken und erfand die Standtrommel mit stimmbaren Fellen – und nicht zuletzt auch das publikumswirksame Schlagzeugsolo.

Dieser Titan an der Schießbude hatte es Keith Moon augenblicklich angetan. Wild gestikulierend, lachend, mit den Zuschauern flachsend, die Trommelstöcke meterhoch in die Luft schleudernd, während er anscheinend mühelos weiterspielte­ – Gene Krupa war das perfekte Rollenmodell für den Imitator und Entertainer Moon, der eine Mischung aus Goon Show und Rock’n’Roll in seinem Leben ansteuerte. Auf den Rock’n’Roll war er gekommen, nachdem er, wie alle Altersgenossen, Bill Haley und Cliff Richard im Kino gesehen hatte und einen etwas älteren Jungen­ namens Frederick Heath aus dem Nachbarort Willesden auf der Bühne eines wilden Rock’n’Roll-Konzerts entdeckt hatte. Heath nannte sich Johnny Kidd und seine Band The Pirates und landete mit „Shakin’ All Over“ einen Rockklassiker, den The Who später in ihr Programm aufnahmen.

Die teils fernen, teils sehr nahen Vorbilder machten dem ziellosen Teenager Keith Moon aus Wembley, der aber hochfliegenden Träumen stets zugänglich war, deutlich, dass er durchaus die Chance hatte, am richtigen Ort zur richtigen Zeit zu sein. „,Shakin’ All Over‘ war für mich der Startschuss“, gestand er später. Und Gene Krupa lieferte ihm die erste Rollenvorlage, indem er bewiesen hatte, dass ein Schlagzeuger keineswegs bloß im hinteren, schlecht beleuchteten Bühnendrittel einen von Becken und Toms zudem noch halb verdeckten Rhythmusdienst zu verrichten hatte. Auch am Schlagzeug, dem Instrument, das Moons nach körper­licher Aktivität dürstender Natur am ehesten entsprach, konnte man ein Star werden.

Aber noch besaß er nicht einmal ein solches Instrument. Genauer betrachtet, war da auch nur geringe Hoffnung, dass Keith jemals eines besitzen würde. Schlagzeugspielen war damals ähnlich exotisch wie die Zupferei am elektrischen Bass – aber es war zudem noch viel teurer. Ein Drumkit kostete rund zwei Monats­gehälter­ des Arbeiters Alfred Moon, und Keiths Eltern hatten berechtigte­ Zweifel, dass ausgerechnet diese neueste Leidenschaft ihres vierzehnjährigen Sohns länger anhalten würde.

Außerdem gab es andere, wichtigere Probleme zu klären. Keiths letztes Schuljahr war angebrochen, und es stand nicht zum besten mit seinem Abschlussexamen. Nach den mageren Ergebnissen im Vorjahr hatte „Sputnik“ Moon den A-Zug verpasst und wurde in den B-Zug eingestuft, wo sich die Lehrinhalte aufs Wesentliche beschränkten und Literatur mit den von Keith so geliebten Marvel Comics gleichbedeutend war. Er überstand zwar die letzte Prüfung seiner Ausbildung im Frühjahr 1961 und wäre nun eigentlich gehalten gewesen, das Schuljahr im Juli in Ehren zu beenden. In der Praxis kam man jedoch überein, dass Keith, zusammen mit einigen anderen Rabauken, die allerdings das erforderliche Mindest­alter von fünfzehn Jahren schon erreicht hatten, vorzeitig entlassen wurde: „Ich wurde gefragt, ob ich gehen wollte. Das hieß, entweder man ging, oder sie warfen­ einen raus“, erklärte er später. „Mir war’s egal, ich hasste die Schule.“

Da stand er nun also, keine fünfzehn Jahre alt, mit einem zweitklassigen Schulabschluss und ohne reelle Chance auf einen Job, der seinen Vorstellungen von einem sorgenfreien Leben angemessen gewesen wäre, und träumte von einem eigenen Schlagzeug. Seine Eltern hatten ihn immerhin soweit gebracht, dass er dafür einen Aushilfsjob beim örtlichen Gemüsehändler annahm. Freilich ohne große Ausdauer. Bald belieferte er für eine Metzgerei die Nachbarschaft; unter anderem soll eine staksige Blondine namens Lesley Hornby, die als Popmodel Twiggy Furore machte, zu seinen Kundinnen gezählt haben. Die banale Wahrheit lautet allerdings eher, dass er sie möglicherweise einmal kurz erblickte, als er ihrem ehemaligen Schwager, der in Keiths Einzugsgebiet lebte, die bestellte Wurst ­aushändigte.

Angesichts von so wenig unterhaltsamen Gegebenheiten vor Ort zog es Keith immer öfter nach London Town. Das Stadtzentrum mit seinen unzähligen Möglichkeiten, sich zu verlieren, dem Konsum und Müßiggang zu frönen, Träume von Ruhm und Reichtum zu schüren und vage Hoffnungen auf Abenteuer erblühen zu lassen, war mit der U-Bahn schnell erreichbar und für einen verzogenen Wohlstandsjüngling wie Keith der perfekte Nährboden.

Bald stromerte er jeden Tag durch die pulsierenden Gassen von Soho, wo Musik und Kunst und Mode allgegenwärtig waren und wo man die verrücktesten­ Typen traf; dann weiter über die Old Compton Street, wo man schon viele Stars entdeckt hatte. Oder er marschierte zur Denmark Street, dem Zentrum der Musikindustrie, und hoffte, einen neuen Pophelden oder wenigstens ein Starlet zu sehen. Früher oder später landete er jedoch immer im West End, wo seine Träume handfeste Formen angenommen hatten – und zwar in den Musikgeschäften der Shaftes­bury Avenue.

Den für ihn wichtigsten Shop, Paramount Music, betrat Keith schon recht selbstbewusst. Wie immer in einen engen braunen italienischen Anzug mit schmalen­ Aufschlägen gekleidet, steuerte er schnurstracks durch die Schlagzeugabteilung auf einen etwa gleichaltrigen jungen Mann zu, der allerdings weitaus reifer­ und gepflegter wirkte.

Der Junge hieß Gerry Evans und war zufällig im Nachbarviertel Kingsbury aufgewachsen. Keith hatte ihn im Frühjahr 1961 im Paramount Music Shop kennen­gelernt, wo Gerry arbeitete, für vier Pfund zehn Schilling die Woche. Gerry hatte bereits ein Schlagzeug und bediente die besten Jazz- und Popschlagzeuger Englands. Er war ein Drum Maniac, und Keith war begeistert, dass er endlich einen Menschen gefunden hatte, der genauso fühlte wie er. Die beiden verbrachten­ in den nächsten anderthalb Jahren fast jeden Tag zusammen. Keith, der Flaneur und Gammler, und Gerry, der fleißige, strebsame Schlagzeugverkäufer fach­simpelten über ihre enthusiastisch geteilte Liebe, das Schlagzeug. „Wir haben uns nicht ein einziges Mal gestritten in achtzehn Monaten. Irgendwie kam es mir vor, als wäre ich der Bruder gewesen, den er nie hatte“, erklärte­ Gerry später. Auch ihm fiel auf, dass Keith keine anderen engen Freunde besaß, stattdessen aber mit jedem Bewohner Wembleys zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren leutselig Schwätzchen hielt: „Alle mochten ihn, weil er witzig­ war. Auch die harten Burschen.“

Die traf man beim abendlichen Streifzug durch die Vorstädte Londons, und während Gerry instinktiv in Deckung ging, um drohenden Schlägereien auszuweichen, marschierte der kleine Bursche an seiner Seite geradewegs auf die herumlungernden Gangs zu und begrüßte jeden mit großem Helau. Gerry beeindruckte­ das nicht wenig. Wie überlegen musste Keith erst hinterm Schlagzeug auftrum­pfen, wenn er dieses weitaus gefährlichere Spiel so routiniert beherrschte?

Gerry lud seinen neuen Freund bald nach Hause ein, um auf seinem Drumkit ein paar Takte zu spielen. Der Schock war immens: „Er hatte keine Ahnung, was er damit anfangen sollte. Er drosch bloß auf alles ein, was in Sichtweite war, und fabrizierte einen Riesenlärm. Für mich war das a) genau das, was man nicht tut, und b) klang es nach Müll. Es war, als hätte ich mit einem Bekloppten zu tun … Keine Chance, dass dieser Typ jemals ein professioneller Drummer werden könnte … Er war der schlechteste Schlagzeuger, den ich im ganzen Leben gesehen habe.“

Keith selbst gestand später in der im eigenen entwaffnenden Offenheit ein: „Ich sagte den Leuten immer, dass ich ein Schlagzeuger sei, noch bevor ich ein Schlagzeug hatte – ich war ein Psychodrummer.“ Gerry hingegen war ein realer Drummer, und er riet dem Bruder im Geiste dringend, sich baldmöglichst eine eigene Schlagzeugausrüstung zu kaufen und zu üben, zu üben, zu üben …

Keith schien diesem Vorschlag nicht abgeneigt; in der praktischen Umsetzung jedoch hakte es merklich. Anstatt sich ernsthaft einen Job zu suchen, mit dessen Verdienst er das erträumte Instrument auf kurz oder lang hätte erstehen können, nahm der Mentalmusiker Moon seine Flanierstunden im Londoner West End wieder auf und fantasierte weiter, was er lediglich mit weiteren Versuchsläufen zum bestmöglichen Practical Joke unterbrach.

Zwei besonders gesegnete Varianten aus dieser Zeit sind dank Gerry Evans eindrücklich überliefert: „An der U-Bahnstation Baker Street gab es eine lächerliche Rolltreppe mit roten Lämpchen am Armlauf. An diesem speziellen Tag tauchten­ wir dort während der Hauptverkehrszeit auf, und als wir oben standen, leerte­ Keith seine Tüte mit Kaffeebohnen über der Rolltreppe aus.“ Bald pfiffen hunderte­ von Kaffeebohnen durch die Luft, und die Leute auf dem Weg nach oben stolperten schimpfend übereinander.

Ein andermal wurde Keith auf der Rückfahrt vom Piccadilly Circus, wo sie ihre Lieblings-Sandwichbar hatten, in der völlig überfüllten U-Bahn unvermittelt schlecht, „sehr schlecht“, wie er dauernd betonte, während er in der stickigen Luft immer bleicher wurde. Die gut gekleideten Geschäftsleute in seiner Nähe rückten besorgt auseinander. Keith starrte sie direkt an: „Ich glaube, ich bin krank.“

Er wurstelte eine braune Papiertüte hervor und erzeugte damit die erbärmlichsten Geräusche, die je in einer U-Bahn vernommen wurden. Die Passagiere blickten betreten zur Seite, und selbst Gerry fragte sich besorgt, ob dem Freund wirklich übel geworden war. Schließlich tauchte Keith mit feuchten Lippen aus seiner Papiertüte wieder auf, einen tiefen Rülpser hervorpressend, und hielt die offenbar zum Platzen gefüllte Tüte weit von sich, mitten hinein in die zurückweichende Menge der Mitreisenden, so dass eine komfortable Raumsituation um die beiden heimfahrenden jungen Männer entstand, die sich durch gelegentliches Aufstoßen oder schwankende Armbewegungen mit der bedrohlichen Tüte jederzeit noch verbessern ließ.

Dieser Auftritt wirkte so erfolgreich, dass Keith ihn gern wiederholte, wenn es ihm in der U-Bahn zu eng wurde. Auf dem Bahnsteig zauberte er dann oft einen Schokoriegel aus seinem braunen Anzug, den er vor ihrem Besuch in der Sandwichbar noch nicht besessen hatte.

„Hast du den etwa mitgehen lassen?“ fragte Gerry entgeistert.

„Keine Sorge“, meinte ein vergnügter Keith, „für dich hab ich auch einen ­mitgenommen.“

Diese kleinen Aufmerksamkeiten häuften sich zeitweise, so dass Gerry sich bald schämte, mit einem Taschendieb befreundet zu sein. Bei seinen Besuchen im Hause Moon lernte er Keiths Eltern kennen: „Sie waren so furchtsam und still, dass er wahrscheinlich als Reaktion darauf extrem anders wurde.“

Gerry bemerkte noch eine weitere Besonderheit: Das Wohnzimmer in der Chaplin Road 134 war durch einen dicken, schweren Vorhang in der Mitte getrennt. Auf der einen Seite wurde nur gegessen, auf der anderen Seite befand sich der tatsächliche Wohnraum. Keith benutzte diesen merkwürdigen Behang wie einen Theatervorhang, indem er seinen Kopf hindurch streckte und Grimassen schnitt: „Allen erschien das ganz normal.“

Gerry, der praktisch veranlagte Drummer, trat bald in eine Band ein, die sich Lee Stuart & The Escorts nannte und jeden Sonntag im Hinterzimmer des Prince Of Wales, eines Pubs in Kingsbury, probte. Lee Stuart war das Pseudonym für den Sänger Tony Marsh, dem Keith Moon später mit The Who wieder begegnete,­ als er einer der vielen Tastenspieler war, die Lord Sutch im Lauf der sechziger Jahre verschliss. Bei den Escorts machten neben Marsh und Drummer Gerry Evans noch die beiden Gitarristen Rob Lemon und Roger Painter sowie Bassist Colin Haines mit. Alle waren in der gleichen Straße, Brook ­Crescent in Mill Hill, aufgewachsen.

Keith durfte manchmal mit den älteren Jungs jammen, wenn er Gerry half, das Schlagzeug zu transportieren und dort aufzubauen. Großes Talent versprühte er dabei laut Augenzeugenberichten nicht – wie sollte er auch, besaß er doch kein Schlagzeug, auf dem er üben konnte. Insofern ließ sein Taktgefühl sehr zu wünschen übrig, und er schien die Hälfte der Zeit wie ein Phantombild seines Idols Krupa über Trommeln zu wirbeln, die gar nicht vorhanden waren. Trotzdem waren die anderen von Keiths Enthusiasmus, Charme und Witz begeistert.

Im Herbst 1961 unternahm Keith den letzten Versuch, einen bürgerlichen Beruf anzustreben. Er absolvierte einen Abendkurs am Harrow Technical College und bewarb sich bei einer Elektronikfirma, wo er kurz darauf eine untergeordnete ­Stellung antrat. Er wusste, dass er die tägliche Routine nicht lang durchhalten konnte,­ aber er brauchte Geld, um sich ein Schlagzeug zu kaufen und seinen ­Status­ als Dandy und modebewusster Stutzer aufrecht zu erhalten.

Bei seinen Wanderungen durch die Londoner Szeneviertel hatte Keith schon das passende Outfit für seine Träume entdeckt: einen echten Bühnenanzug aus Goldlamé. Das exquisite und reichlich extravagante Teil hing vorerst weit außerhalb seiner Reichweite im Schaufenster des für exklusive Klientel und pompöse Designs gerühmten Bühnenausstatters Cecil Gee. Das Teil kostete ein Vermögen. Doch Keith, plötzlich überraschend bodenständig in seinen himmelhohen Imaginationen, trug allwöchentlich ein Pfund in die Wardour Street und ließ sich den goldenen Anzug schon mal anpassen. „Eines Tages werde ich ihn auf der Bühne tragen“, prognostizierte er seinem Freund Gerry, der so ein protziges Glitzer­gewand nicht einmal zum Kostümball angezogen hätte. Doch Gerry wusste: Wenn jemand den Mut besaß, in dieser glitzernden Montur auf der Bühne Schlagzeug zu spielen, dann Keith Moon.

Gerry hatte sich inzwischen als Verkäufer merklich weiter entwickelt. Er verdiente jetzt besser, hatte aber immer weniger Zeit für den Freund. Als Keith eines Samstags in den Paramount Music Shop schaute, nahm er ihn beiseite und zeigte­ auf ein glitzerndes silberblaues Schlagzeug: „Siehst du das wunderschöne Premier-Kit da drüben? So gut wie neu. Das wäre das ideale Schlagzeug für dich. Ich kann’s dir für fünfundsiebzig Pfund anbieten.“

Ein Schlagzeug! Für fünfundsiebzig Pfund! Keith ging fast in die Knie. Er hatte gerade erst angefangen zu arbeiten, und fünfundsiebzig Pfund entsprachen dem Lohn von vier Monaten! Aber der Preis schien mehr als verführerisch. Laut damaliger Preisliste kostete ein Premier-Kit „55“, wie Keith es erwarb, neu insgesamt über fünfhundert Pfund. Insofern war es wirklich ein außergewöhnlich gutes Angebot, das Gerry seinem Freund machte. Nur: Wie sollte er es bezahlen?

Gerry meinte: „Keine Sorge, ich hab’ mit meinem Chef gesprochen. Du kannst fünfzehn Pfund anzahlen, und den Rest machst du in Raten. Da merkst du gar nicht, dass du dafür bezahlst.“

Auf diese Weise wurde Keith Moon eines der ersten Opfer des in England gerade­ aufkommenden Kreditkaufunwesens. Da er nicht volljährig war, benötigte­ Gerry die Unterschrift eines Elternteils. Keith brachte seinen Vater dazu, für den Betrag zu bürgen (und natürlich letztlich dafür aufzukommen), und Gerry war erleichtert, dass sich seine heimliche Befürchtung, Keith werde die Signatur seines Vaters fälschen, als unzutreffend erwies.

Er half dem Freund, das in Dutzende Schachteln verpackte Schlagzeug mit der U-Bahn nach Hause zu transportieren. Diesmal gab es während der Fahrt weder Brechreiz noch geklaute Schokoriegel; dann wurde das fast neue, glitzernde ­Premier-Drumkit vor dem schweren Vorhang im Wohnzimmer der Moons aufgebaut, Keith schwang sich hinter die Trommeln und legte unter den besorgten Blicken­ seiner Mutter los. „Wie ein kompletter Irrer“, erzählt Gerry. „Nicht die Spur von Takt, wie ein Verrückter.“

Wenn Gerry, der frühe Zeuge von Moons Bemühungen, ein durchweg vernichtendes Urteil über dessen Taktgefühl abgibt, so muss immer in Betracht gezogen­ werden, dass er unter Keiths Unbeschwertheit bald zu leiden hatte. Zum einen dauerte es nicht lange, bis Keith dem Freund auf nicht ganz saubere Weise seinen Platz in der Band streitig machte. Zum anderen wurden Keiths Späße immer grenzwertiger und derber, je mehr er an Selbstbewusstsein gewann.

Und das geschah so: Da er nun endlich sein eigenes Schlagzeug besaß und mit ein paar Jungs aus der Nachbarschaft eine wenig hoffnungsvolle Gruppe namens The Altones gegründet hatte, wurde ihm klar, dass er sein Idol Gene Krupa nicht ebenso leicht imitieren konnte wie The Goons. Er brauchte praktischen Anschauungsunterricht und ein erreichbares Vorbild. Mit seinen neuen Freunden, The Escorts, was auf Deutsch bezeichnenderweise „die Begleiter“ heißt, verfolgte er 1961/1962 sehr genau die lokale Szene. Zwei Bands beeindruckten die Jungen vor allen anderen: der schon erwähnte Johnny Kidd aus der Nachbarschaft mit seinen­ Pirates und The Savages, angeführt von ihrem Leadsänger Screaming Lord Sutch, der als Begründer des Monsterrocks gilt und junge Musiker wie Alice Cooper­ oder Ozzy Osbourne zur Nachahmung anstiftete.

The Savages waren jedoch keineswegs bloß eine effektvoll agierende Showband, sondern allesamt hervorragende Musiker. Unter dem selbsternannten Lord, der 1940 ganz bürgerlich als David Edward Sutch geboren worden war, erhielten­ britische Rockgrößen wie Jimmy Page, Jeff Beck, der siebzehnjährige Richie Blackmore oder der später auf Who-Platten mitwirkende Pianist Nicky Hopkins den ersten professionellen Schliff für ihre eigene Karriere.

Und eben jener letztgenannte Nicky Hopkins war ein weiterer Stich in Keiths Herz. Nur zwei Jahre älter als „Sputnik“ Moon und ebenfalls aus Wembley, hatte er bereits eine klassische Klavierausbildung hinter sich, bevor er zum Rock’n’Roll stieß.

Noch ärger traf es Keith, als er den Namen des Gitarristen der Savages hörte. Der hieß Bernie Watson und war in Moons Erinnerung alles andere als ein Rocker gewesen, sondern ein stiller, braver Junge von der Ealing Road, der zwei Jahre über ihm in die Alperton Secondary School gegangen war. Als er diesen Kerl mit der angesagtesten Band Englands auf der Bühne erblickte, wurde ihm klar, dass er für eine eigene Karriere als Rockstar alles aufs Spiel setzen musste, weil er alles dafür gewinnen konnte.

Und dazu brauchte er einen Mann, den er auf der Bühne gesehen hatte: Carlo Little, den besten Freund und wichtigsten Mitarbeiter des Lord Sutch, einen unglaublich lauten Schlagzeuger von bärenhafter Statur. Carl O’Neil Little, so sein wirklicher Name, hatte zwei Jahre lang in der Armee ein Bataillon von tausend Mann durch Paraden geführt, bevor er 1961 die Uniform ablegte, um mit Lord Sutch den Rock’n’Roll aus der einsetzenden Agonie zu retten. Denn nach dem Skiffleboom und dem aus den USA einfallenden Elvis-Fieber, das smarte Jüng­linge wie Cliff Richard dem englischen Markt anpassten, war der britische Musikexpress jäh zum Stillstand gekommen. Zu viele kommerzielle Elvis-Klone raubten­ dem Rock’n’Roll das Herz und die Seele; es schien, als müssten die zu neuen Ufern aufgebrochenen jungen Musiker buchstäblich noch einmal von vorn anfangen – oder aufgeben.

Viele gaben tatsächlich auf, die wilden Jahre schienen vorüber: Wer eine feste Freundin hatte, heiratete; wer noch keinen sicheren Job hatte, begann mit dem Aufbau einer bürgerlichen Karriere … Bald schien die Musik wieder jenen zu gehören, die sie mit einer klassischen Ausbildung für sich beanspruchen konnten. Das schon überholte traditionelle Jazz-Establishment kam zurück und fühlte sich plötzlich wieder obenauf.

Carlo Little, der auch mit etablierten Berufsmusikern wie The Gunnell Brothers arbeitete, erzählte, wie ihn diese allen Ernstes und mit tiefer Verachtung fragten: „Was willst du bloß mit diesen Rock’n’Roll-Idioten? Mit denen wirst du nirgendwohin kommen.“ Doch Carlo Little spielte weiter mit allen, die ihn brauchten, die Herz und Seele besaßen und bereit waren, den Weg des Rock’n’Roll weiter zu gehen als Cliff Richard & The Shadows mit ihren braven Anzügen und einstudierten Tanzschritten.

Zu den nicht angepassten Kräften gehörten neben Screaming Lord Sutch oder Johnny Kidd auch noch jene progressiven Musiker, die ein multikultureller Kosmo­polit namens Alexis Korner anführte. Die von ihm formierte R&B-Gruppe Blues Incorporated eroberte im Nu die Londoner Klubszene, nachdem sie im Ealing Club zu einem Kassenmagneten geworden war. Und über Carlo Little, der wie kein anderer in ganz England das Schlagzeug bearbeitete, kamen alle auch zu den Konzerten von Screaming Lord Sutch & The Savages. Der Lord selbst berichtete 1996, drei Jahre vor seinem Tod, in einem Interview:

„Wir hatten einen hohen Standard an Professionalität. Wir hatten ein Konzept, bei dem alle Musiker ständig in Bewegung waren. Jagger, Brian Jones, sie waren alle bei unseren Konzerten und liehen sich später Carlo, Nicky und Rick Fenson, unseren Bassisten aus, um hier und dort in kleinen Kneipen auf­zutreten. Als Carlo nicht mehr mit ihnen spielen wollte, empfahl er ihnen Charlie­ Watts.“

Neben diesen schon auf den Rhythm & Blues-Zug aufgesprungenen Kandidaten, die voller Enthusiasmus und Entschlossenheit die Fahne der neuen, lebendigen, lauten Musik vorantrugen, gab es natürlich auch die unentdeckten Talente und Hoffnungsträger wie Keith Moon und The Escorts. Sie blieben nicht unentdeckt, wie Lord Sutch erzählt: „Und dann hatten wir noch diesen Jungen in der Stadthalle von Wembley, wo wir auftraten. Er hörte nicht auf, uns von der Bühnenseite aus anzuglotzen. Er stand immer da an der Seite der Wembley Town Hall und guckte uns mit seinem Babyface zu. Ein kleines, rundes Gesicht, dunkle Haare; er sah aus wie höchstens vierzehn. Er beobachtete unablässig alles, was Carlo tat. Carlo sagte: ,Man spioniert mich aus.‘“

Nachdem Keith mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Carlo Little seine ­Trommeln mit unablässiger Wucht bearbeitete und dem musikalischen Gerüst der Savages­ eine wummernde Basis gab, stand sein Entschluss fest: Diesen Mann brauchte er als Lehrer.

Nach einem Konzert am 25. Juni 1962, bei dem statt Schulkamerad Bernie Watson ein noch jüngerer, bleicher, schwarzhaariger Jüngling aus Middlesex mit rasenden Gitarrenläufen das Publikum in Ekstase versetzte – Richie Blackmore – und bei dem Carlo Little, auf einem Motorradhelm balancierend, ein umjubeltes­ Drumsolo gab, wagte sich Keith mit Gerry hinter die Bühne.

Carlo und The Savages waren wie immer von wissbegierigen Jüngern umzingelt;­ doch Keith gelang es schließlich, an sein acht Jahre älteres Idol heranzukommen. Er stellte sich kurz vor und fragte Little, ob der ihm Unterricht geben könne Carlo blickte überrascht auf das engelsgesichtige Bürschlein in seinem kurzen braunen Anzug. Der Junge sah nicht gerade wie ein Drummer seines Kalibers aus. „Ich bin kein Lehrer“, meinte Carlo. „Ich habe mir alles autodidaktisch beigebracht und könnte wahrscheinlich selbst ein paar Stunden Unterricht gut gebrauchen.“

Keith antwortete umgehend: „Nein, nein. Du bist fantastisch, wirklich. Ich und mein Freund, wir sind nur wegen dir gekommen. Wie du auf der Basstrommel spielst …“ Carlo dachte nach. „Wo wohnst du?“

„Chaplin Road.“

Little wohnte ganz in der Nähe, am Ende der Harrow Road. „Ich kann dir nur zeigen, was ich weiß. Zehn Schilling für dreißig Minuten. Mittwoch um sieben. Hier ist die Adresse.“

Lord Sutch erzählte in einer abweichenden Version, dass es nicht Keith selbst war, sondern dessen Vater, der nach dem vierten Konzert in der Wembley Town Hall plötzlich vor Carlo aufkreuzte und fragte: „Mr. Little, wir wissen, dass Sie in Wembley wohnen. Wir wohnen auch in Wembley, und ich würde gern ­wissen,­ ob Sie meinen Sohn unterrichten, wenn ich Sie dafür bezahle? Er ist ­verrückt nach Ihnen.“

Es spricht einiges dafür, dass die gequälten Eltern sich in Keiths Fortschrittsbemühungen auf dem Schlagzeug einschalteten, hatten sie doch unter dem Krach über ihren Köpfen am meisten zu leiden. Keith absolvierte seine beharrlichen Übungseinheiten auf dem glitzernden Premier-Kit inzwischen in seinem Zimmer und brachte das Familienleben der Moons damit praktisch zum Erliegen.

Wie auch immer: Keith erschien pünktlich bei seinem neuen Lehrer, und drückte ihm auch sogleich seinen Lohn in die Hand. Carlo hatte ein schlechtes Gewissen, weil er einem Fünfzehnjährigen soviel Geld abknöpfte – aber das war unnötig. Keith, der seine vier Pfund Wochenlohn sowieso nicht zusammenhalten­ konnte, hatte mit Gerry ein kleines Nebengeschäft abgeschlossen: Der Freund wartete vor Littles Haus, wo er alles gut mithören konnte, und beteiligte sich dafür an den Unterrichtskosten, die vermutlich Keiths Vater genauso still­schweigend übernommen hatte wie die monatlichen Raten für das silberblaue Premier-­Schlagzeug.

Carlo musste lachen, als sein milchgesichtiger Schüler hinter seinem Schlagzeug verschwand. Carlos Drumkit war in jeder Hinsicht überdimensioniert, und Keith war mit Abstand der kleinste Schlagzeuger, der je dahinter Platz genommen hatte. Carlo spielte mit einer Vierundzwanzig-Inch-Fußtrommel statt auf der damals üblichen Zwanzig-Inch; seine Snare maß vierzehn Inch statt zwölf, und die beiden Hängetoms waren ebenfalls entsprechend größer. (Ein Inch entspricht ungefähr zweieinhalb Zentimetern.)

Keith führte vor, was er konnte, und Carlo war alles andere als beeindruckt: „Er fummelte bloß ein bisschen herum, versuchte zu spielen.“

Carlo erklärte ihm die grundlegenden Schlagtechniken und zeigte, wie ein guter Drummer seine Gliedmaßen unabhängig voneinander bewegt. Keith war ­begeistert.­ Als er nach gut einer Stunde aus Carlos Haus kam, rief er dem wartenden Gerry etwas voreilig, aber siegesgewiss zu: „Ich hab’s kapiert!“

Die beiden Jungs flitzten zur Chaplin Road, bauten Keiths Schlagzeug auf, das sich im Vergleich zu Carlos Set fast armselig ausnahm, und Keith führte Gerry vor, was er bei Carlo gesehen hatte. Entscheidend war, dass Carlo die Fuß­trommel­ nicht nur einmal kurz auf die erste Note antippte, sondern mit größter Wucht und höchster Geschwindigkeit zweimal oder öfter hintereinander fest anschlug und auf diese Weise den Beat hielt, statt mit den Blechschüsseln des Hi-Hats oder mit Hilfe des Ride-Beckens den Takt vorzugeben.

Keith benötigte viele und anfangs frustrierende Übungsstunden, bis er diese Technik sicher beherrschte; aber damit war schließlich die Grundlage für seine eigene Spielweise gelegt, die auf einem durchgängigen und sehr kraftvollen Bassdrum-Beat beruhte. Auch Carlo bemerkte die Fortschritte seines Schülers: „Er war flink und eifrig, und wenn er nach einer Woche wiederkam, hatte er gelernt, was ich ihm gezeigt hatte.“ Gemessen an Carlos eigenen Ansprüchen erschien das allerdings nicht als sonderlich viel: „Ich dachte mir nichts weiter, als dass da eben dieser Bengel­ namens Keith war.“

Ende Juli 1962 ergab sich dann Moons große Chance. Gerry fuhr für zwei Wochen in den Sommerurlaub, und The Escorts waren für einige Auftritte in einem katholischen Jugendklub gebucht, die sie nicht sausen lassen wollten. Alle kamen überein, dass Keith, mit Littles Unterricht im Rücken und dem eigenen Drumkit, der geeignete Ersatz für seinen Freund sei. Er kannte alle Songs – „Rock’n’Roll in kontrollierter Fassung“ laut Bassist Colin Haines; er kannte die Jungs und hatte schon mit ihnen geübt.

Der Auftritt, angeblich Keiths erster vor Publikum, begann mit „Lucille“, dem Auftaktsong der Savages. Keith kannte den Einstiegswirbel von Carlo. Er donnerte­ los, walzte mit Karacho über die Toms, die Band setzte ein, und Keith hörte nicht mehr auf, wie ein Buschkrieger über die Trommeln zu jagen, gleich ob es Balladen­ oder flottere Popsongs waren, die er zu begleiten hatte, lauthals über Breaks und Brücken hinweg, Gesang und Gitarren übertönend, donnernd, polternd, peitschend, grinsend, lachend, so tief beglückt, als habe er soeben die Erleuchtung empfangen.

Die Reaktionen auf den neuen Drummer waren durchaus gemischt. Rob Lemon, der Gitarrist der Escorts, fand Keiths Einstieg grandios: „Er versuchte wie Carlo zu spielen, und er kriegte es fast hin. Nur mit dem Takt haperte es: Wenn er in ein Schlagzeugbreak rein ging, kam er selten im gleichen Tempo ­wieder­ heraus. Aber egal, wir liebten es.“

Die Jugendlichen im Publikum hingegen, die weder Carlo Little noch The Savages kannten, sondern einfach nur moderate Shadows-Instrumentalstücke wie „Apache“ oder „FBI“ zum Tanzen und zum moderaten Körperkontakt mit dem Gegengeschlecht hören wollten, waren anderer Auffassung: „Sie fragten: ‚Der Typ ist schrecklich. Wann kommt Gerry zurück?‘“

Vier Auftritte oder zwei Wochen später war Gerry wieder da. Aber die Band wollte die Erfahrung mit Moons vorantreibender Energie, mit seiner Begeisterung und der überbordenden Spielweise nicht mehr missen. Sie spürten, dass dieser unkontrollierbare, enthusiastische Witzbold hinter seiner silberblauen Schieß­bude trotz aller Probleme, den Takt zu halten und sich zu beherrschen, in eine neue Richtung strebte, die musikalisch außerordentlich interessant war.

The Escorts behalfen sich mit einer Notlüge. Gerry wurde nach seiner Rückkehr von einem verärgert wirkenden Sänger Tony Marsh empfangen, man habe alle weiteren Auftritte wegen Moons chaotischer Trommelei verloren, „wegen deinem­ bekloppten Freund“, wie es hieß. Gerry fühlte sich daraufhin schuldig und beschwerte sich nicht, dass es künftig weniger Proben und Auftritte gab. Das Programm der Escorts war nicht sehr anspruchsvoll, und man hatte es oft genug geprobt. Und das Publikum im Jugendklub zeigte sich hoch zufrieden, als Gerry wieder hinter dem Schlagzeug saß.

Hinter Gerrys Rücken jedoch spielten Moon und The Escorts weiter zusammen. Sie ließen sich von einem Vater, der einen Gemüsehandel betrieb, samt Ausrüstung in weit entfernte Auftrittsorte wie Walthamstow kutschieren, so dass Gerry nie davon erfuhr. Mit viel Glück verdiente jeder dabei ein Pfund – das allerdings von ihrem Chauffeur einbehalten wurde, nachdem Keith die kostspielige Neigung entwickelte, aus dem fahrenden Transporter Bananen oder Äpfel nach Passanten­ zu werfen. Das waren Späße, die fünfzehn- und sechzehnjährige Jungs gern treiben­ und auch schnell wieder verzeihen. Mit dem verrückten Burschen an ihrer Seite konnten The Escorts etwas erleben und sich musikalisch weiter entwickeln.

Gerry indessen entwickelte sich vor allem beruflich weiter. In der Shaftes­bury Avenue hatte ein neuer Shop eröffnet, der ausschließlich Schlagzeugbedarf führte, und Gerry war dafür von seinem alten Arbeitgeber abgeworben worden. Bevor er siebzehn wurde, war er schon zum Manager von „Drum City“ ernannt, wie der neue Musikalienhandel hieß. Für seine Freundschaft mit Keith blieb da immer weniger Zeit.

Irgendwie stimmte die Chemie auch nicht mehr zwischen den beiden. Gerry war fleißig und zielstrebig, Keith wollte nur Spaß haben und seinen Kopf durchsetzen. Manchmal ließ sich Gerry sogar verleugnen, wenn Keith ihn von der Arbeit abholen wollte. Einmal tauchte Keith mit einer leeren Ver­packung im Drum City auf, und als er wieder ging, fehlte eine Snaredrum – ein Diebstahl unter den Augen seines Freunds, was Keith leichthin mit der Bemerkung abtat, Gerrys Shop sei schließlich gegen so was versichert.

Gerry konnte auch über die anderen Eskapaden seines Freunds kaum mehr lachen. Schauplatz war weiterhin meist die U-Bahn, wo Keith auf großes Pub­likum hoffen und unerkannt verschwinden konnte. Einmal stieg er an einer Station aus, wo die Sprecherkabine unbesetzt war. Zu Gerrys Entsetzen schlüpfte Keith hinein, klemmte sich hinters Mikrofon und verkündete in bellender Gestapo-Manier: „Alle Juden in Reihe aufstellen, fertig machen zur Vergasung!“

Den wartenden Passagieren und Gerry gefror das Blut in den Adern. Der Holocaust war so kurz nach dem Krieg noch frisch in Erinnerung, und für schlechte Scherze dieser Art hatte ganz sicher niemand etwas übrig. Keith jedoch, der lediglich Gefallen an der Schockwirkung fand, die seine Nazi-Imitation auslöste, dachte­ nicht im Geringsten daran, welche kaum verheilten Wunden er damit aufriss. Er hüpfte mit Gerry im Schlepptau schnell in den nächsten Zug und verschwand, ehe man den Übeltäter ausfindig machen konnte.

Besonders gern demolierte er auch den letzten Nachtzug nach Hause – natürlich erst eine Station vor Wembley Park, wo er ausstieg und Gerry in banger Erwartung zurückließ, dafür verantwortlich gemacht zu werden: „Er sagte einfach bloß ‚wir seh’n uns‘ und stieg aus. Und ich musste noch eine Station weiterfahren,­ und für die Leute, die nach Kingsbury, Queensbury, Canons Park und Stanmore­ einstiegen, gab es keine Sitze mehr, weil er alle rausgerissen hatte.“

Einmal wurde Keiths Zerstörungsorgie von einem Wachmann der Bahngesellschaft beobachtet. Gerry sah, wie der Aufpasser vom Gleis durchs Abteilfenster starrte und jede Bewegung Keiths genau registrierte. Gerry war schreckens­starr. Er erwartete, sofort verhaftet zu werden; doch nichts geschah: „Ich glaube, der Wachmann hatte Angst vor Keith.“

Gerry ging es nicht viel anders. Sein einstiger Freund hatte sich unter seinen Augen in ein boshaftes, selbstgefälliges Monster verwandelt und konnte zwischen einem guten Witz und peinlichem Ernst nicht mehr unterscheiden. Gerry mochte­ nicht mehr mit ihm in der U-Bahn fahren, er hatte auch keine Lust mehr, beschämende Streiche zu beklatschen, geklaute Schokoriegel zu verdrücken oder für entwendete Trommeln aufzukommen. Ihre Freundschaft war am Ende, und eines Tages im Herbst 1962 verschwand Keith aus Gerrys Leben so unangemeldet, wie er gekommen war.

Komisch daran war, dass es keinem richtig auffiel, dass er fehlte. „Er kam aus demselben Grund, aus dem er uns auch wieder verließ“, meinte Colin ­Haines,­ der Bassist der Escorts. Und dieser Grund sei allein Keiths rastlose, ichbezogene Natur gewesen, meinten alle in der Band.

Sie wussten freilich nicht, dass Keith längst in einer anderen Gruppe spielte.

The Who - Maximum Rock I

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