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IV.Kriminalistische Erfahrung

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Die staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Maßnahmen zur Strafverfolgung setzen regelmäßig dann ein, wenn der Anfangsverdacht einer Straftat gemäß § 152 Abs. 2 StPO gegeben ist. Voraussetzung ist, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfolgbare Straftat vorliegen. Es müssen Fakten vorliegen. Bloße Vermutungen, Spekulationen, Ängste oder die reine kriminalistische Erfahrung reichen nicht aus, eine solche Tatsachenbasis zu begründen.87 Die Annahme eines Anfangsverdachtes basiert auf einer wertenden Einschätzung belastender und entlastender Momente, die von der kriminalistischen Erfahrung des Beurteilenden abhängt und im Einzelfall unterschiedlich ausfallen kann.

Beispiel:88 Zur kriminalistischen Erfahrung gehört z.B., dass Angehörige von suizidierten Personen, sich diesen Tod nicht erklärten können und auch im Umfeld des Toten bisweilen keine Anhaltspunkte für einen Selbstmord finden. Das ruft die Erwartung hervor, dass die Strafverfolgungsbehörden das (vermeintliche) Tötungsdelikt aufklären. Allerdings begründet das Fehlen von konkreten Anhaltspunkten für einen Suizid noch keinen Verdacht auf Fremdeinwirkung.

Auch der Brand in einem Einfamilienhaus, bei dem niemand verletzt wurde, aber die Brandursache zunächst unklar ist, oder möglicherweise durch einen Blitzeinschlag verursacht worden sein könnte, lässt den Anfangsverdacht einer Straftat nicht begründen.89

Erfahrung ist der Inbegriff von Erlebnissen in einem geordneten Zusammenhang, das heißt der erlebten Umstände und der durch sie erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten. Während der Begriff der inneren Erfahrung (Introspektion) das Erlebnis betont, zielt der Begriff der äußeren Erfahrung auf den Gegenstand, insofern er

•wahrgenommen wird (sinnliche Erfahrung),

•durch planvolles Vorgehen wiederholt wahrgenommen werden kann (experimentelle Erfahrung) oder

•durch Kenntnis (Lernen) und Übung (Kunstfertigkeit) die Fähigkeit des Umgangs mit dem Gegenstand oder mit gleichartigen Lebenssituationen (Praxis, im weiteren Sinn Lebenserfahrung) erworben wurde.90

Die kriminalistische Erfahrung stellt dabei keine besondere Entscheidungsprämisse für Polizeibeamte dar, sondern ist als Teil der Lebenserfahrung der Angehörigen dieser Berufsgruppe. Bei der praxisbezogenen Berufserfahrung ist zudem zwischen allgemeiner kriminalistischer Erfahrung, der sogenannten kriminalistischen Alltagserfahrung, einerseits und Erfahrungssätzen der Kriminaltechnik andererseits zu unterscheiden. Bei letzteren, die sich vor allem mit dem naturwissenschaftlichen Sachbeweis befassen, spielt auch die experimentelle Erfahrung eine Rolle. Die kriminalistische Erfahrung steht aus mehreren Gründen durchaus in der Kritik. „Sie wird insbesondere von der kriminalistischen Literatur als begrifflich unscharf, schwer definierbar und nur bedingt objektivierbar bezeichnet.91 Darüber hinaus sei die – in erster Linie von Polizeibeamten – im Berufsleben nur durch „gesunden Menschenverstand” und praktisches Arbeiten an Kriminalfällen gesammelte Erfahrung in einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft eine zunehmend unzuverlässige Basis. Ferner müsse das praxisfundierte Vermitteln von kriminalistischem Denken hinter der fortschreitenden Spezialisierung und Arbeitsteilung in der Polizeiarbeit zurücktreten. Des Weiteren verliere das intuitive kriminalistische Arbeiten im Zeitalter des „objektiven Sachbeweises” in dem Maße an Reputation, in dem es, ohne wissenschaftliche Grundlagen betrieben, als rein subjektivistisch abqualifiziert wird“92.

Die kriminalistische Erfahrung von Ermittlungsbeamten, die sie im Laufe ihres Berufslebens (einschließlich nicht berufsbezogener Erfahrungen) gesammelt haben, ist nicht abstrakt überprüfbar, kaum messbar bzw. vergleichbar. „Uneingeschränkt verifizierbar sind aber alle Informationen, die ein Polizeibeamter unter Bezugnahme auf seine kriminalistische Erfahrung in einem konkreten Ermittlungsvorgang zusammengetragen hat, um strafprozessuale Zwangsmaßnahmen selbst anzuordnen oder einen Antrag auf Anordnung bei der Staatsanwaltschaft oder ausnahmsweise unmittelbar bei Gericht zu stellen. Konkret überprüft werden kann, ob sich der Ermittler bei seiner Tatsachenfeststellung auf bloße kriminalistische Alltagserfahrungen abstützt, wie z.B. die aus der Flucht eines Verdächtigen abgeleitete erhöhte Wahrscheinlichkeit seiner Täterschaft oder Beteiligung oder die umso größere Neigung eines Beschuldigten zur Flucht, je höher die zu erwartende Strafe sein wird. Maßstab ist dabei, ob die Schlussfolgerungenaus der kriminalistischen Erfahrung und dem konkreten Ermittlungsvorgang gezogen werden“93. So kann etwa die Art eines gewählten Verstecks nach kriminalistischer Erfahrung dafür sprechen, dass es sich bei dem Beschuldigten um einen erfahrenen Schmuggler handelt.94

Kriminalistische Alltagserfahrung zählt als Rechtserkenntnisquelle zu denjenigen Erfahrungsregeln, die lediglich (mehr oder wenige hohe) Wahrscheinlichkeitsaussagen enthalten und keine zwingenden Schlussfolgerungen erlauben. Der Richter darf einerseits nicht ohne Grund von ihnen abweichen, er darf ihnen aber auch nicht (die Besonderheiten des konkreten Falls aus dem Blick verlierend) vorschnell folgen.95 Allein und für sich betrachtet reicht diese Erfahrungsregel im Einzelfall nicht aus, um zur richterlichen Überzeugung über das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Tatbestandes beizutragen; auch für polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Entscheidungen im Ermittlungsverfahren ist sie kein Ersatz für eine Tatsachengrundlage.96

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