Читать книгу Basislehrbuch Kriminalistik - Christoph Keller, Bijan Nowrousian - Страница 9

1Kriminologie

Оглавление

Der Beginn der wissenschaftlich-empirisch orientierten Kriminologie wird auf den italienischen Militärarzt und späteren Professor der Rechtsmedizin an der Universität von Turin Cesare Lombroso (1835–1909) zurückgeführt.6

Lombroso begann bereits als Militärarzt systematische anthropologische Untersuchungen an Straftätern durch Messungen des Schädelumfangs, der Arm- und Beinlänge, des Brustumfangs und anderer anatomischer Merkmale vorzunehmen und zu dokumentierten. Gleiche Messungen nahm er sodann an Soldaten vor und verglich die Ergebnisse miteinander. In der Folge seiner Untersuchungen kam er zu der These, dass der Kriminelle durch bestimmte Stigmata in Form körperlicher Anomalien erkennbar sei. Als Beispiele benannte er u.a. Anomalien des Schädels, asymmetrische Gesichtszüge, fliehende Stirn, ausgeprägte Augenwülste, herabgesetzte Sinnes- und Schmerzempfindungen, um nur einige zu nennen. Die Ergebnisse seiner Forschung veröffentlichte Lombroso in dem 1876 erschienen Werk „L‘uomo delinquente“ (Der kriminelle Mensch).7 Unter Orientierung an der Darwin’schen Evolutionstheorie wurde er in seiner Annahme bestärkt, dass es sich bei dem Verbrecher um einen Rückschlag auf eine niedere Entwicklungsstufe (atavistischer Menschentypus) handele, dessen Kriminalität sich vererbt, sodass erfolglich ein Mensch mit negativem Erbgut sei. Seine Ergebnisse wurden später widerlegt.8

„Kriminologie“ (erstmals im Jahre 1885 von Raffaele Garofalo in seiner Monografie „Criminologia“ verwandt) bedeutet wörtlich „Lehre von der Kriminalität“. Der Begriff „Kriminalität“ verspricht jedoch nur auf den ersten Blick einen leichten Zugang zum Gegenstand des Forschungsgebiets Kriminologie. Beim näheren Hinsehen wird deutlich, dass „Kriminalität“ bzw. „Verbrechen“ sehr unterschiedlich definiert werden können. Vor allem ist der kriminologische Verbrechensbegriff nicht deckungsgleich mit dem strafrechtlichen.9

Ebenso wie andere Wissenschaftsdisziplinen bestimmt auch die Kriminologie sich über ihren Gegenstand. Zugang zum Forschungsobjekt erhält man bereits, wenn man das lateinischgriechische Kunstwort „Kriminologie“ in seine Bestandteile zerlegt Das lateinische Wort ‚‘crimen“ bedeutet „Verbrechen“ und das griechische Wort „logos“ „Lehre“. Kriminologie in diesem allgemeinen Sinn ist also die Lehre (Wissenschaft) vom Verbrechen.10 Die Kriminologie ist eine autonome Erfahrungswissenschaft, die sich vornehmlich empirischer Methoden bedient. Sie ist multidisziplinär und ergänzt ihr Wissen über Taten, Täter, Opfer und das Kriminaljustizsystem durch interdisziplinär angelegte Forschungen.11 Dabei untersucht die Kriminologie den Rechtsbrecher und sein Umfeld. Hier wird der Fokus auf die Ursachen und Bedingungen gerichtet, unter denen kriminelles Verhalten entsteht. Die Rolle des Opfers wird erforscht und der Interaktionsprozess zwischen Opfer und Täter ist unverzichtbarer Bestandteil der weiteren Betrachtung. Kriminologische Erhebungen sind Grundlage für präventive und repressive Bekämpfungsstrategien. Während die Kriminologie von einem soziologischen Verbrechensbegriff (Delinquenz) ausgeht, arbeitet die Kriminalistik mit einem strafrechtlichen Verbrechensbegriff und entwickelt vor allem Instrumentarien zur Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten. Die Kriminologie weist eher eine Verbindung zum materiellen Strafrecht auf, die Kriminalistik eher zum Strafprozessrecht.12 Während sich der Kriminalist somit primär mit der Aufklärung von Delikten beschäftigt, ist der Kriminologe vor allem an den Ursachen kriminellen Verhaltens interessiert, er versucht demzufolge, das „Kriminellwerden“ zu erklären. Diesen Ansatz verfolgend bietet die Kriminologie damit die analytischen Grundlagen für ein erfolgreiches Vorgehen in der Kriminalistik. An dieser Stelle sei Franz von Liszt zitiert, der formulierte: „Bekämpfung des Verbrechens setzt die Kenntnis des Verbrechens voraus.13

Unter Kriminologie ist der interdisziplinäre Forschungsbereich zu verstehen, der sich auf alle empirischen Wissenschaften bezieht, die zum Ziel haben, den Umfang der Kriminalität zu ermitteln und Erfahrungen

•über die Erscheinungsformen und Ursachen der Kriminalität,

•über Täter und Opfer sowie

•über die Kontrolle der sozialen Auffälligkeit einschließlich

der Behandlungsmöglichkeiten von Straftätern und der Wirkung der Strafe (bzw. Maßregel) zu sammeln. Die Kriminologie versteht sich als eine interdisziplinäre, auf Tatsachen begründete Erfahrungswissenschaft. Begründet ist dies in der Feststellung, dass sie sich in ihrem Wissenschaftssystem unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen bedient und deren Erkenntnisse im Sinne kriminologischer Problemstellung verwendet.14

Aufgaben der Kriminologie im Überblick:15
Tat –Kriminalphänomenologie –Beschreibung der Tat als Einzelphänomen –Kriminalätiologie –Beschreibung der zur Tat hinführenden –Ursachenprozesse
Täter Persönlichkeitsprofil Kriminelle Karriere Kriminaltherapie Individualprognose
Opfer Persönlichkeitsprofil Viktimelle Karriere Primär- und Sekundärviktimisierung
Aufgaben der Kriminologie im Überblick:15
Gesellschaft –Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen –Umfang und Entwicklung –Erscheinungsformen –Ursachen –Reaktion auf Kriminalität als gesellschaftliches Phänomen –Verbrechensfurcht (Ursachen und Folgen) –Kriminalpolitik –Reaktion der strafrechtlichen Kontrollinstanzen auf die Tat

Neben ihren spezifischen Aufgaben ist für die Kriminologie charakteristisch, dass sie Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaftszweige für den Bereich des möglicherweise Strafbaren zusammenfasst und integriert. Insofern ist ein wesentliches Merkmal der Kriminologie ihre Interdisziplinarität. Die wesentlichen Bezugswissenschaften der Kriminologie sind folgende:

•Soziologie

•Sozialpädagogik

•Psychologie und

•Psychiatrie zu benennen.

Die Kriminologie lässt sich aufgrund ihres klar abgrenzbaren Gegenstandsbereichs als eigenständige Disziplin von ihren Bezugswissenschaften Soziologie, Psychologie, Psychiatrie, Ökonomie, Ethnologie/Biologie und Anthropologie abgrenzen, bei denen Normabweichung und Kriminalität jeweils nur einen Teilaspekt ausmachen. Von den juristischen Kriminalwissenschaften, das heißt der Strafrechts- und der Strafprozessrechtswissenschaft, unterscheidet sich die Kriminologie als Seins- bzw. Erfahrungswissenschaft durch ihre empirische Ausrichtung und Methodik. Soziologische Kriminalitätstheorien befassen sich vorwiegend mit Kriminalität selbst. Sie können erklären, warum Kriminalität oder eine bestimmte Kriminalitätsform in einer Gesellschaft oder Subkultur häufiger auftritt als in einer anderen. In der Kriminalpsychologie steht der Täter mit seinen psychologischen Strukturen im Mittelpunkt. Sein impulsiver Lebensstil verursacht im Endeffekt Gewalt und Kriminalität. Monokausale Erklärungsversuche für sein Verhalten sind unzureichend. Kriminelles Verhalten ergibt sich aus der Kumulation psychologischer, sozialer und (eventuell) biologischer Risiken, die aufeinander einwirken.16

Die Kriminologie befasst sich in ihren Teildisziplinen mit der Ursachenforschung (Ätiologie) sowie mit den Erscheinungsformen von Straftaten (Phänomenologie), mit der Lehre vom Opferverhalten (Viktimologie), mit der Erforschung der Wirkung von Strafe (Poenologie), mit gerichtspsychologischen und -psychiatrischen Fragen (forensische Psychologie und Psychiatrie), mit der Institutionenforschung und mit der Kriminalität als Massenerscheinung (Kriminalstatistik).17 Wenn außerdem festgestellt wird, Kriminologie sei eine empirische Wissenschaft, dann soll dies zum Ausdruck bringen, dass sie zur Grundlage ihrer Aussagen Erkenntnisse über die kriminelle Wirklichkeit macht, die sich auf Erfahrungen und nicht auf theoretische Überlegungen gründet.18

Abbildung 2


Quelle: PSP 0/2011, 22 (23).

Basislehrbuch Kriminalistik

Подняться наверх